Entscheidungsstichwort (Thema)

Multiple Sklerose

 

Leitsatz (amtlich)

1. An die Entscheidung des Landessozialgerichts, daß die Revision nach SGG § 162 Abs 1 Nr 1 zugelassen werde, ist das Bundessozialgericht jedenfalls dann gebunden, wenn diese Entscheidung nicht offensichtlich unbegründet ist.

2. Eine gesetzliche Beweisregel des Inhalts, daß die anspruchbegründenden Tatsachen im Zweifel zu Gunsten desjenigen, welcher einen Versorgungsanspruch geltend macht, als feststehend anzunehmen seien, gibt es nicht.

3. Auch in Angelegenheiten der Sozialgerichtsbarkeit gilt der Grundsatz der objektiven Beweislast, insbesondere der Feststellungslast. Hiernach sind die Folgen der objektiven Beweislosigkeit oder des Nichtfestgestelltseins einer Tatsache von dem Beteiligten zu tragen, der aus dieser Tatsache ein Recht herleiten will.

 

Leitsatz (redaktionell)

Ein zulässiger und begründeter Revisionsangriff ließ sich gegen eine Feststellung, daß bei einer Entstehung der multiplen Sklerose konstitutionell-erbliche Faktoren eine erhebliche Rolle spielen, daß dagegen äußeren Einflüssen nur eine begrenzte Bedeutung einzuräumen sei, nicht führen.

 

Normenkette

BVG § 1 Fassung: 1950-12-20; SGG § 162 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, § 128 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 2. Juni 1955 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger, der von Juni 1940 bis November 1945 der Wehrmacht angehörte, leidet an multipler Sklerose und ist infolge dieser Krankheit seit 1948 erwerbsunfähig. Am 27. September 1947 beantragte er Fürsorge und Versorgung nach dem Wehrmachtfürsorge- und Versorgungsgesetz (WFVG) mit der Begründung, er sei im Mai 1945 in der Kriegsgefangenschaft bei Straßenbauarbeiten von einem englischen Militärkraftwagen angefahren worden und habe hierbei eine Gehirnerschütterung, eine Lähmung der linken Körperseite sowie Quetschungen an der rechten Körperseite erlitten. Die Landesversicherungsanstalt (LVA.) Schleswig-Holstein, Außenstelle Flensburg, erkannte mit Bescheid vom 3. März 1948 Beschwerden nach Gehirnerschütterung und verheilten Schlüsselbeinbruch rechts als Wehrdienstbeschädigung an, versagte aber eine Rente, da die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) weniger als 30 % betrage. Der Einspruch des Klägers wurde vom Beschwerdeausschuß der LVA. zurückgewiesen. Die Berufung des Klägers hiergegen wurde vom Oberversicherungsamt (OVA.) Schleswig wegen Versäumung der Berufungsfrist als unzulässig verworfen.

Am 9. Juni 1952 beantragte der Kläger, die bei ihm vorliegende multiple Sklerose als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) anzuerkennen. Das Versorgungsamt (VersorgA.) Flensburg erkannte mit Bescheid vom 6. Juni 1953 multiple Sklerose im Sinne einer einmaligen, abgrenzbaren Verschlimmerung (Krankheitsschub durch Unfall) als Schädigungsfolge an und gewährte dem Kläger vom 1. Juni 1952 an eine Rente nach einer MdE. um 30 %. Auf seinen Einspruch setzte der Beschwerdeausschuß des Landesversorgungsamtes (LVersorgA.) Schleswig-Holstein mit Entscheidung vom 10. Juli 1955 den Rentenbeginn auf den 1. April 1949 fest. Mit der Berufung (alten Rechts) begehrte der Kläger Zuerkennung der Vollrente ab 1. Juli 1948 und einer Pflegezulage. Daraufhin verurteilte das Sozialgericht (SG.) Schleswig den Beklagten mit Urteil vom 13. Mai 1954, dem Kläger schon ab 1. Juli 1948 eine Rente nach einer MdE. um 30 % zu gewähren; im übrigen wies es die Klage ab. Das SG. verneinte den Ursachenzusammenhang zwischen der multiplen Sklerose und dem Wehrdienst im Sinne der Entstehung, bejahte jedoch eine einmalige, abgrenzbare Verschlimmerung durch den Unfall vom Mai (richtig: Juni) 1945. Es hielt den Anspruch auf Pflegezulage für unbegründet, weil der Kläger nicht infolge des anerkannten Verschlimmerungsanteils hilflos geworden sei.

Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung des Klägers mit Urteil vom 2. Juni 1955 zurück. Es ging davon aus, daß bei der Entstehung der multiplen Sklerose konstitutionell-erbliche Faktoren eine erhebliche Rolle spielen, daß dagegen äußeren Einflüssen nur eine begrenzte Bedeutung einzuräumen sei. Unter der Voraussetzung des zeitlichen Zusammenhanges könnten auch nachhaltige äußere Einwirkungen mitbestimmend für die Auslösung eines Krankheitsschubes sein. Nach Abheilung eines solchen Schubes seien aber spätere Rückfälle dem eigengesetzlichen Verlauf der Krankheit beizumessen. In solchen Fällen sei nur eine einmalige, nicht richtunggebende Verschlimmerung anzunehmen. Im einzelnen führte das LSG weiter aus, die ersten Krankheitserscheinungen seien wahrscheinlich schon im Jahre 1942 mit dem als "Sonnenstich" bezeichneten Ereignis aufgetreten. Vorher sei der Kläger keinen besonderen Belastungen durch den Wehrdienst ausgesetzt gewesen. Dem "Sonnenstich" könne nicht die Bedeutung einer schwerwiegenden Schädigung zugesprochen werden. In dieser Beziehung seien wehrdienstrechtliche Einflüsse als Ursache für die Entstehung der multiplen Sklerose mit großer Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Die vom Kläger auf eine "übermäßige Sonneneinstrahlung" im Jahr 1944 zurückgeführten Sehnervenveränderungen könnten nicht durch Lichteinwirkung hervorgerufen sein. Der Unfall vom 14. Juni 1945 habe das Gehirn des Klägers gar nicht oder nur geringfügig betroffen. Daher könne dieser Unfall nicht zu einer Verschlimmerung der multiplen Sklerose geführt haben.

Das LSG hat indessen der Erkrankung des Klägers an Malaria mit Beteiligung des Nervensystems im Juni 1945 "mit großer Wahrscheinlichkeit" eine verschlimmernde Wirkung auf die in der Latenz bestehende multiple Sklerose zugeschrieben. Die Malaria sei als Wehrdienstbeschädigung anzusehen. Aus dem späteren Verlauf der multiplen Sklerose folge, daß es sich um eine einmalige, abgrenzbare Verschlimmerung dieser Krankheit durch die Malaria handele. Der durch Wehrdiensteinflüsse bedingte Anteil an der Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers sei mit 30 % ausreichend bewertet. Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pflegezulage lägen nicht vor. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat gegen das ihm am 24. September 1955 zugestellte Urteil des LSG Revision eingelegt. Die Revisionsschrift ist am 21. Oktober 1955 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen. Die Revisionsbegründungsschrift vom 18. November 1955, auf deren Inhalt Bezug genommen wird, ist am 21. November 1955 beim BSG. eingegangen.

