Entscheidungsstichwort (Thema)

Beweiswürdigung. Berufsunfähigkeit. Verweisung eines Schlossers

 

Orientierungssatz

Zur Frage der Statthaftigkeit einer nicht zugelassenen Revision, wenn das Urteil des LSG auf einem wesentlichem Mangel des Verfahrens beruht.

 

Normenkette

SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1246 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 19.12.1974; Aktenzeichen L 10 J 466/74)

SG Aurich (Entscheidung vom 29.05.1974; Aktenzeichen S 1 J 36/72)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. Dezember 1974 aufgehoben; der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.

Der im Jahre 1926 geborene Kläger, der als gelernter Schlosser tätig gewesen war und seit dem 1. November 1971 als "Archivar" mit Registraturarbeiten beschäftigt ist, beantragte am 16. September 1971 die Versichertenrente. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 18. Februar 1972 ab, weil der Kläger nicht berufsunfähig sei.

Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat unter Berücksichtigung der vorliegenden medizinischen Gutachten festgestellt, der Kläger könne nur noch leichte Arbeiten im Wechsel von Sitzen, Stehen und Gehen, ohne Hetze und Terminnot, ohne Heben und Tragen schwerer Lasten, ohne ständiges Bücken, überwiegend in geschlossenen Räumen ausüben. Es sei zweifelhaft, ob ihm seine jetzige Tätigkeit als "Archivar" unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden könne. Er könne aber noch als Kontrolleur oder Prüfer maschinell gefertigter kleinerer Werkstücke eine zumutbare Arbeit verrichten. Darüber hinaus stehe ihm auch noch das weite Feld der Angestelltentätigkeit offen. Da er ohnehin mit Arbeiten befaßt sei, die sich denen eines Registrators näherten, läge es nahe, ihn auf die Tätigkeit z.B. eines Büroangestellten, der im öffentlichen Dienst den Besoldungsgruppen IX oder VIII des Bundesangestelltentarifs (BAT) zugehört, zu verweisen. Der Kläger besitze auch das Verantwortungsbewußtsein und die Sorgfalt, die diese Tätigkeiten erfordern. Das könne aufgrund seines langjährigen Arbeitsverhältnisses zu seiner derzeitigen Arbeitgeberin unterstellt werden. Ob am Wohnort des Klägers für ihn geeignete Arbeitsplätze vorhanden seien, brauche nicht ermittelt zu werden.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG nicht zugelassenen - Revision angefochten. Er trägt vor, das angefochtene Urteil beruhe auf einer Verletzung der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Das LSG hätte nicht ohne weitere Beweiserhebung unterstellen dürfen, der Kläger habe die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten, um als Kontrolleur oder Prüfer maschinell gefertigter kleinerer Werkstücke und auch als Angestellter tätig zu sein. Bei der notwendigen Anhörung eines berufskundlichen Sachverständigen hätte sich herausgestellt, daß Prüf- und Kontrolltätigkeiten nur von solchen Arbeitnehmern ausgeführt werden können, die zuvor längere Zeit - mehr als 6 Monate - in der Produktion der zu prüfenden Werkstücke tätig gewesen seien. Hinzu komme, daß diese Art von Prüf- und Kontrolltätigkeiten fast ausnahmslos nur den eigenen langjährigen Mitarbeitern des Betriebes vorbehalten bleibe. Für diese Tätigkeiten bestehe nur ein innerbetrieblicher Arbeitsmarkt, der dem branchenfremden Außenstehenden verschlossen sei. Eine Rückfrage bei der Bundesanstalt für Arbeit (BA) oder einschlägigen Unternehmen hätte diese Tatsache zutage gefördert. Eine Verweisung auf Angestelltentätigkeiten scheide schon deshalb aus, weil der Kläger in seinem bisherigen Erwerbsleben niemals eine Angestelltentätigkeit ausgeübt habe. Weder seine frühere Facharbeitertätigkeit noch seine jetzige Tätigkeit, bei der er ein- und ausgehende Post zu sortieren, Adressen zu schreiben, Briefe zu verschließen und Akten zu verbrennen habe, befähige ihn, eine Büroangestelltentätigkeit nach den Besoldungsgruppen IX oder VIII BAT zu verrichten. Im übrigen hätte das LSG die Eignung des Klägers für eine Angestelltentätigkeit durch einen Berufspsychologen testen lassen müssen. Außerdem hätte das LSG durch eine Auskunft bei der BA klären müssen, ob es ohne Umschulung möglich sei, einen 48-jährigen ehemaligen Facharbeiter in Angestelltentätigkeiten zu vermitteln.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, des Urteils des Sozialgerichts sowie des Bescheides der Beklagten vom 18. Februar 1972 die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger vom 1. Oktober 1971 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen;

hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Sie ist der Ansicht, die vom Kläger gerügten Mängel des Berufungsverfahrens lägen nicht vor, so daß die Revision nicht statthaft sei. Im übrigen könne der Kläger aber auch - entgegen der Ansicht des LSG - auf seine jetzige Tätigkeit als "Archivar" verwiesen werden.

 

Entscheidungsgründe

Die Zulässigkeit der Revision richtet sich - da das angefochtene Urteil vor dem 1. Januar 1975 verkündet worden ist - gemäß Art. III des Gesetzes zur Änderung des SGG vom 30. Juli 1974 (BGBl I 615) nach den Vorschriften des SGG in der bis zum 1. Januar 1975 gültig gewesenen Fassung (aF).

Die vom LSG nicht zugelassene Revision des Klägers ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG aF statthaft und auch mit ihrem Hilfsantrag begründet, weil das angefochtene Urteil auf einem vom Kläger gerügten wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens beruht.

Die Annahme des LSG, für den Kläger kämen Arbeiten als Kontrolleur oder Prüfer maschinell gefertigter kleinerer Werkstücke in Betracht, enthält zunächst einmal die bei der Statthaftigkeitsprüfung nicht nachprüfbare materiell-rechtliche Ansicht des LSG, diese Tätigkeiten seien im Rahmen des § 1246 RVO sozial zumutbar. Darüber hinaus liegt darin aber auch die tatsächliche Feststellung, der Kläger sei sowohl gesundheitlich als auch aufgrund seiner Kenntnisse und Fertigkeiten in der Lage, diese Tätigkeiten zu verrichten. Die Feststellung hinsichtlich der gesundheitlichen Fähigkeit hat der Kläger nicht angegriffen. Seine Rüge aber, das LSG habe nicht ohne Anhörung eines berufskundlichen Sachverständigen feststellen dürfen, er könne die Tätigkeiten eines Prüfers und Kontrolleurs auch von den Kenntnissen und Fertigkeiten her verrichten, ist begründet. Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits entschieden, daß das Tatsachengericht von der Anhörung eines Sachverständigen nur dann absehen darf, wenn es die erforderliche Sachkunde selbst besitzt und darlegt, worauf diese beruht (vgl. SozR Nr. 33 zu § 103 SGG und die dort zitierten Entscheidungen). Dieser Grundsatz gilt nicht nur dann, wenn es sich um die Beurteilung medizinischer Fragen handelt, sondern allgemein, wenn eine erforderliche Tatsachenfeststellung die Sachkunde auf irgendeinem Spezialgebiet erfordert. Die Fragen, welche Kenntnisse und Fertigkeiten ein Kontrolleur oder Prüfer maschinell gefertigter kleinerer Werkstücke haben muß und ob ein gelernter Schlosser diese Kenntnisse und Fertigkeiten hat oder aber in kurzer Zeit erwerben kann, lassen sich nicht ohne berufskundliche Sachkunde beantworten. Im allgemeinen ist daher die Anhörung eines berufskundlichen Sachverständigen notwendig. Allerdings entfällt diese Notwendigkeit dann, wenn das Tatsachengericht selbst die notwendige Sachkunde besitzt. Das wird bei Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, die häufig mit diesen berufskundlichen Fragen befaßt sind, sehr oft der Fall sein. Diese Sachkunde kann jedoch nicht ganz allgemein unterstellt werden. Das Gericht muß deshalb im Einzelfall darlegen, daß es die konkrete Feststellung aufgrund der eigenen Sachkunde trifft und worauf diese Sachkunde beruht. Beruht die Kenntnis des Tatsachengerichts von dem Vorhanden- oder Nichtvorhandensein einer Tatsache auf einer Beweiserhebung, so ist es selbstverständlich, daß das Gericht im Urteil angibt, auf welchem Beweismittel seine Kenntnis beruht (§ 128 Abs. 1 Satz 2 SGG). Da die eigene Sachkunde an die Stelle einer an sich erforderlichen Beweisaufnahme tritt, darf der Hinweis auf die eigene Sachkunde und ihre Quellen im Urteil nicht fehlen. Fehlt dieser Hinweis und läßt sich also nicht nachprüfen, worauf die Tatsachenfeststellung beruht, so ist nicht nur § 128 SGG, sondern auch § 103 SGG verletzt, es kann nicht von