Leitsatz (amtlich)

Bei der Anpassung des Jahresarbeitsverdienstes nach RVO § 573 Abs 2 ist das ortsübliche Arbeitsentgelt maßgebend, wenn es günstiger als das tariflich festgesetzte ist.

 

Normenkette

RVO § 573 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 28. Februar 1974 aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 5. August 1971 wird als unzulässig verworfen, soweit sie die vorläufige Rente betrifft.

Im übrigen wird der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im wesentlichen darüber, ob die Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) nach § 573 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in erster Linie nach dem durch Tarif festgesetzten Lohn zu erfolgen hat und nur, wenn ein solcher nicht vorhanden ist, nach dem ortsüblichen Arbeitsentgelt oder ob es sich dabei um zwei gleichrangige Alternativen handelt, von denen jeweils die den Verletzten günstigere anzuwenden ist.

Der 1942 geborene Kläger hat bei der Norddeutschen A. in H den Beruf eines Chemie-Laboranten erlernt und bis 1966 ausgeübt. Während seiner Tätigkeit erkrankte er an einem Hautekzem an beiden Händen, das auf einer Allergie gegen Nickel- und Kobaltsulfate beruhte, Am 24. Februar 1966 zeigte der behandelnde Arzt dieses Ekzem als Berufskrankheit (BK) bei der Beklagten an. Nachdem der Kläger wegen seiner Hauterkrankung wiederholt arbeitsunfähig war, schied er Ende des Jahres 1966 auf ärztlichen Rat aus dem Beschäftigungsverhältnis bei der Norddeutschen A. aus.

Mit Bescheid vom 23. März 1967 erkannte die Beklagte dieses Hautleiden als BK i. S. der Nr. 46 der Anlage der 6 Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) an und gewährte dem Kläger ab 2. Januar 1967 eine vorläufige Rente von 20 v. H. der Vollrente. Als Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls nahm sie - nach Berichtigung - den 15. Juli 1966 an. Der Rentenberechnung legte die Beklagte dabei unter Berücksichtigung des Gehaltstarifs für Angestellte der chemischen Industrie H vom 27. September 1965 den tarifvertraglichen JAV in Höhe von 9.693,- DM (Tarifgruppe 2) zugrunde. Diese vorläufige Rente wurde zur Dauerrente.

Gegen den Bescheid vom 23. März 1967 hat der Kläger Klage erhoben und vorgetragen, seine Erwerbsfähigkeit werde durch sein Hautleiden um mehr als 20 v. H. gemindert. Daneben müsse bei der Berechnung der Rente gemäß § 573 Abs. 2 RVO ein höherer JAV zugrunde gelegt werden.

Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat nach Einholung von Gutachten die Klage abgewiesen (Urteil vom 5. August 1971). In den Entscheidungsgründen ist es den übereinstimmenden ärztlichen Gutachten gefolgt, nach denen die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Klägers 20 v. H. betrage. Die Berechnung des JAV sei nicht zu beanstanden. Eine erhebliche Unbilligkeit i. S. von § 577 RVO sei im Falle des Klägers nicht zu erkennen.

