Leitsatz (redaktionell)

Die Wirksamkeit eines Prozeßvergleichs hängt davon ab, ob die Verwaltung den Anspruch in der Weise, wie sie im Vergleich über ihn verfügt hat, durch Verwaltungsakt hätte regeln können. Dabei ist jedoch nicht entscheidend, ob die Verwaltung das tun "durfte", sondern ob sie es tun "könnte", dh ob sie die Rechtsmacht hatte, eine entsprechende Regelung wirksam durch Verwaltungsakt zu treffen.

 

Orientierungssatz

Ob ein Versicherungsträger "über den Gegenstand der Klage verfügen kann", richtet sich danach, ob er - allgemein - imstande ist, den materiellen Anspruch auf die begehrte Leistung durch einen Verwaltungsakt rechtswirksam zu regeln (vergleiche BSG 1967-04-25 11 RA 138/66 = BSGE 26, 210).

 

Normenkette

SGG § 101 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 1. März 1966 aufgehoben. Soweit die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 8. Oktober 1963 den Rentenanspruch der Klägerin ab 1. Juli 1965 betrifft, hat der Vergleich vom 21. September 1965 den Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt.

Die Beklagte hat der Klägerin etwaige durch die Fortsetzung des Berufungsverfahrens entstandene außergerichtliche Kosten und die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin erhält seit dem 1. Januar 1959 von der Beklagten Witwenrente; die Rente wurde auf Grund von Beschäftigungen des 1942 verstorbenen Ehemannes der Klägerin in Rumänien (S.) nach den Vorschriften des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) vom 25. Februar 1960 erstmals mit Bescheid vom 8. Juni 1962 festgestellt. Die Klägerin begehrte eine höhere Rente. Soweit sie mit der Klage die Einstufung des verstorbenen Ehemannes in höhere Leistungsgruppen (nach Anlage 1 zu § 22 des Fremdrentengesetzes - FRG - idF des FANG) begehrte, erledigte sich der Rechtsstreit während des Verfahrens vor dem Sozialgericht (SG). Die Klägerin hielt jedoch daran fest, daß die Beschäftigung ihres Ehemannes als leitender Direktor einer Fabrik in K (S.) vom 1. Mai 1922 bis zu seinem Tode im Jahre 1942 nicht nur glaubhaft gemacht, sondern nachgewiesen und deshalb voll, also ohne die in § 19 Abs. 2 Satz 1 FRG aF - Fassung vor dem Inkrafttreten des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 - vorgeschriebene Kürzung auf fünf Sechstel, anzurechnen sei. Das SG München gab der Klage statt (Urteil vom 8. Oktober 1963). Die Beklagte legte Berufung ein. Nach dem Inkrafttreten der Neufassung des § 19 Abs. 2 FRG durch das RVÄndG schlossen die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung des Landessozialgerichts (LSG) am 21. September 1965 folgenden "Teilvergleich":

I. Die Beklagte wird der Klägerin ab 1. Juli 1965 die Hinterbliebenenrente nach § 19 Abs. 2 FRG in der Fassung des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes ungekürzt berechnen.

II. Der Bevollmächtigte der Klägerin nimmt dieses Vergleichsangebot der Beklagten an.

Durch Urteil vom 21. September 1965 entschied das Bayerische LSG über den von dem "Teilvergleich" nicht erfaßten Anspruch der Klägerin bis zum 30. Juni 1965; es hob das Urteil des SG auf und wies die Klage ab, weil "der erforderliche Beweis für die ununterbrochene Beschäftigung des Ehemannes der Klägerin nicht erbracht" sei. Die vom LSG nicht zugelassene Revision der Klägerin gegen dieses Urteil wurde vom erkennenden Senat durch Beschluß vom 10. Oktober 1966 als unzulässig verworfen.

Mit Schriftsatz vom 29. November 1965 beantragte die Beklagte beim LSG, "den Rechtsstreit fortzusetzen und die Klage auch insoweit abzuweisen, als sie Rentenbezugszeiten ab 1. Juli 1965 betrifft". Sie machte geltend, der "Teilvergleich" hinsichtlich der Rentenbezugszeiten ab 1. Juli 1965 verletze § 101 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), er sei gesetzwidrig und damit nichtig. Die Neufassung des § 19 Abs. 2 Satz 1 FRG sei zwar am 1. Juli 1965 in Kraft getreten, sie betreffe jedoch ausschließlich Versicherungsfälle nach dem 31. Dezember 1956 (Art. 1 § 4 Nr. 3 i. V. m. Art. 5 § 4 Abs. 2 Buchst. d RVÄndG); der Versicherungsfall des Todes des Ehemannes der Klägerin sei jedoch im Jahre 1942 eingetreten, die Neufassung des § 19 Abs. 2 Satz 1 FRG habe daher auf die von dem "Teilvergleich" erfaßte Zeit nicht angewandt werden dürfen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) dürften nur Vergleiche abgeschlossen werden, die mit dem Gesetz im Einklang stehen. Die vergleichsweise Gewährung von Leistungen ohne gesetzliche Grundlage sei "unwirksam".

