Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz beim Transport von Tageseinnahmen einer Gaststätte in Privaträume

 

Orientierungssatz

Der Umstand, daß die Tageseinnahmen während der Nachtruhe nicht in den leeren Betriebsräumen verbleiben sollen, steht mit dem versicherten Gastwirtschaftsbetrieb in einem inneren ursächlichen Zusammenhang (vergleiche BSG 1972-11-30 2 RU 24/71 = SozR Nr 38 zu § 548 RVO). Daß das Geld nicht in einer Geldkassette transportiert wird, ist dabei unerheblich. Denn entscheidend für den Versicherungsschutz ist nicht das Behältnis, in dem das Geld transportiert wird, sondern daß es aus den durch Einbruch gefährdeten leeren Geschäftsräumen an einen als sicherer erachteten Ort verbracht werden soll.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Sozialgerichts Nürnberg vom 14. März 1972 und des Bayerischen Landessozialgerichts vom 23. Januar 1974 geändert.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin aus Anlaß des Unfalltodes ihres Ehemannes vom 3. November 1969 Witwenrente zu gewähren. Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten sämtlicher Rechtszüge zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin und ihr Ehemann Michael E (E.) pachteten 1965 die Gastwirtschaft "Z" in W. Das Pachtobjekt bestand nach dem Pachtvertrag aus Gastzimmer, Nebenzimmer, Wohnzimmer, Küche, Kühlraum, Speiseraum und Abortanlagen im Erdgeschoß sowie einem Fremdenzimmer (mit 2 Betten), einem Schlafzimmer und einer Mägdekammer im 1. Stock. Ein Teil des Nebenzimmers wurde von der Klägerin und E. durch einen Vorhang für private Zwecke abgetrennt. Das im 1. Stock gelegene Fremdenzimmer wurde zunächst an Übernachtungsgäste und von 1966 ab von dem Rentner ... (B.) bewohnt. Die Mägdekammer wurde bei Beginn des Pachtverhältnisses von einem Mieter der Hauseigentümerin N. und später von dem Gemeindearbeiter H, der - außerhalb seiner Arbeitszeit - in der Gastwirtschaft gelegentlich Gäste bediente, bewohnt. In einem kleinen im 1. Stock befindlichen Abstellraum waren einige Tische und Stühle, die bei Bedarf in der Gastwirtschaft aufgestellt wurden, untergebracht.