Der Kläger beantragt, unter Abänderung des angefochtenen Urteils nach dem aus dem Tatbestand des angefochtenen Urteils ersichtlichen Klageantrag zu erkennen, hilfsweise, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger rügt in der Revisionsbegründung zunächst eine Verletzung des § 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das LSG habe die Feststellung unterlassen, daß die Malariaerkrankung des Klägers mit den Einwirkungen seines Aufenthalts in Griechenland in Verbindung stehe. Eine Verletzung allgemeiner Erfahrungssätze liege darin, daß das LSG bei der Beurteilung des Unfalls vom 14. Juni 1945 lediglich die erste Krankenblatteintragung nach dem Unfall berücksichtigt habe. Nach den späteren Eintragungen müsse der Kläger nach dem Unfall bewußtlos gewesen sein. Diese Eintragungen widerlegten die Annahme des LSG, der Unfall habe das Zentralnervensystem nicht schwer verletzt. Die Schlußfolgerung des LSG, daß der Unfall nicht zu einer Verschlimmerung der multiplen Sklerose geführt habe, könne nicht aufrechterhalten werden.

Die Revision müsse auch "zur Nachprüfung stellen", ob die multiple Sklerose bereits zur Zeit der Erkrankung des Klägers an Malaria "in der Latenz" bestanden habe. Die Folgerung aus dem späteren Verlauf der multiplen Sklerose auf eine "einmalige, abgrenzbare Verschlimmerung" durch die Malariaerkrankung sei unzutreffend. Die Malariaerkrankung des Klägers und der Unfall vom 14. Juni 1945 mit der Beeinträchtigung des Zentralnervensystems seien die bestimmenden Faktoren für die Krankheit selbst gewesen. Auch die Auslegung des § 1 Abs. 3 BVG bedürfe der Überprüfung. "Wahrscheinlichkeit" im Sinne dieser Vorschrift sei schon dann gegeben, wenn die Krankheit in unmittelbarem Zusammenhang mit Wehrdiensterkrankungen aufgetreten sei. Soll die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges ausgeschlossen werden, so bedürfe es einer sicheren Erkenntnis, daß äußere Einflüsse für die multiple Sklerose nicht ursächlich sein können.

Der Beklagte beantragt, die Revision aus den in dem Schriftsatz vom 23. Juli 1957 angeführten Gründen zurückzuweisen.

Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision (§ 164 SGG) ist infolge ihrer Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) statthaft. An die Entscheidung des LSG, daß die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen werde, ist das BSG. grundsätzlich gebunden. Für die Auffassung des Senats waren die gleichen Erwägungen maßgebend, aus denen das BSG. die Entscheidung des SG. über die Zulassung der Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG für das Berufungsgericht als bindend ansieht (SozR. SGG § 150 Bl. Da 8 Nr. 19, Da 9 Nr. 23). Ob die Zulassung der Revision für das BSG. dann nicht verbindlich ist, wenn diese Entscheidung offensichtlich unbegründet ist, kann dahingestellt bleiben; denn ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Die Revision ist hiernach zulässig (§ 169 Satz 1 SGG); sie ist jedoch nicht begründet.

Das LSG hat entgegen der Behauptung des Klägers nicht unterlassen zu prüfen, ob der Aufenthalt des Klägers in Griechenland (1943 und 1944) für die Malariaerkrankung ursächlich gewesen ist. Es hat die Malaria als Schädigungsfolge des in Griechenland geleisteten Wehrdienstes im Sinne des § 1 des BVG angenommen und ihre ungünstige Wirkung auf die multiple Sklerose bejaht. Der gerügte Verfahrensmangel liegt mithin nicht vor (BSG. 1, 150 [153] und 3, 217 [220 f.]).

Der Revisionsangriff gegen die Feststellung des LSG, daß die bei dem Kläger vorliegenden Sehnervenveränderungen nicht durch Lichteinwirkung ("übermäßige Sonneneinstrahlung") hervorgerufen sein können, entspricht nicht den Erfordernissen des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG. Das LSG hat diese Feststellung unter Würdigung der von den Sachverständigen Prof. Dr. S. und Dr. L. in ihren Gutachten vom 24. März 1955 mitgeteilten besonderen Erfahrungen getroffen. Wollte der Kläger rügen, daß das LSG die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) überschritten habe, so hätte er darlegen und dafür Beweismittel bezeichnen müssen, inwiefern das LSG durch die Verwerfung der medizinischen Erfahrungen die Grenzen seines Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten hat (BSG. 2, 256 [237]). Er hat jedoch nur allgemein ausgeführt, die ärztliche Erfahrung unterliege der gerichtlichen Nachprüfung. Ein derart allgemeines und nicht substantiiertes Vorbringen genügt nicht den Formerfordernissen, wie sie in § 164 Abs. 2 SGG für die Rüge von Verfahrensmängeln vorgeschrieben sind.