dem Vorhandensein der Sachkunde ausgegangen werden, so daß eine Beweiserhebung durch Anhörung eines Sachverständigen erforderlich erscheint. Das LSG hat den Kläger lediglich für fähig gehalten, die Tätigkeiten eines Kontrolleurs oder Prüfers maschinell gefertigter kleinerer Werkstücke zu verrichten, ohne anzugeben, worauf diese Feststellung beruht. Der Hinweis auf den bei Schlemmer-Tümmler-Pauli (Entscheidungen zur Berufsunfähigkeit, Nr. 20 zum Stichwort Schlosser) abgedruckten Leitsatz des Urteils des LSG Schleswig-Holstein vom 7. August 1969 läßt die Möglichkeit offen, daß das Berufungsgericht die Feststellung nicht aufgrund eigener Sachkunde getroffen, sondern auf die - nicht einmal ausdrücklich festgestellte - Sachkunde eines anderen Gerichts vertraut hat. Der Kläger hat zwar nicht ausdrücklich gerügt, daß das LSG seine eigene Sachkunde und ihre Quellen nicht dargelegt hat. Abgesehen davon, daß er neben der Verletzung des § 103 SGG auch die Verletzung des § 128 SGG gerügt hat, genügt jedoch bei dem engen Zusammenhang der beiden, voneinander verschiedenen Verfahrensmängel die erhobene Rüge, daß das LSG die Anhörung eines berufskundlichen Sachverständigen unterlassen hat. Da die Feststellung nicht erkennbar auf der eigenen Sachkunde des Berufungsgerichts beruht, brauchte der Kläger auch nicht ausdrücklich zu rügen, daß das LSG die eigene Sachkunde und ihre Quellen nicht dargelegt hat.

Das angefochtene Urteil beruht auch auf diesem Verfahrensmangel, denn es ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß das LSG bei fehlerfreiem Verfahren anders entschieden hätte. Zwar hat das LSG den Kläger auch für fähig gehalten, die zumutbaren Tätigkeiten eines Büroangestellten zu verrichten. Diese Feststellung würde das Urteil allein tragen, wenn sie fehlerfrei zustandegekommen wäre. Sie beruht aber ebenfalls auf einem, vom Kläger gerügten wesentlichen Verfahrensmangel, nämlich auf einer Überschreitung der Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung. Das LSG hat zu Unrecht aus der jetzigen Berufstätigkeit des Klägers auf die Fähigkeit geschlossen, die Tätigkeit eines Büroangestellten der Besoldungsgruppen IX oder VIII zu verrichten. Das LSG hat die vom Kläger tatsächlich verrichtete Tätigkeit selbst als einfachste Hilfsarbeitertätigkeit bezeichnet, die weder ein gehobenes Verantwortungsbewußtsein oder besondere Zuverlässigkeit fordert noch wegen ihrer Bedeutung oder wegen ihres Ansehens innerhalb des Betriebes sich besonders hervorhebt. Trifft das aber zu, so ist nicht erkennbar, warum die Tätigkeit des Klägers geeignet ist, alle Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, die für die Tätigkeit eines Angestellten im öffentlichen Dienst nach den Tarifgruppen IX oder VIII BAT erforderlich sind. Zwar mag die Nähe der vom Kläger verrichteten Tätigkeit zu der Tätigkeit eines Registrators gewisse Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln, wie sie für die Tätigkeit eines Registraturangestellten nützlich sind. Jedoch kann das nicht voll zutreffen, wenn der Ausgangspunkt richtig ist, daß die jetzige Tätigkeit des Klägers zu den einfachsten Hilfsarbeitertätigkeiten gehört, die weder gehobenes Verantwortungsbewußtsein noch besondere Zuverlässigkeit erfordern und sich auch nicht wegen ihrer Bedeutung oder wegen ihres Ansehens innerhalb des Betriebes besonders hervorheben. Ist aber auch die Feststellung des LSG fehlerhaft zustandegekommen, der Kläger könne noch die Tätigkeit eines Büroangestellten verrichten, so kann das angefochtene Urteil mangels einer fehlerfrei zustandegekommenen Feststellung über die Fähigkeit zur Verrichtung zumutbarer Arbeiten nicht aufrechterhalten bleiben. Da der Senat die fehlenden Feststellungen nicht nachholen kann, hat er den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen.