Am Nachmittag des 2. November 1969 nahm E. an einer Treibjagd teil. Gegen 22,00 Uhr, als sich in der Gastwirtschaft nur noch wenige Gäste befanden, kehrte er zurück und hängte etwa um 24,00 Uhr, nachdem er sich zunächst in den im Erdgeschoß befindlichen Räumen aufgehalten hatte, das erlegte Wild im Schlachthaus, das sich im Hof des Anwesens befand, auf. Als er gegen 0,45 Uhr mit einem Glas Weinschorle in der Hand zu Bett gehen wollte, stürzte er auf der in den 1. Stock führenden Treppe und verletzte sich dabei so schwer, daß er noch am Unfallort verstarb. Nach dem Unfall stellte die Polizei fest, daß E. 1.703,33 DM bei sich trug, die sich zum Teil lose in seinen Taschen und zum Teil in einer Geldbörse befanden. Mit Bescheid vom 11. Mai 1970 lehnte die Beklagte Hinterbliebenenleistungen ab, weil E. auf dem Weg in den 1. Stock sich in dem unversicherten privaten Wirkungskreis befunden habe. Im Klageverfahren hat die Klägerin u. a. vorgetragen, das Fremdenzimmer sei zwar seit 1966 an den Rentner B. vermietet gewesen, doch ändere das an der vertraglichen Zweckbestimmung als Fremdenzimmer nichts, zumal B. das Frühstück, Mittag- und Abendessen, das jeweils besonders bezahlt worden sei, in der Gastwirtschaft eingenommen habe. Für Reinigung des Zimmers habe B. 10,- DM bezahlt. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 14. März 1972 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin, soweit sie Sterbegeld und Überbrückungshilfe betrifft, verworfen und im übrigen zurückgewiesen (Urteil vom 23. Januar 1974). Es hat im wesentlichen ausgeführt, E. habe damals vorübergehend auf dem in der Veranda im 1. Stock befindlichen Sofa geschlafen, weil seine 5-jährige Enkeltochter bei der Klägerin im Schlafzimmer untergebracht gewesen sei. Als er am 3. November 1969 gegen 0,45 Uhr auf dem Wege zu seiner Schlafstelle auf der Treppe stürzte, habe er schon fast deren Ende erreicht gehabt. Von den gepachteten Räumen habe nur das im 1. Stock gelegene Schlafzimmer ausschließlich privaten Zwecken gedient, während die übrigen Räume, vor allem die Küche und der im Nebenzimmer durch einen Vorhang abgetrennte Nebenraum, sowohl privat als auch betrieblich genutzt worden sei. Da sich die Betriebs- und Wohnräume sonach innerhalb desselben Gebäudes befunden hätten und die betrieblichen Räume auch für private Zwecke verwendet worden seien, bestehe kein Versicherungsschutz nach § 550 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Aber auch nach § 548 RVO sei E. zur Unfallzeit nicht versichert gewesen. E. sei am 2. November 1969 überhaupt nicht als Gastwirt betrieblich tätig gewesen. Er habe nach Rückkehr von der Treibjagd den Rucksack mit dem erlegten Wild in der Küche abgelegt, sich dann in den zu dieser Zeit privat genutzten Nebenraum begeben und sich dort eine Fernsehsendung angesehen. Während dieser Zeit sei er ab und zu in die Gaststube gegangen und habe sich dort mit Gästen unterhalten, jedoch nicht bedient. Gegen 24,00 Uhr habe er die Jagdbeute im Schlachthaus aufgehängt. Bei diesen Tätigkeiten habe E. keine versicherte betriebliche Tätigkeit verrichtet. Zwar könne die Begrüßung von Gästen für einen Gastwirt eine betriebliche Tätigkeit sein. Hier sei das aber nicht der Fall gewesen. Dabei müsse zunächst berücksichtigt werden, daß der Klägerin und E. in der Gastwirtschaft nur zwei Räume, nämlich das Schlafzimmer und der Nebenraum für private Zwecke zur Verfügung gestanden hätten, wobei der Nebenraum bei Bedarf auch betrieblich benutzt worden sei. Es liege deshalb nahe, daß sich E. während seiner Freizeit auch in der Gastwirtschaft aufhielt, um sich zu unterhalten. Um eine betriebliche Tätigkeit habe es sich dabei aber nicht gehandelt, zumal er nach den Zeugenaussagen den Gästen mit Tränen in den Augen erzählt habe, daß während der Jagd sein Jagdhund erschossen worden sei. Es sei ihm also nicht darum gegangen, die Gäste zu begrüßen oder zu unterhalten, sondern um sich seinen Kummer von der Seele zu reden. Eine betriebliche Tätigkeit könnte