Leitsatz (redaktionell)

1. Ein Schüler verliert den Versicherungsschutz, wenn er trotz Verbots der Lehrer ein Landschulheim zu einer privaten Zwecken dienenden Verrichtung verläßt.

2. Der Unfallversicherungsschutz nach RVO § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b umfaßt auch den Besuch schulischer Veranstaltungen wie zB Schullandheimaufenthalte; dabei erstreckt sich der Versicherungsschutz jedoch nicht schlechthin auf die gesamte Dauer des Aufenthalts, sondern er entfällt bei den rein persönlichen, von der versicherten Tätigkeit nicht mehr beeinflußten Betätigungen.

3. Eine von der Schulaufsicht verbotene, privaten Zwecken dienende und folglich nicht versicherte Betätigung von Schülern während des Aufenthaltes in einem Schullandheim kann aufgrund unzureichender Aufsicht der Lehrer gleichwohl unfallversichert sein.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b Fassung: 1971-03-18, § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 5. Mai 1976 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat dem Beigeladenen die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Mutter des am 8. November 1960 geborenen Beigeladenen ist bei der Klägerin versichert. Der Beigeladene besucht eine Ganztagsschule. Im November 1974 war er mit seiner Schulklasse im Schullandheim. Der aufsichtsführende Klassenlehrer hatte den Schülern wiederholt ausdrücklich verboten, ohne Erlaubnis das Heim zu verlassen oder sich von der Klassengruppe zu entfernen. Dieser Hinweis wurde an jedem Tag neu allen Schülern bekanntgegeben. Am 4. November 1974 verließt der Beigeladene zusammen mit einem Klassenkameraden um die Mittagszeit ohne Erlaubnis das Heim. Sie begaben sich zu der etwa 500 Meter von dem Heim entfernten Sprungschanze. Der Beigeladene sprang vom Sprungturm etwa 2 1/2 Meter tief hinunter. Dabei erlitt er einen dreifachen Unterschenkelbruch rechts. Die Klägerin gewährte Krankenpflege.

Der Beklagte lehnte einen Ersatzanspruch der Klägerin ab, da der Beigeladene keinen Arbeitsunfall (Schülerunfall) erlitten habe.

Die Klägerin hat Klage erhoben.

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 5. Mai 1976 die Klage abgewiesen und auf die Widerklage die Klägerin verurteilt, dem Beklagten die aufgewandten Heilbehandlungskosten zu ersetzen. Es hat zur Begründung u. a. ausgeführt: Der Beigeladene habe sich mit einem Klassenkameraden eigenmächtig aus dem Schullandheim entfernt. Das Interesse des Beigeladenen, sich die in der Nähe des Schullandheimes gelegene Sprungschanze anzusehen, hätte mit dem versicherten Schulbetrieb nichts zu tun gehabt. Es sei ein rein persönliches Interesse gewesen. Es sei unerheblich, daß der etwa 14 Jahre alte Beigeladene nur seinem Spieltrieb folgend auf der Sprungschanze herumgeklettert sei. Eine andere Beurteilung könnte nur in Betracht kommen, wenn das eigenmächtige Verlassen des Schullandheimes der mangelnden Aufsicht durch die verantwortlichen Lehrpersonen zugerechnet werden müßte. Hiervon könne im vorliegenden Fall nicht die Rede sein. Die Widerklage sei nach § 1509 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) begründet.

Das SG hat durch Beschluß vom 24. Juni 1976 ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter die Revision zugelassen.

Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie trägt vor: Der Unfallversicherungsschutz beim Aufenthalt in einem Schullandheim sei umfassend. Neben der Aufsichtspflicht des Schulpersonals müsse auch die Obhutspflicht Berücksichtigung finden. Es müsse ferner beachtet werden, daß Kinder dazu neigten, eine fremde Umgebung zu erforschen. Dieser Gefahr sei der Beigeladene hier erlegen. Zwar habe er sich über ein Verbot des aufsichtsführenden Lehrers hinweggesetzt; jedoch schließe ein verbotswidriges Handeln den Unfallversicherungsschutz nicht aus. Es komme auch nicht darauf an, ob sich der Schüler eigenmächtig aus dem Schullandheim entfernt habe. Dieses Verhalten sei für Kinder in diesem Alter keineswegs ungewöhnlich. Auch bei einem erlaubten Entfernen aus dem Schullandheim hätte sich der Unfall in gleicher Weise ereignen können.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr die aus Anlaß des Unfalles des Beigeladenen entstandenen Aufwendungen in Höhe von 1.932,38 DM zu ersetzen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Beschluß nicht ordnungsgemäß unter Mitwirkung ehrenamtlicher Richter, sondern allein vom Kammervorsitzenden zugelassene Sprungrevision ist dennoch zulässig (s. BSG SozR 1500 § 161 Nr. 4, 6 und 7; BSG SozR aaO § 160 Nr. 21). Der verfahrensrechtlich fehlerhafte Beschluß ist noch innerhalb der nach dem Urteil des 3. Senats des BSG vom 14. Dezember 1976 (3 RK 23/76) auf zwei Jahre nach Inkrafttreten des § 160 a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) am 1. Januar 1975 begrenzten Übergangszeit ergangen. Die Zustimmung des Beigeladenen zur Sprungrevision war nicht erforderlich (GmS OGH NJW 1976, 1682).