Die Berufung des Klägers ist ohne Erfolg geblieben (Urteil vom 28. Februar 1974). Bezüglich der MdE ist das Landessozialgericht (LSG) Hamburg den im verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahren eingeholten medizinischen Gutachten gefolgt, die die MdE übereinstimmend mit 20 v. H. eingeschätzt hatten. Hinsichtlich des der Rente von der Beklagten zugrunde gelegten JAV hat das LSG unter Bezugnahme auf ein Urteil desselben Gerichts (Breithaupt 1970, 110) die Auffassung vertreten, das ortsübliche Arbeitsentgelt sei nur für den Fall maßgeblich, daß kein Tarifvertrag bestehe. Das Wort "sonst" in § 573 Abs. 2 RVO verweise die zweite der mit dem Wort "oder" verbundenen Alternativen an die zweite Stelle. Das ergebe sich auch daraus, daß die genannte Vorschrift im Interesse der Verwaltungsvereinfachung geschaffen worden sei. Der tarifliche Lohn lasse sich viel schneller und zuverlässiger feststellen als die übertariflichen Leistungen der Arbeitgeber, auch wenn diese ortsüblich seien. Ihre Bestätigung finde diese Rechtsansicht auch in der Begründung zum Entwurf des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG). Die Beklagte sei deshalb mit Recht bei der Berechnung des JAV von der Tarifgruppe T 2 ausgegangen. Der JAV könne im vorliegenden Falle auch nicht im erheblichen Maße als unbillig i. S. von § 577 RVO angesehen werden. Die Erhöhung des Gehalts des Klägers am 1. April 1966 von 700,- DM auf 780,- DM sei im Rahmen des letzten Beschäftigungsverhältnisses allein durch eine Tariferhöhung eingetreten und habe ihre angemessene Berücksichtigung bereits durch den Vergleich des Effektiveinkommens im letzten Jahr vor dem Versicherungsfall mit der Berechnung des JAV nach § 573 Abs 2 RVO gefunden. Eine erhebliche Unbilligkeit liege somit nicht vor.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger die zugelassene Revision eingelegt. Zur Begründung hat er ausgeführt, die von dem medizinischen Sachverständigen geschätzte Höhe der MdE von 20 v. H. solle zwar nicht angegriffen werden; das Berufungsgericht sei jedoch nicht hinreichend der Frage nachgegangen, wie sich die Allergie des Klägers gegen Nickel- und Kobaltsulfate im Hinblick auf den Umfang der auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auswirken würden. Dazu habe aber bei einem gelernten Chemie-Laboranten aller Anlaß bestanden. Hinsichtlich des der Rente zugrunde gelegten JAV hat sich der Kläger der Auffassung des LSG Niedersachsen (Breithaupt 1969, 123) angeschlossen, das die Ansicht vertreten hat, die beiden Merkmale "durch Tarifvertrag festgesetzt oder sonst ortsüblich" seien alternativ gleichwertig nebeneinandergesetzt. Deshalb genieße die jeweils für den Verletzten günstigere der beiden Alternativen den Vorzug. Bezüglich der Einstufung in die Tarifgruppe T 2 oder T 3 sei es nicht Sache der Sozialgerichtsbarkeit, inzidenter arbeitsrechtliche Zweifelsfragen zu entscheiden. Er wolle daher diesen Anspruch und auch den aus § 577 RVO nicht weiter verfolgen.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, des Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 5. August 1971 sowie des Bescheides der Beklagten vom 23. März 1967 die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine höhere Verletztenrente zu gewähren, und zwar unter Zugrundelegung eines höheren JAV und einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt u. a. aus, die Einschätzung der Höhe der MdE beruhe auf übereinstimmenden Sachverständigengutachten, so daß dagegen nichts einzuwenden sei. Im übrigen schließe sie sich den Ausführungen des angefochtenen Urteils voll inhaltlich an.

Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Hinsichtlich der vorläufigen Rente, die durch Zeitablauf (§ 1585 Abs. 2 RVO) während des Klageverfahrens zur Dauerrente geworden ist, ist die Berufung nach § 145 Nr. 3 SGG unzulässig, so daß das Berufungsurteil insoweit bereits aufzuheben war. Bei einer zulässigen Revision ist die Zulässigkeit der Berufung auch ohne Revisionsrüge oder Antrag des Revisionsbeklagten von Amts wegen zu prüfen (BSG 2, 225, 226 f). Dabei liegt in der Verwerfung der Berufung als unzulässig kein Verstoß gegen das Verbot der reformation in peius. Denn hierdurch wird der Revisionskläger nicht in eine ungünstigere Lage versetzt als durch das von ihm angegriffene, seine Berufung als unbegründet zurückweisende Urteil (BSG 2, 225, 228; Peters-Sautter-Wolff, 4. Aufl., Stand November 1974, Bd. III, Anm. 2 b zu § 160 SGG).