im vorliegenden Fall nur dann bejaht werden, wenn E. z. B. Gäste bedient hätte. Die Teilnahme an der Treibjagd habe nur dem privaten Vergnügen des E. gedient. Sonach sei E. auf dem Weg in den 1. Stock nicht versichert gewesen. Unterstelle man, daß E. vor Antritt des Weges in den 1. Stock doch betrieblich tätig gewesen sei, so habe sich der Unfall im unversicherten privaten Bereich ereignet. Zwar sei nach dem Pachtvertrag von 1965 auch ein Fremdenzimmer im 1. Stock verpachtet gewesen, dieses sei aber schon seit 1966 an den hochbetagten Rentner B. als Dauermieter vermietet gewesen, weshalb es nicht mehr dem Beherbergungsgewerbe, für das ein häufiger Personenwechsel typisch sei, und damit nicht dem versicherten (Gastwirtschafts)-Betrieb zugerechnet werden könne. Er sei von der Klägerin auch nicht mit einem für Übernachtungsgäste verwendeten Meldezettel bei der Gemeindeverwaltung angemeldet gewesen. Der Umstand, daß die Klägerin oder ihre Putzfrau dieses Zimmer gereinigt und aufgeräumt hätten, gebe zu einer anderen Beurteilung keinen Anlaß, denn B. habe dies jeweils gesondert bezahlt. Daß in diesem Zimmer mit Einverständnis des B. ab und zu (etwa 10 mal im Jahr) ein Übernachtungsgast untergebracht worden sei und der in der Mägdekammer im 1. Stock wohnende Gemeindearbeiter H gelegentlich in der Gastwirtschaft bedient habe und in dem im 1. Stock befindlichen kleinen Abstellraum einige Tische und Stühle untergebracht gewesen seien, die bei Bedarf in der Gastwirtschaft benötigt worden seien, begründe keine wesentliche gewerbliche Nutzung der vom Erdgeschoß in den 1. Stock führenden Treppe und mache diese deshalb nicht zum betrieblichen Bereich. Auch die Tatsache, daß E., als er verunglückte, einen größeren aus den Einnahmen der Gastwirtschaft stammenden Geldbetrag mit sich geführt habe, könne einen Versicherungsschutz für ihn nicht begründen. Denn seine Tätigkeit habe, bevor er die Küche verlassen habe, um ins Bett zu gehen, nur darin bestanden, einen Teil der Tageseinnahmen an sich zu nehmen. Dies vermöge aber für seinen Weg in den 1. Stock einen Versicherungsschutz nach § 548 RVO, anders als beim Transport einer Geldkassette, nicht zu begründen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 550, 548 RVO. Sie führt u. a. aus, das Fremdenzimmer gehöre auch dann, wenn es an einen Dauergast vermietet werde, zum Gastbetrieb; dafür sei auch Gewerbesteuer gezahlt worden. Dies gelte um so mehr, als B. weiter verköstigt worden sei. Auch der Abstellraum im 1. Stock habe dem Gewerbebetrieb, und zwar wesentlich, gedient. Wenn die Tageseinnahme oder ein Teil davon nicht in einer Geldkassette nach oben gebracht worden sei, entfalle damit nicht der Versicherungsschutz. Ein Gastwirt, der sich in der Gaststätte aufhalte, sei betrieblich tätig, gleichgültig, worüber er sich dabei mit den Gästen unterhalte; er müsse nicht bedienen, dies sei hier durch die Frau geschehen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Bayerischen LSG vom 23. Januar 1974 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin aus der gesetzlichen Unfallversicherung die Leistungen nach der RVO zu gewähren, insbesondere die Witwenrente.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Sie meint, der Umstand, daß E. einen aus der Tageseinnahme herrührenden Geldbetrag bei dem Weg ins Schlafzimmer bei sich geführt habe, sei "mehr ein Zufall" gewesen. Später trug die Beklagte noch vor, der von E. mitgeführte Betrag von 1.703,33 DM sei für die kleine Gaststätte viel zu hoch. Er müsse mit der vorangegangenen Jagd oder "mit irgendwelchen anderen Belangen" in Zusammenhang gestanden haben; auch sei völlig offen, wo die betriebliche sichere Verwahrung hätte erfolgen sollen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und deshalb zulässig. Sie hatte auch in der Sache Erfolg, soweit sie die Witwenrente betrifft. Hinsichtlich des Sterbegeldes und der Überbrückungshilfe hat das LSG mit Recht die Berufung als unzulässig verworfen (s. BSG, SozR 1500 § 144 Nr. 2).