Für die Revision nicht nachprüfbar ist auch die tatsächliche Feststellung des LSG, daß die Malariaerkrankung des Klägers nur eine einmalige, abgrenzbare Verschlimmerung der multiplen Sklerose hervorgerufen hat. Diese Feststellung gründet sich auf die Erwägung, daß die Malariaerkrankung lediglich einen Schub der multiplen Sklerose verursacht hat, während die späteren Schübe von der Malariaerkrankung nicht mehr beeinflußt worden sind. Das LSG hat seine Feststellungen unter Würdigung der besonderen Erfahrungen der Sachverständigen ohne Verletzung des § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG getroffen. Es hält sich damit, wie der Kläger selbst einräumt, an die vorwiegende medizinische Lehrmeinung. Der Hinweis des Klägers, daß nach ärztlicher Erfahrung die tatsächliche Folgerung des LSG "nicht einzusehen sei", entspricht nicht den Erfordernissen einer Revisionsbegründung nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG. Denn mit seinem Vorbringen äußert der Kläger nur seine persönliche Ansicht, ohne darzutun und die Beweismittel dafür zu bezeichnen, daß die Beweiswürdigung des LSG fehlerhaft ist.

Das LSG hat bei der Feststellung der Folgen des Unfalls vom 14. Juni 1945 nicht nur die Krankenblatteintragung vom 14. Juni 1945 berücksichtigt, wonach der Kläger nach dem Unfall und nach seiner Aufnahme in das Feldlazarett nicht bewußtlos war. Es hat vielmehr auch die Eintragungen vom 22. bis 28. Juni 1945 gewürdigt und daraus den Schluß gezogen, daß die dort vermerkten Zustände auffallend wechselnder Bewußtseinstrübung nicht auf den Unfall, sondern auf Fieberanfälle durch Malariaerkrankung zurückzuführen sind. § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG ist mithin nicht verletzt, weil sich die Beurteilung des LSG innerhalb der gesetzlichen Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung hält.

Auch die weiteren Ausführungen des Klägers, nach denen er die wesentliche Ursache für die Entstehung der Krankheit in der Malariainfektion sieht, erfüllen nicht die Voraussetzungen des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG. Der Kläger hätte Tatsachen dafür angeben müssen, inwiefern das LSG Feststellungen unter Verletzung von Vorschriften des SGG getroffen hat. Die Erklärung des Klägers, daß er "zur Nachprüfung stelle", ob die Annahme des LSG zutrifft, daß die multiple Sklerose bereits zur Zeit der Malariaerkrankung in der Latenz bestanden habe, reicht zur Substantiierung einer Verfahrensrüge nicht aus.

Schließlich mußte auch die Rüge des Klägers, das LSG habe bei der Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs den Begriff der Wahrscheinlichkeit (§ 1 Abs. 3 BVG) unrichtig angewendet, erfolglos bleiben. Die Revisionsrüge ist allerdings formgerecht gemäß § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG erhoben. Trifft die Auffassung des 9. Senats in seinem Urteil vom 12. April 1956 (SozR. SGG § 162 Bl. Da 10 Nr. 45) zu, daß es sich bei § 1 Abs. 3 BVG um eine Vorschrift des materiellen Rechts handelt, so genügt es, daß der Kläger den § 1 Abs. 3 BVG als die verletzte Rechtsnorm bezeichnet hat. Die Frage, ob § 1 Abs. 3 BVG dem materiellen Versorgungsrecht angehört oder - wie der erkennende Senat im Gegensatz zum 9. Senat anzunehmen geneigt ist - eine die Beweiswürdigung betreffende Verfahrensvorschrift ist, braucht hier jedoch nicht entschieden zu werden. Enthält nämlich § 1 Abs. 3 BVG eine Verfahrensvorschrift und ist hiernach das Vorbringen des Klägers zur Begründung seines Revisionsangriffes als die Rüge eines wesentlichen Mangels des Verfahrens aufzufassen, so entspricht die Revisionsbegründung auch der für die Rüge von Verfahrensmängeln vorgeschriebenen strengeren Form.

