Entscheidungsstichwort (Thema)

Schüler-Unfallversicherung. Unfallversicherungsschutz bei Maßnahmen zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit. Zulassung der Sprungrevision ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Sonderschulen für bildungsschwache Kinder sind allgemeinbildende Schulen iS des RVO § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b.

2. Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit gehören grundsätzlich zum nicht unfallversicherten persönlichen Lebensbereich; sie sind nicht schon deshalb der versicherten Tätigkeit zuzurechnen, weil sie zugleich der Erhaltung oder Wiederherstellung der Arbeitskraft und damit auch den Interessen des Unternehmens dienen.

3. Das Einnehmen von Medikamenten kann mit der versicherten Tätigkeit in einem ursächlichen Zusammenhang stehen, wenn mit dieser Tätigkeit zusammenhängende Umstände den Unfall wesentlich mit bedingen; eine wesentliche Bedingung kann darin bestehen, daß ein geistig behindertes Kind mangels ausreichender Aufsicht des Lehrers oder der Begleitperson im Schulbus Medikamente einnimmt.

4. An die Zulassung der Sprungrevision durch den Kammervorsitzenden des Sozialgerichts - ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter - ist das Bundessozialgericht für eine Übergangszeit seit der am 1975-01-01 in Kraft getretenen Neuregelung in SGG § 161 Abs 1 S 1 gebunden.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b Fassung: 1971-03-18, § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01; SGG § 161 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1974-07-30

 

Verfahrensgang

SG Hamburg (Entscheidung vom 26.03.1976; Aktenzeichen 24 U 221/75)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 26. März 1976 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt den Ersatz ihrer Aufwendungen, die sie für die Beigeladene im Rahmen der Familienhilfe erbrachte.

Die im Jahre 1964 geborene Beigeladene besucht eine Kreissonderschule für bildungsschwache Kinder. Seit einer im Jahre 1970 bei ihr aufgetretenen Masernencephalitis und Meningitis bestehen eine Debilitas und eine Epilepsie. Am 9. September 1974 wurde sie nach Unterrichtsende mit dem Schulbus nach Hause gebracht. Während der Fahrt entnahm sie in einem unbeobachteten Augenblick aus ihrem Schulranzen ein Arzeimittelfläschchen und trank daraus. Wegen der dadurch entstandenen akuten Intoxikationssituation wurde sie in stationäre Behandlung überwiesen und am nächsten Tag entlassen.

Die Beklagte lehnte es ab, der Klägerin die Kosten der stationären Behandlung in Höhe von 140,20 DM zu ersetzen.

Die Klägerin hat Klage erhoben, die das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 26. März 1976 mit der Begründung abgewiesen hat: Maßnahmen zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit gehörten grundsätzlich zum unversicherten persönlichen Lebensbereich. Sie seien auch nicht deshalb der versicherten Tätigkeit zuzurechnen, weil sie zugleich der Erhaltung oder der Wiederherstellung der Arbeitskraft und damit auch den Interessen des Unternehmens dienten. Allerdings könnten gesundheitliche Maßnahmen im Einzelfall für die Beschäftigten wegen der Besonderheiten einer versicherten Tätigkeit u. U. durch betriebliche Interessen wesentlich mitbestimmt sein, so daß der erforderliche innere ursächliche Zusammenhang zu bejahen sei. Derartige Besonderheiten lägen jedoch nicht vor. Eine Verletzung der Aufsichtspflicht durch die Klassenlehrerin und (oder) die Begleitperson im Schulbus vermöge ebenfalls keinen rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit zu begründen. Ob eine Aufsichtsverletzung der Schule vorliege, sei lediglich für zivilrechtliche Schadensersatzansprüche von Bedeutung. Im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung komme es auf Verschulden des Unternehmers grundsätzlich nicht an.

Der Vorsitzende der Kammer des SG hat durch Beschluß die Revision zugelassen.

Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie trägt vor: Damit die Beigeladene überhaupt der Schulpflicht nachkommen könne, hätten die Eltern der Verletzten mit der Sonderschule eine Vereinbarung getroffen, daß die Sonderschule die Aufsichtspflicht hinsichtlich der Einnahme von Medikamenten übernehme. Die Klassenlehrerin habe versehentlich sämtliche Tabletten und Herztropfen in den Schulranzen der Beigeladenen gepackt. Es sei daraus zu schließen, daß die Tabletten und Herztropfen, welche unter Aufsicht der Schule eingenommen werden sollten, dort zu verbleiben hatten.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 26. März 1976 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Ersatz der Aufwendungen im Rahmen des § 1510 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu leisten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend, da die Einnahme von Medikamenten dem privaten Lebensbereich zuzurechnen sei.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die durch Beschluß nicht ordnungsgemäß unter Mitwirkung ehrenamtlicher Richter, sondern allein vom Kammervorsitzenden zugelassene Sprungrevision ist dennoch zulässig (s. BSG SozR 1500 § 161 Nr. 4, 6 und 7; BSG SozR aaO § 160 Nr. 21). Der verfahrensrechtlich fehlerhafte Beschluß ist noch innerhalb der nach dem Urteil des 3. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 14. Dezember 1976 (3 RK 23/76) auf zwei Jahre nach Inkrafttreten des § 160 a SGG am 1. Januar 1975 begrenzten Übergangszeit ergangen. Die Zustimmung der Beigeladenen zur Sprungrevision war nicht erforderlich (GmS OGH NJW 1976, 1682).

Die Sprungrevision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückzuverweisen ist.

Das SG ist zutreffend davon ausgegangen, daß Rechtsgrundlage für den Ersatzanspruch der Klägerin § 1510 Abs. 2 RVO ist (BSG SozR 2200 § 1510 Nr. 1). Es hat jedoch aufgrund der bisher von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen zu Unrecht angenommen, der Klägerin seien die geltend gemachten Kosten nicht aus Anlaß eines Arbeitsunfalls (Schülerunfalls) der Beigeladenen entstanden.

Die Beigeladene ist während des Besuchs der Sonderschule gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b RVO versichert, da diese Schule der Erfüllung der Schulpflicht dient und deshalb eine allgemeinbildende Schule im Sinne dieser Vorschrift ist (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl., S. 474 q IV). Der Versicherungsschutz besteht nach § 550 Abs. 1 RVO auch auf Wegen nach und von der Schule.

Maßnahmen zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit gehören, wovon das SG zutreffend ausgegangen ist, nach der ständigen Rechtsprechung des BSG und der auch im Schrifttum wohl einhellig vertretenen Auffassung grundsätzlich zum unversicherten persönlichen Lebensbereich. Sie sind nicht schon deshalb der versicherten Tätigkeit zuzurechnen, weil sie zugleich der Erhaltung oder Wiederherstellung der Arbeitskraft und damit auch den Interessen des Unternehmens dienen; dies gilt selbst dann, wenn dabei betriebliche Sozialeinrichtungen in Anspruch genommen werden (vgl. BSG 4, 219, 223; 9, 222, 225; BSG SozR Nr. 1 zu § 548 RVO, Nr. 75 zu § 542 RVO aF; BSG SozR 2200 § 548 Nr. 2; BSG in BG 1967, 115; Brackmann aaO S. 484 m; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 548 Anm. 33, 58 - jeweils mit weiteren zahlreichen Nachweisen). Die Einnahme des Medikaments durch die Beigeladene ist deshalb grundsätzlich deren versicherten privaten Lebensbereich zuzurechnen, selbst wenn die Arznei während des Unterrichts auch zur Erhaltung der Schulfähigkeit genommen werden muß. Auch bei zum unversicherten persönlichen Lebensbereich dienenden Verrichtungen ist aber, wie das SG insoweit nicht verkannt hat, entsprechend der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall und der versicherten Tätigkeit gegeben, wenn mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängende Umstände den Unfall wesentlich mitbedingen. Das ist z. B. der Fall, wenn der Unfall wesentlich auf die mit der Nahrungsaufnahme im Betrieb verbundenen Gefahren zurückzuführen ist, z. B. das Trinken aus einer Flasche, in die irrtümlich eine gesundheitsschädliche Flüssigkeit gefüllt wurde (s. BSG SozR Nr. 21 zu § 548 RVO; RVA EuM 19, 76; 51, 9; LSG Baden-Württ. Breithaupt 1968, 475; Brackmann aaO S. 482 b mit weiteren Nachweisen).