Die Revision ist jedoch nicht begründet.

Rechtsgrundlage für den Ersatzanspruch der Klägerin ist § 1510 Abs. 2 RVO (BSG SozR 2200 § 1510 Nr. 1). Dieser Ersatzanspruch setzt voraus, daß der Beigeladene den Unfall bei einer versicherten Tätigkeit erlitten hat. Das ist jedoch nicht der Fall.

Der Beigeladene war bei dem Besuch der allgemeinbildenden Schule gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b RVO versichert. Zutreffend hat das SG ferner ausgeführt, daß der Versicherungsschutz auch die Teilnahme an dem unter schulischer Aufsicht durchgeführten Aufenthalt im Schullandheim umfaßte (s. BSG SozR Nr. 3 zu § 548 RVO; BSG BKK 1976, 216; vgl. auch Heckel/Seipp, Schulrechtskunde, 4. Aufl., 1969, S. 380). Der Versicherungsschutz bestand jedoch, wovon das SG anschließend ebenfalls mit Recht ausgegangen ist, nicht schlechthin während der gesamten Dauer des Aufenthaltes im Schullandheim für jedwede Betätigung der Teilnehmer (s. BSG aaO). Entsprechend der Rechtsprechung des erkennenden Senats zur Frage des Versicherungsschutzes auf Dienst- oder Geschäftsreisen, die unter Beachtung einiger Besonderheiten auch für Studienreisen der in § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b RVO angeführten Personen heranzuziehen ist (vgl. BSG aaO), entfällt der Versicherungsschutz jedenfalls, wenn sich die betreffende Person rein persönlichen, von der versicherten Tätigkeit nicht mehr beeinflußten Belangen widmet. Dies gilt grundsätzlich entsprechend auch für Aufenthalte in einem Schullandheim (Vollmar, Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten, 2. Aufl., S. 36).

Der Beigeladene ist nicht bei einer schulischen Veranstaltung während des Aufenthalts im Schullandheim oder durch die mit einem Schullandheimaufenthalt verbundenen besonderen Verhältnisse, z. B. bei einer gemeinsamen Freizeitveranstaltung (vgl. zur gemeinsamen Arbeit BSG BG 1971, 233), sondern nach einem von dem aufsichtsführenden Lehrer sogar allgemein verbotenen Verlassen der Klassengemeinschaft bei einem Spaziergang mit einem anderen Klassenkameraden verunglückt. Ebenso wie z. B. beim Spaziergang von Lehrlingen während einer Arbeitspause besteht grundsätzlich kein Versicherungsschutz bei diesem mit der versicherten Tätigkeit - dem gemeinsamen Aufenthalt der Klasse im Schullandheim - nicht im ursächlichen Zusammenhang stehenden Aufsuchen der Sprungschanze (s. Vollmar aaO S. 37).