Am 1. März 1966 erließ das LSG folgendes Urteil:

"I. Auf die Anfechtung der Beklagten wird festgestellt, daß der in der mündlichen Verhandlung vom 21. September 1965 abgeschlossene Teilvergleich nichtig ist.

II. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des SG München vom 8. Oktober 1963 auch insoweit aufgehoben und die Klage auch insoweit abgewiesen, als es sich um die Rentenhöhe ab 1. Juli 1965 handelt.

III. Kosten sind nicht zu erstatten."

Es führte aus: Der "Teilvergleich" stehe in Widerspruch zu der Übergangsvorschrift des Art. 5 § 4 Abs. 2 Buchst. d RVÄndG. Die Beklagte habe daher diesen Teilvergleich nicht abschließen dürfen. Nach § 101 Abs. 1 SGG seien Vergleiche nur zulässig, soweit die Beteiligten über den Gegenstand der Klage verfügen können. Die Versicherungsträger könnten daher im Wege des Vergleichs nicht andere als gesetzlich oder satzungsmäßig vorgesehene Leistungen gewähren und sie könnten auch nicht die vorgesehenen Leistungen gewähren, ohne daß die gesetzlichen Voraussetzungen vorlägen; diese Rechtsauffassung habe das BSG in den Urteilen vom 25. Oktober 1956 (BSG 4, 31 ff) und vom 19. Dezember 1961 (BSG 16, 61 ff) bestätigt. Auf Grund der "form- und fristgerechten Anfechtung" der Beklagten sei deshalb der Teilvergleich nichtig. Damit sei der Anspruch der Klägerin auch für die Zeit ab 1. Juli 1965 sachlich zu prüfen. Das Begehren der Klägerin auf ungekürzte Anrechnung der Beschäftigungszeit ihres Ehemannes von 1922 bis 1942 sei aus den bereits in dem Urteil des LSG vom 21. September 1965 dargelegten Gründen abzuweisen. Die Revision ließ das LSG auch in diesem Urteil nicht zu.

Die Klägerin legte gegen dieses Urteil form- und fristgerecht Revision ein.

Sie beantragte,

das Urteil des Bayerischen LSG vom 1. März 1966

aufzuheben,

hilfsweise,

unter Aufhebung dieses Urteils das Urteil des SG München vom 8. Oktober 1963 zu bestätigen.

Der Vergleich habe nur die von der Beweiswürdigung abhängige Frage betroffen, ob Beschäftigungszeiten des Ehemannes der Klägerin nachgewiesen oder nur glaubhaft gemacht seien, die Beurteilung dieser Frage liege innerhalb der "Dispositionsfreiheit" der Beklagten. Der Vergleich sei daher wirksam und das Urteil des LSG sei aufzuheben. Die Aufhebung des Urteils des LSG sei aber auch notwendig, falls der Vergleich unwirksam sei. Das Urteil verstoße gegen Erfahrungssätze und Denkgesetze; auf Grund der vom LSG in dem Urteil vom 21. September 1965 als bewiesen angesehenen Tatsachen habe das LSG die Beschäftigungszeit des Ehemannes der Klägerin als nachgewiesen und nicht nur als glaubhaft gemacht ansehen müssen.

Die Beklagte beantragte,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

II

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des LSG vom 1. März 1966 ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Die Klägerin rügt zu Recht einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG. Das LSG hat über den Rentenanspruch der Klägerin für die Zeit ab 1. Juli 1965 nicht mehr entscheiden dürfen, weil der vor dem LSG am 21. September 1965 abgeschlossene "Teilvergleich" den Rechtsstreit nach § 101 Abs. 1 SGG insoweit erledigt hat.