Die gerügte Gesetzesverletzung liegt jedoch nicht vor. Das LSG hat dadurch, daß es den ursächlichen Zusammenhang zwischen der multiplen Sklerose und dem Wehrdienst nicht im Sinne der Entstehung der Krankheit anerkannte, den Begriff der Wahrscheinlichkeit in § 1 Abs. 3 BVG nicht verkannt. Es hat auch bei der Beurteilung der Umstände, die für und gegen die Annahme eines ursächlichen Zusammenhanges sprechen, nicht gegen die Vorschriften über die Beweiswürdigung (§ 128 SGG) verstoßen. Die Gründe, die das LSG dafür angeführt hat, daß nach seiner Auffassung wehrdienstliche Einflüsse als Ursache für die Entstehung der multiplen Sklerose "mit großer Wahrscheinlichkeit" auszuschließen sind, lassen einen Rechtsirrtum nicht erkennen. Auch die Schlußfolgerung des LSG, daß nach den von ihm festgestellten Tatsachen das Leiden des Klägers nur einmal und abgrenzbar verschlimmert worden ist, unterliegt keinen rechtlichen Bedenken. Dagegen ist die Meinung des Klägers rechtsirrig, der ursächliche Zusammenhang zwischen seinem Leiden und dem Wehrdienst dürfe nur dann verneint werden, wenn feststünde, daß der ursächliche Zusammenhang unmöglich ist. In § 1 BVG ist der ursächliche Zusammenhang zwischen den gesundheitlichen Folgen einer Schädigung und dem militärischen Dienst ein Teil des gesetzlichen Tatbestandes, von dem das Entstehen eines Anspruches auf Versorgung wegen jener Schädigungsfolgen abhängt. Nach ständiger Rechtsprechung auf Grund des § 128 SGG und der entsprechenden früheren Verfahrensvorschriften darf der Tatrichter einen Sachverhalt, der ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal verwirklichen soll, nur dann als gegeben annehmen, wenn er den Sachverhalt nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung feststellen kann. Der Tatrichter kann und darf also bei der Anwendung des § 1 BVG das Bestehen eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen Gesundheitsstörungen und militärischem Dienst nicht feststellen, wenn ihm nach ausreichender Aufklärung des Sachverhalts und nach rechtlicher einwandfreier Würdigung aller Umstände des Falles so erhebliche Zweifel bleiben, daß er den Zusammenhang nicht für wahrscheinlich hält. Eine gesetzliche Beweisregel des Inhalts, daß die anspruchsbegründenden Tatsachen im Zweifel zu Gunsten desjenigen, welcher einen Versorgungsanspruch geltend macht, als feststehend anzunehmen seien, gibt es nach dem SGG ebensowenig wie nach dem bisherigen Verfahrensrecht (vgl. RVO-Mitgl.-Komm. Bd. I, 2. Aufl., S. 171 Anm. 2 c zu § 1545; EuM. Bd. 14, 378 [380], Bd. 18, 185 [188 f.]; RVGer. 3, 47; BSG. 4, 116 [1187]).