Die Klage der Klägerin auf Gewährung von Unfall-Witwenrente ist begründet. E. ist bei einer versicherten Tätigkeit verunglückt. Nach den Feststellungen des LSG führte E. bei seinem Weg vom Erdgeschoß in den 1. Stock, wo er sich schlafen legen wollte und auf dem sich der Unfall ereignete "einen Teil der Tageseinnahmen" (Einnahmen aus der Gastwirtschaft) bei sich (Urteil S. 12). Obwohl das LSG nur von "einem Teil der Tageseinnahmen" gesprochen hat, ergibt sich aus seinem Urteil, daß es sich um einen sehr großen Teil der Einnahmen, nämlich um den Betrag von insgesamt 1.703,33 DM gehandelt hat (Urteil S. 3).

Mit Recht weist die Beklagte in ihrem Schriftsatz vom 30. August 1974 darauf hin, daß dieser Betrag für die "offensichtlich relativ kleine Gaststätte ... hoch gewesen" sei. Wenn sie jedoch meint, er sei "viel zu hoch" gewesen, weshalb der Gesamtbetrag "offenbar mit der vorangegangenen Jagd oder mit irgendwelchen anderen Belangen des Verunglückten im Zusammenhang gestanden" habe, so wird durch eine solche Vermutung die vorerwähnte Feststellung des LSG nicht in verfahrensrechtlich beachtlicher Weise angegriffen. Im übrigen ist das LSG insoweit ersichtlich der Aussage der Klägerin gefolgt, die am 23. Januar 1974 vor dem LSG erklärt hatte, sie habe E., "bevor er am Unfalltag nach oben ging, einen größeren Geldbetrag in Banknoten übergeben". Wenn die Beklagte weiter einwendet, es sei völlig offen, wo die betriebliche sichere Verwahrung des Geldes hätte erfolgen sollen, so ergibt sich doch aus den Umständen mit hinreichender Deutlichkeit, daß das Geld im privaten Wohnbereich, d. h. entweder im Schlafzimmer oder in der Veranda im 1. Stock, wo E. damals auf dem Sofa zu schlafen pflegte (Urteil S. 7), verwahrt werden sollte. Daß die Tageseinnahmen während der Nachtruhe nicht in den leeren Betriebsräumen verbleiben sollten, stand mit dem bei der Beklagten versicherten Gastwirtschaftsbetrieb in einem inneren ursächlichen Zusammenhang. Wie der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 30. November 1972 in SozR Nr. 38 zu § 548 RVO zutreffend ausgesprochen hat, gehören bei einem Unternehmer die in seinem Geschäft vereinnahmten Gelder zu den wichtigen Gegenständen seines Unternehmens. Ihre Verwahrung nach Geschäftschluß außerhalb der Geschäftsräume an einem für sicherer gehaltenen Ort dient ebenso der Tätigkeit im Unternehmen wie ihr Zurückbringen in die Geschäftsräume für Geschäftszwecke (Bl Aa 50 Rs). In der damaligen Entscheidung des 2. Senats war das Geld zwar in einer Geldkassette transportiert worden. Dies rechtfertigt aber, entgegen der Auffassung des LSG, keine andere Entscheidung (s. BSG vom 11.12.1973 - 2 RU 5/73 - unveröffentlicht). Denn das Wesentliche ist dabei das Geld und nicht das Behältnis (Geldbörse, Tasche, Beutel oder Kassette), in dem es aus den durch Einbruch gefährdeten leeren Geschäftsräumen an einen als sicherer erachteten Ort verbracht wird. Unter diesen Umständen kam es nicht darauf an, ob die Treppe bzw. das 1. Obergeschoß, in dem sich die Privaträume des E. und seiner Frau befanden, dem häuslichen, unversicherten Bereich zuzuordnen ist; denn auf dem Weg dahin bestand nach § 548 Abs. 1 RVO schon deshalb Versicherungsschutz, weil der Unfall in einem ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stand (vgl. SozR aaO). Hingegen kommt die Vorschrift des § 550 RVO nicht zum Zuge, weil sich hier Wohnung und Arbeitsstätte innerhalb desselben Gebäudes befanden (vgl. SozR aaO und BSG 11, 267, 270; 12, 165, 167).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, daß die Klägerin mit ihrem Hauptbegehren - Gewährung von Witwenrente - obsiegt hat.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649065

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