Der "Teilvergleich" vom 21. September 1965 ist von den Beteiligten unter Bezugnahme auf die Neufassung des § 19 Abs. 2 Satz 1 FRG durch das RVÄndG abgeschlossen worden. Durch Art. 1 § 4 Nr. 3 RVÄndG ist dem bisherigen Satz 1 des Abs. 2 folgender Halbsatz angefügt worden: "die Zeit eines ununterbrochenen Beschäftigungsverhältnisses von mindestens zehnjähriger Dauer bei demselben Arbeitgeber wird in vollem Umfang angerechnet". Diese Neufassung soll der Beseitigung von Härten durch die Regelung in dem bisherigen § 19 Abs. 2 Satz 1 FRG "in Verbindung mit der Handhabung in der Praxis" (wonach auch bei Versicherten, die über lange Zeiträume hinweg bei demselben Arbeitgeber beschäftigt gewesen sind, für den Ausschluß der Kürzung nach § 19 Abs. 2 Satz 1 aF der Nachweis einer nicht durch Krankheit oder Arbeitslosigkeit unterbrochenen Beschäftigung gefordert worden ist) dienen (vgl. die Begründung zu Art. 1 § 4 Nr. 1 des Entwurfs eines RVÄndG, Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, Drucks. IV/2572). Vom Inkrafttreten der Neufassung am 1. Juli 1965 an (vgl. § 10 Abs. 1 Buchst. d RVÄndG) hat sich die Beklagte in dem Vergleich zur Berechnung der Rente ohne Anwendung der Kürzungsvorschrift verpflichtet, und die Klägerin hat insoweit von einer Fortsetzung des Rechtsstreits abgesehen. Die Beteiligten haben mit dem Vergleich nicht, wie die Klägerin meint, eine Ungewißheit über das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen für den (höheren) Rentenanspruch beseitigen wollen, sie haben vielmehr eine rechtliche Voraussetzung als geklärt angesehen; sie haben nämlich den "Nachweis" der (ununterbrochenen) Beschäftigung des Ehemannes der Klägerin im Hinblick auf die Neufassung des § 19 Abs. 2 Satz 1 FRG für die Zeit ab Juli 1965 für unerheblich gehalten. Die Beklagte hat dabei aber übersehen, daß für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen vor dem Inkrafttreten der Neufassung grundsätzlich die bisher geltenden Vorschriften auch für Bezugszeiten ab Juli 1965 maßgebend geblieben sind (Art. 5 § 3 RVÄndG) und daß eine Ausnahme hier nach Art. 5 § 4 Abs. 2 Buchst. d RVÄndG nur für Versicherungsfälle gilt, die vor dem 1. Juli 1965, aber nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind. Der Versicherungsfall des Todes des Ehemannes der Klägerin ist jedoch bereits im Jahre 1942 eingetreten. Die Beklagte hat sich daher in dem Vergleich verpflichtet, der Klägerin vom 1. Juli 1965 an Rente in einer Höhe zu bewilligen, für welche die gesetzlichen Voraussetzungen nach der im vorliegenden Falle weiterhin maßgebenden alten Fassung des § 19 Abs. 2 Satz 1 FRG möglicherweise nicht erfüllt sind. Auch wenn sie nicht erfüllt wären, ist der "Teilvergleich" aber entgegen der Meinung des LSG wirksam; er hat die Fortsetzung des Berufungsverfahrens ausgeschlossen.

Nach § 101 Abs. 1 SGG können die Beteiligten einen Vergleich schließen, "soweit sie über den Gegenstand der Klage verfügen können". Ob der Versicherungsträger über den Gegenstand der Klage verfügen kann, richtet sich, wie der Senat in dem Urteil vom 25. April 1967 - 11 RA 188/66 - dargelegt hat, danach, ob er - allgemein - imstande ist, den materiellen Anspruch auf die begehrte Leistung durch einen Verwaltungsakt rechtswirksam zu regeln; dies ist hier der Fall. Es kommt weiter darauf an, ob der Versicherungsträger auch im konkreten Fall den Anspruch in der Weise, wie der im Vergleich über diesen Anspruch verfügt hat, durch Verwaltungsakt hätte regeln können. Dabei ist jedoch nicht entscheidend, ob der Versicherungsträger das tun "durfte", sondern ob er es tun "konnte", d. h. ob er die Rechtsmacht hatte, eine entsprechende Regelung wirksam durch Verwaltungsakt zu treffen. Auch dies ist hier zu bejahen. Denn ein Verwaltungsakt der Beklagten, der die Höhe des Rentenanspruchs der Klägerin ab 1. Juli 1965 ebenso wie in dem Vergleich geregelt hätte, wäre rechtswirksam gewesen, auch wenn die Beklagte sich der Klägerin gegenüber damit zu einer Leistung verpflichtet hätte, die nicht dem Gesetz entspräche. Der Verwaltungsakt wäre im vorliegenden Fall jedenfalls nicht mit so schwerwiegenden Mängeln behaftet gewesen, daß Nichtigkeit gegeben wäre. Die Wirksamkeit eines Verwaltungsakts gleichen Inhalts bedeutet, daß auch ein entsprechender Prozeßvergleich wirksam ist. Auf die Begründung dieser Auffassung in dem Urteil des Senats vom 25. April 1967 wird verwiesen.

Da der Vergleich vom 21. September 1965 sonach wirksam ist, hat er das Verfahren beendet, soweit die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG die Höhe der Rente der Klägerin ab 1. Juli 1965 betroffen hat. Das LSG hat zwar das Berufungsverfahren nochmals aufnehmen müssen, weil die Beklagte die Nichtigkeit des Vergleichs geltend gemacht und die Fortsetzung des Rechtsstreits beantragt hat. Es ist jedoch zu Unrecht zu dem Ergebnis gekommen, der Vergleich sei nichtig, und es hat daher zu Unrecht für die von dem Vergleich erfaßte Zeit ein Sachurteil erlassen. Das Verfahren des LSG leidet damit an einem wesentlichen Mangel im Sinne von § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; dieser Verfahrensmangel macht die (frist- und formgerecht eingelegte) Revision statthaft und zulässig. Die Revision ist auch begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben. Soweit das Urteil des SG vom 8. Oktober 1963 den Rentenanspruch der Klägerin ab 1. Juli 1965 betrifft, ist der Rechtsstreit durch den Vergleich vom 21. September 1965 in der Hauptsache erledigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380309

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