Ist hiernach der ursächliche Zusammenhang nicht feststellbar, so ist die Klage, mit der ein Anspruch verfolgt wird, der das Bestehen des ursächlichen Zusammenhanges voraussetzt, als unbegründet abzuweisen. Insoweit gilt auch in Angelegenheiten der Sozialgerichtsbarkeit der Grundsatz der objektiven Beweislast, insbesondere der Feststellungslast, wonach die Folgen der objektiven Beweislosigkeit oder des Nichtfestgestelltseins einer Tatsache von demjenigen Beteiligten zu tragen sind, der aus dieser Tatsache ein Recht herleiten will (vgl. Rosenberg, Lehrbuch, 7. Aufl., § 114; Rosenberg, Die Beweislast, 3. Aufl., S. 23 f.; BSG. 4, 116 [118]; BVerwG., Urt. vom 10.6.1955 in NJW. 1956, 604 und v. 18.4.1956 in NJW. 1956, 1214). Hiermit wird nicht etwa ein neuer, von der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes, des Reichsversorgungsamtes oder des BSG abweichender Rechtsgrundsatz ausgesprochen, sondern nur eine Ausdrucksweise klargestellt, die zu Mißverständnissen Anlaß geben kann. Wenn es im Schrifttum, namentlich im älteren, heißt, daß es im Verfahren nach der Reichsversicherungsordnung (RVO) und in Versorgungssachen, ebenso im jetzigen sozialgerichtlichen Verfahren eine "Beweislast" nicht gibt, so ist damit nur die Beweisführungslast oder die subjektive Beweislast gemeint (vgl. RVO-Mitgl.-Komm., Bd. I, 2. Aufl., S. 170 Anm. 2 c zu § 1545,S. 274 Anm. 4 zu § 1665; Arendts, G. über das Verfahren in Versorgungssachen (1935), Anm. 2 zu § 80; Hoffmann-Schroeter, SGG, Handkomm., Anm. 1 zu § 103). Die Auffassung, daß eine subjektive Beweislast dem gerichtlichen Verfahren in Angelegenheiten der Sozialversicherung und Kriegsopferversorgung von je her fremd war, trifft zu; eine andere Auffassung wäre mit dem Grundsatz, daß das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen hat (§ 105 SGG), der auch schon unter der Herrschaft der älteren Verfahrensgesetze galt, nicht vereinbar (zutreffend Peters-Sautter-Wolff, Komm. z.Sgbk., Anm. 4 zu § 103). Der Grundsatz der objektiven Beweislast wird aber von dem Amtsermittlungsgrundsatz nicht berührt.

Der Grundsatz der objektiven Beweislast bedeutet, daß jeder Beteiligte (§ 69 SGG) die Gefahr einer ihm nachteiligen Entscheidung trägt, wenn die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen der von ihm geltend gemachten Rechtsfolgen vom Gericht nicht festgestellt werden können. Die Antwort auf die Frage, welcher Beteiligte die Beweislast trägt, kann nur denjenigen Normen, deren Anwendung zu Gunsten eines Beteiligten in Betracht kommt, nicht etwa der Verfahrensordnung schlechthin entnommen werden. Jedenfalls hat die Stellung des Beteiligten im Verfahren als Kläger oder Beklagter auf die Verteilung der objektiven Beweislast keinen Einfluß; auch sein Status als Einzelperson (Versicherter, Versorgungsberechtigter) oder als Körperschaft (Versicherungsträger, Kostenträger der Kriegsopferversorgung) ist hierfür unerheblich. Ist die Zuerkennung einer Beschädigtenrente nach dem BVG im Streit, so führt die Anwendung der dem materiellen Versorgungsrecht zu entnehmenden Beweislastnorm dazu, daß die Klage abzuweisen ist, falls die anspruchsbegründenden Tatsachen nicht festgestellt sind. Es ist nur eine Folge des nämlichen Prinzips, daß in manchen Fällen, über die im vorliegenden Falle allerdings nicht zu entscheiden ist, die objektive Beweislosigkeit einer Tatsache dem Kostenträger der Kriegsopferversorgung zum Nachteil gereicht. So wäre der Klage eines Versorgungsberechtigten stattzugeben, wenn er sich mit ihr dagegen wendet, daß die Verwaltungsbehörde durch eine besondere Maßnahme in seine Rechtssphäre eingegriffen hat, und wenn nicht festgestellt ist, daß die Voraussetzungen für einen solchen Eingriff erfüllt sind. Eine Anwendung der Beweislastregeln in diesem Sinne käme in Betracht z.B. beim Versagen der Rente wegen Nichtbefolgung einer Anordnung in Bezug auf die Heilbehandlung (§ 25 BVG), beim Entzug der Rente wegen Nichterscheinens zur Untersuchung (§ 63 BVG), bei der Minderung oder Entziehung der Rente wegen Änderung der Verhältnisse (§ 62 BVG), beim Erlaß eines Berichtigungsbescheides zu Ungunsten des Berechtigten (§ 41 VerwVG v. 2.5.1955), bei der Rückforderung oder Einbehaltung von Leistungen (§ 47 a.a.O.). Um einen dieser Fälle handelt es sich aber nicht, wenn das Begehren des Klägers, wie hier, auf Erhöhung seiner Rente zielt.