Bei der erneuten Entscheidung bietet sich in erster Linie an, die vom LSG als zweifelhaft bezeichnete Frage zu entscheiden, ob die vom Kläger tatsächlich verrichtete Tätigkeit als "Archivar" im Sinne des § 1246 RVO zumutbar ist. Dabei wird zu berücksichtigen sein, wie sie tariflich bewertet wird. Allerdings kommt es nicht auf den Lohnunterschied zur früheren Tätigkeit eines gelernten Schlossers an; entscheidend ist vielmehr, wie die Qualität der jetzigen Tätigkeit tariflich bewertet wird (vgl. Urteil des erkennenden Senats in SozR Nr. 110 zu § 1246 und Wiegand in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1975, 335). Der Senat hat bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht, daß es für die Zumutbarkeit einer Tätigkeit darauf ankommt, welches Ansehen sie in den Augen der Umwelt hat (vgl. BSG 9, 254, 258; 19, 57, 59). Dabei kommt es vor allem auf die Beteiligten und mit der Sache vertrauten Bevölkerungskreise an. Dazu gehören aber insbesondere die Tarifpartner, die in den Tarifverträgen die einzelnen Tätigkeiten auch unter Würdigung der nach § 1246 Abs. 2 RVO zu berücksichtigenden Merkmale einstufen. Wenn auch die tarifliche Einstufung nicht allein maßgebend ist, so ist sie jedoch ein wichtiges Indiz für die Bedeutung einer Berufstätigkeit (vgl. BSG in SozR Nrn. 17, 25, 26 zu § 46 RKG; 80, 103, 107, 110 zu § 1246 RVO). Sollte das LSG unter Berücksichtigung dieser Grundsätze zu dem Ergebnis kommen, daß die jetzige Tätigkeit des Klägers sozial nicht zumutbar ist, so wird es bei der weiteren Prüfung, ob der Kläger auf die Tätigkeiten eines Kontrolleurs oder Prüfers maschinell gefertigter kleinerer Werkstücke verwiesen werden kann, zu berücksichtigen haben, daß es Kontroll- und Prüftätigkeiten der verschiedensten Art gibt. Kontroll- und Prüftätigkeiten einfacher Art, die auch ohne Vorkenntnisse von jedem Arbeitnehmer nach kurzer betrieblicher Einweisung verrichtet werden können, kommen als Verweisungstätigkeit nur dann in Betracht, wenn ihre Bedeutung durch andere Merkmale wie z.B. Verantwortungsbewußtsein so hervorgehoben ist, daß sie den angelernten Tätigkeiten gleichstehen und ebenso wie diese tariflich eingestuft sind. Soweit es sich um Kontroll- und Prüftätigkeiten höherer Art handelt, wird das LSG zu prüfen haben, ob der Kläger die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten mitbringt. Das gilt auch für die im angefochtenen Urteil genannten Angestelltentätigkeiten.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651663

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