Ob besondere Umstände der versicherten Tätigkeit, hier des Schulbesuches, den Unfall wesentlich verursacht haben, richtet sich auch in diesem Zusammenhang nach den Verhältnissen des Einzelfalles. Dabei ist u. a. wiederum nicht entscheidend, welche Bedeutung die jeweiligen mitwirkenden Umstände auf einen fiktiven Durchschnittsversicherten erlangt hätten, sondern in welchem Umfang sie für das Verhalten des betroffenen Versicherten bedeutsam geworden sind. Im vorliegenden Fall ist es erheblich, welche Bedeutung die mit dem Besuch der Sonderschule zusammenhängenden Verhältnisse für den Unfall der behinderten Beigeladenen hatten. Insoweit fehlt es jedoch an für eine abschließende Entscheidung des Senats erforderlichen weiteren tatsächlichen Feststellungen des SG.

Die Klägerin hat bereits in der Klageschrift vorgetragen, das Medikament sei nur aus Versehen der Lehrerin mit in die Schultasche der Beigeladenen gepackt worden. Sollte zwischen den Eltern der Beigeladenen und der Schule vereinbart gewesen sein, der Beigeladenen während der Schulzeit das Medikament durch die Lehrerin verabreichen zu lassen, um dadurch einen Mißbrauch durch die Beigeladene auszuschließen, würde der Besuch der Sonderschule der behinderten Beigeladenen auch eine wesentliche Bedingung für die Medikamentenvergiftung bilden, wenn die Lehrerin versehentlich das Arzneifläschchen doch der Beigeladenen mitgegeben oder es ihr aus besonderen Gründen in den Schulranzen gepackt haben sollte, ohne die Begleitperson im Schulbus auf die dadurch verbunden Gefahren besonders hinzuweisen. Ebenso wäre ein Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem Schulbesuch gegeben, wenn die Begleitperson im Schulbus trotz eines entsprechenden Hinweises die Beigeladene nicht genügend beobachtet oder erforderlichenfalls den Schulranzen nicht in eigene Verwahrung genommen hätte. Ein solches Versehen der Lehrerin wäre ebenso wie eine unzureichende Beaufsichtigung der Beigeladenen im Bus hinsichtlich des Unfallversicherungsschutzes der Beigeladenen den Besonderheiten des Besuches einer Sonderschule für geistig behinderte Kinder zuzurechnen (vgl. Brackmann aaO S. 484 t). Diese Verhältnisse hätten ebenfalls die Medikamentenvergiftung der behinderten Beigeladenen wesentlich mitbedingt. Dabei wäre es versicherungsrechtlich unerheblich, ob die Lehrerin oder die Begleitperson ein Verschulden treffen würde. Allerdings wäre der Versicherungsschutz der Beigeladenen entgegen der Auffassung des SG durch ein fahrlässiges Verhalten der Lehrerin oder der Begleitperson im Schulbus nicht ausgeschlossen. Der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung erstreckt sich auch auf Gefahren, denen der Verunglückte bei seiner versicherten Tätigkeit durch fahrlässiges Verhalten von Mitarbeitern ausgesetzt ist (s. BSG SozR Nr. 21 zu § 548 RVO; Brackmann aaO). Entsprechendes gilt bei der Unfallversicherung von Schülern für ein Verschulden der Mitschüler und der Lehrer oder - wie möglicherweise hier - einer anderen Aufsichtsperson.

Die noch erforderlichen tatsächlichen Feststellungen kann das Revisionsgericht nicht treffen; deshalb war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653774

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