Im vorliegenden Falle trägt der Kläger die objektive Beweislast für die feststellungsbedürftige Tatsache, daß die Entstehung seines Leidens und die dadurch bedingte Erwerbsunfähigkeit durch den militärischen Dienst verursacht worden ist. Da das LSG das Bestehen dieses Zusammenhanges, der nach den §§ 1, 29, 30 BVG zu den Voraussetzungen des mit der Klage verfolgten Versorgungsanspruches gehört, in einem rechtlich einwandfreien Verfahren nicht festgestellt hat, mußte das LSG die Berufung des Klägers gegen das seine Klage abweisende erstrichterliche Urteil zurückweisen.

Das angefochtene Urteil ist auch in sachlich-rechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden. Der rechtskräftig gewordene Bescheid vom 3. März 1948, worin als Leistungsgrund nicht das Multiple-Sklerose-Leiden, sondern nur Folgen nach Gehirnerschütterung ohne meßbare MdE. festgestellt worden sind, steht der angefochtenen Entscheidung nicht entgegen. Gegenüber dem unter der Geltung der Sozialversicherungsdirektive Nr. 27 ergangenen Bescheid vom 3. März 1946 ist der Bescheid des VersorgA. Flensburg vom 6. Juni 1953 als ein Zugunstenbescheid nach § 84 Abs. 3 BVG in Verb. mit § 45 Buchst. d Sozialversicherungsanordnung Nr. 11 und § 619 RVO aufzufassen, weil er zu Gunsten des Klägers an der Rechtskraft des früheren Bescheides nicht festhält. Da Folgen der Gehirnerschütterung und des Schlüsselbeinbruches bei den späteren ärztlichen Untersuchungen nicht mehr feststellbar waren, war die Verwaltungsbehörde nicht verpflichtet, die früher vorhandenen, inzwischen über abgeklungenen Leiden bei der Feststellung nach dem BVG in den Bescheid zu übernehmen (BSG. 2, 113).

Das LSG hat durch Ablehnung des Anspruchs auf Pflegezulage den § 35 BVG nicht verletzt. Nach dieser Vorschrift haben Beschädigte Anspruch auf Pflegezulage, wenn sie infolge einer Schädigung hilflos geworden sind. Da nach den Feststellungen des LSG nur die durch die Malaria im Jahre 1945 verursachte Verschlimmerung der Multiplen Sklerose als Schädigungsfolge anzusehen ist und die dadurch bedingte MdE. nur 30 v.H. beträgt, hat das LSG mit Recht angenommen, daß die festgestellten Schädigungsfolgen eine etwa eingetretene Hilflosigkeit des Klägers nicht wesentlich mitverursacht haben.

Die Revision war daher als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 70

NJW 1958, 39

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