Leitsatz (redaktionell)

Ein Ausfallzeittatbestand iS des AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 1-3 (= RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 1-3) (Arbeitsunfähigkeit, Zeiten der Schwangerschaft, Schlechtwettergeldbezug, Arbeitslosigkeit) liegt nicht vor, wenn während derselben Zeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt wurde. Die Ausfallzeit wird durch die Entrichtung von Beiträgen aufgrund versicherungspflichtiger Beschäftigung oder Tätigkeit in demselben Monat "verdrängt". AVG § 32 Abs 7 S 2 (= RVO § 1255 Abs 7 S 2) findet in diesem Fall keine Anwendung.

 

Normenkette

AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09, Nr. 2 Fassung: 1957-02-23, Nr. 3 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09, Nr. 2 Fassung: 1957-02-23, Nr. 3 Fassung: 1965-06-09; AVG § 32 Abs. 7 S. 2 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1255 Abs. 7 S. 2 Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. September 1975 und das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 28. September 1973 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe der der Klägerin vom 30. Juli 1971 an bis zu ihrer Wiederverheiratung zustehenden Witwenrente aus der Versicherung ihres verstorbenen ersten Ehemannes.

Der Versicherte war bis zum 30. Juli 1961 als Bäckergeselle versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Anschließend war er krank.

Die Landesversicherungsanstalt (LVA) Westfalen gewährte ihm als Rehabilitationsmaßnahme nach den §§ 1236, 1237 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) eine Ausbildung bei der S G GmbH in W zum Großhandelskaufmann (kaufmännische Lehre) vom 1. Oktober 1961 bis 30. September 1964. Während der Ausbildung zahlte die Firma an ihn eine Lehrlingsvergütung, die monatlich 100,- DM nicht überstieg und auf das gezahlte Übergangsgeld angerechnet wurde, und für die Beiträge zur Sozialversicherung abzuführen waren und auch abgeführt worden sind. Vom 1. Oktober 1964 an übernahm die genannte Firma den Versicherten als Angestellten.

Bei der Berechnung der Hinterbliebenenrente berücksichtigte die Beklagte die Zeit vom 1. Oktober 1961 bis 30. September 1964 als Beitragszeit. Hiergegen erhob der Kläger Klage vor dem Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen. Dieses verurteilte die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 10. November 1971, die Zeit vom 1. Oktober 1961 bis zum 30. September 1964 als Ausfallzeit anzuerkennen, die geleisteten Beiträge gemäß § 32 Abs. 7 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) bei der Errechnung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage unberücksichtigt zu lassen und gemäß § 37 a AVG anzurechnen (Urteil vom 28. September 1973). Die Berufung der Beklagten hiergegen wurde dem Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 18. September 1975 zurückgewiesen.

Die Vorinstanzen waren übereinstimmend der Auffassung, die streitige Zeit sei eine Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG. Ihre Anrechnung als solche werde nicht dadurch ausgeschlossen, daß ein geringfügiges Entgelt gezahlt wurde, für das Sozialversicherungsbeiträge abzuführen waren. Der Grundsatz, daß Beitragszeiten stets den beitragslosen Zeiten vorgingen, sei durch § 32 Abs. 7 Satz 2 AVG durchbrochen worden. Diese Regelung sei Teil der Neuordnung, die das Rentenversicherungsänderungsgesetz (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) mit Wirkung vom 1. Januar 1966 an zur Beseitigung aufgetretener Härten für die Bewertung beitragsloser Zeiten vorgenommen habe. Sie verfolge den Zweck, Rentenberechtigte vor wirtschaftlichen Nachteilen zu bewahren, die ihnen bei der Rentenberechnung entstünden, wenn dabei in jedem Falle ausnahmslos die geleisteten Beiträge berücksichtigt würden. Damit seien unter Beachtung des Gesetzeszweckes die Voraussetzungen für die Anwendung des § 32 Abs. 7 Satz 2 AVG gegeben. Unerheblich sei, daß der Gesetzgeber die Versicherungspflicht für derartige Ausbildungsverhältnisse erst nach Beendigung der hier bedeutsamen Umschulung geändert habe (Versicherungsfreiheit nach § 4 Abs. 1 Nr. 7 AVG idF des RVÄndG vom 1. Juli 1965 an). Es sei gerade die Absicht des Gesetzgebers gewesen, die von ihm anerkannten Unbilligkeiten durch § 32 Abs. 7 Satz 2 AVG zu beseitigen.

Hiergegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Beklagten. Diese rügt unrichtige Anwendung des § 32 Abs. 7 Satz 2 und des § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG und beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des Sozialgerichts die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Der Auffassung der Vorinstanzen, daß die in § 32 Abs. 7 Satz 2 i. V. m. § 37 a AVG getroffene Regelung stets dann anzuwenden sei, wenn eine Berücksichtigung allein der erbrachten Beiträge zu einem ungünstigeren Ergebnis führe, kann nicht gefolgt werden. Die zur Entscheidung anstehenden Rechtsfragen sind inzwischen durch den Beschluß des Großen Senats (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) vom 9. Dezember 1975 (GS 1/75, SozR 2200 § 1259 Nr. 13) im gegenteiligen Sinne entschieden worden. Danach kann eine Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG, die an die Stelle einer Beitragszeit treten soll, nur dann vorliegen, wenn diese "nicht stattgefunden" hat. Sie soll den für den Versicherten dadurch entstandenen Verlust an Werteinheiten für nicht geleistete Beiträge ausgleichen. Liegt ein solcher Ausfall (Verlust) hingegen nicht vor, ist für die Anwendung des Rechtsbegriffs "Ausfallzeit" kein Raum. Ein Ausfallzeittatbestand - jedenfalls ein solcher i. S. der Nrn. 1 bis 3 des § 1259 Abs. 1 RVO ( = § 36 Abs. 1 AVG ) - kann nicht bestehen, wenn eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist. Die Ausfallzeit wird durch die Entrichtung von Beiträgen aufgrund versicherungspflichtiger Beschäftigung oder Tätigkeit in demselben Monat "verdrängt".

Daraus folgt zugleich, wie der GS aaO im einzelnen weiter ausgeführt hat, daß es für die streitige Zeit, in der ein versicherungspflichtiges Lehrverhältnis vorgelegen hat, am vollständigen Tatbestand einer Ausfallzeit i. S. des § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG gefehlt hat, so daß schon aus diesem Grund § 32 Abs. 7 Satz 2 AVG keine Anwendung finden kann.

Somit mußte der Revision stattgegeben werden, da die Beklagte die Witwenrente richtig berechnet hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650347

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