Allerdings war der Beigeladene am Unfalltag noch nicht ganz 14 Jahre alt. Der durch spielerisches Verhalten eines jugendlichen Arbeitnehmers auf der Betriebsstätte verursachte Unfall ist versicherungsrechtlich nicht ohne weiteres nach den Maßstäben zu beurteilen, die für erwachsene Beschäftigte gelten. Der Senat hat vielmehr - unter Beachtung der Umstände des Einzelfalles und ohne Anwendung einer schematischen Altersbegrenzung - im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes stets insbesondere berücksichtigt, ob durch unzureichende Beaufsichtigung oder sonstige Versäumnisse der Betriebsleitung die Jugendlichen in die Lage versetzt wurden, sich bei leichtsinnigen Spielereien besonderen Gefahren auszusetzen (vgl. RVA AN 1906, 509; EuM 19, 127; 22, 3; BSG SozR Nr. 68 zu § 542 RVO aF; BSG BG 1971, 233 und BKK 1975, 202; Bayer. LVAmt Bayer. Amtsbl. 1952 B 1; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl., S. 484 t und Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 548 Anm. 59 jeweils mit weiteren Nachweisen). Maßgebend war die allgemeine Erfahrung, daß in dem "Übergangsstadium vom Kind zum werdenden M" (Bayer. LVAmt aaO) der noch ungebändigte Spieltrieb eine besondere Beaufsichtigung während des Aufenthalts an der Arbeitsstätte erfordert. Hieraus wurde gefolgert, daß eine Vernachlässigung der vor allem in einer Lehrlingswerkstatt durch das Zusammenfassen der Lehrlinge und das damit verbundene weitaus ungehemmtere Entfalten des Spiel- und Nachahmungstriebes gebotenen Aufsicht (s. BSG BG 1971, 233) die Bejahung des inneren Zusammenhangs eines bei Spielerei entstandenen Unfalls mit der Betriebstätigkeit rechtfertigt. Endsprechendes hat für die Unfälle der nach § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b RVO versicherten Schüler zu gelten. Der Unfall des Beigeladenen hat sich jedoch nicht zB bei einer im Rahmen des Schullandheimaufenthaltes durchgeführten Besichtigung der Sprungschanze durch eine für Schulkinder bis zu einer bestimmten Entwicklungsstufe typische plötzliche Spielerei oder Neckerei oder einer altersbedingten Unterschätzung der Gefährlichkeit des Sprunges oder durch andere dem typischen Gruppenverhalten der Schulklasse entsprungenen Umstände ereignet. Der Beigeladene hat vielmehr gemeinsam mit einem Klassenkameraden das Schullandheim verlassen um sich zur Sprungschanze begeben. Nach den tatsächlichen Feststellungen des SG haben jedoch die aufsichtsführenden Lehrer im Schullandheim wiederholt und vor allem an jedem Tag neu den Schülern ausdrücklich verboten, ohne Erlaubnis das Heim zu verlassen oder sich von der Klassengruppe zu entfernen. Die Lehrer konnten davon ausgehen, daß die Bedeutung des täglich neu ausgesprochenen Verbotes für den fast 14 Jahre alten Beigeladenen verständlich war. Es sind keine Anhaltspunkte vorgetragen oder ersichtlich, daß die Lehrer aufgrund besonderer Ereignisse gehalten gewesen wären, ihre Aufsicht über diese wiederholten ausdrücklichen Verbote hinaus z. B. durch eine allgemeine Ausgangskontrolle zu verstärken. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der besonderen Gefahren, die durch ein Zusammenfassen der Schüler einer Klasse in einem Schullandheim und das damit verbundene weitaus ungehemmtere Entfalten des Spieltriebes und das typische Gruppenverhalten einer Schulklasse bestehen (vgl. zu einer Lehrlingswerkstatt BSG BG 1971, 233). Entgegen der Auffassung der Klägerin wird somit nicht ein bei der Besichtigung der Sprungschanze an sich bestehender Versicherungsschutz ausgeschlossen, weil sich der Beigeladene verbotswidrig verhalten hat. Verbotswidriges Handeln schließt gemäß § 548 Abs. 3 RVO die Annahme eines Arbeitsunfalls nur im Rahmen einer versicherten Tätigkeit nicht aus (Brackmann aaO S. 484 y). Der Verstoß gegen das Verbot, ohne Erlaubnis das Heim zu verlassen, ist hier dagegen rechtlich bedeutsam für die Beantwortung der Frage, ob eine privaten Zwecken dienende Verrichtung des Beigeladenen ggf. wegen einer mangelhaften Aufsicht der Lehrer im inneren Zusammenhang mit der schulischen Veranstaltung steht.

Der Ersatzanspruch der Klägerin ist demnach unbegründet, weil sie die geltend gemachten Aufwendungen nicht wegen eines Arbeitsunfalls (Schülerunfalls) des Beigeladenen erbracht hat. Aus diesem Grund ist zugleich der auf § 1509 a RVO gestützte und von der Klägerin in seiner Höhe nicht bestrittene Ersatzanspruch des Beklagten begründet. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Es ist nicht auszuschließen, daß dem Beigeladenen Kosten des Verfahrens entstanden sind.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652496

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