Zutreffend ist das LSG zunächst davon ausgegangen, daß bei der Berechnung des der Rente zugrunde zu legenden Jahresarbeitsverdienstes (JAV) die Vorschrift des § 573 Abs. 2 RVO Anwendung finden muß, weil der Kläger zur Zeit des Arbeitsunfalles - hier der Aufgabe des erlernten Berufs infolge seiner Berufskrankheit - noch nicht 25 Jahre alt war. Nach der genannten Bestimmung wird in einem solchen Fall, wenn es für den Berechtigten günstiger ist, der JAV dem Arbeitsentgelt angepaßt, das zur Zeit der Arbeitsunfalls von der Vollendung eines bestimmten Lebensalters ab, höchstens aber des 25. Lebensjahres, für Personen mit gleichartiger Tätigkeit durch Tarif festgesetzt oder sonst ortsüblich ist.

Die Auslegung der Worte "durch Tarif festgesetzt oder sonst ortsüblich" in der genannten Vorschrift ist in Literatur und Rechtsprechung umstritten. Das Bundessozialgericht (BSG) hat bislang zu dieser Frage nicht Stellung genommen. Das LSG Hamburg (Breithaupt 1970, 110), das LSG Baden-Württemberg (Breithaupt 1974, 393), das LSG Rheinland-Pfalz (Breithaupt 1974, 481 und Urteil vom 30. Oktober 1974 - Az.: L 3 U 27/74 - Revision eingelegt beim BSG unter dem Az.: 2 RU 265/74) sowie Podzun (Der Unfallsachbearbeiter 3. Aufl., Stand: März 1975, Kennzahl 440, 22 b) vertreten die Auffassung, die Berechnung des JAV sei grundsätzlich nach dem Entgelt vorzunehmen, das durch Tarif festgesetzt ist, auch wenn ein höheres Entgelt ortsüblich ist. Sie begründen dies damit, daß mit den Merkmalen "durch Tarif festgesetzt oder sonst ortsüblich" § 573 Abs. 2 RVO zwar zwei Alternativen enthalte. Diese seien jedoch nicht als gleichrangig anzusehen. Vielmehr verweise das Wort "sonst" die zweite der mit "oder" verbundenen Alternativen an die zweite Stelle (vgl. insbesondere LSG Rheinland-Pfalz in Breithaupt 1974, 481, 483). Demgegenüber sind das LSG Niedersachsen (Breithaupt 1969, 123), das LSG Schleswig-Holstein (Breithaupt 1974, 936) sowie Lauterbach (Unfallversicherung, 3. Aufl., Stand September 1974, Bd. I, Anm. 6 h zu § 573 RVO) und Miesbach/Baumer (Die gesetzliche Unfallversicherung, Stand März 1974, Anm. 6 zu § 573 RVO) der Ansicht, es handele sich hierbei um zwei gleichrangige Alternativen, von denen die dem Verletzten jeweils günstigere anzuwenden sei (unklar insoweit der Gesamtkommentar zur RVO 3. Buch, Stand: Dezember 1974, Anm. 4 zu § 573 RVO). Sie schließen dies aus der Verknüpfung der in der Vorschrift genannten Alternativen durch die Konjunktion "oder", die für ein gleichrangiges Nebeneinander beider Berechnungsarten spreche. Diese Gleichrangigkeit werde auch nicht durch das auf "oder" folgende Wort "sonst" im Sinne einer Rangfolge mit dem Ergebnis eingeschränkt, daß das ortsübliche Entgelt nur hilfsweise bei Fehlen einer tariflichen Regelung zugrunde zu legen sei. Vielmehr habe der Gesetzgeber "sonst" hier nicht als Konjunktion gebraucht, sondern dem folgenden "ortsüblich" zugeordnet und damit als Attribut benutzt. Diese Auslegung entspreche auch dem Grundgedanken des § 573 RVO, Nachteile auszugleichen, die dem Versicherten dadurch entstehen, daß er sich zur Zeit des Arbeitsunfalles noch in Schul- oder Berufsausbildung befinde (vgl. insbesondere LSG Schleswig-Holstein in Breithaupt 1974, 936, 937).

Nach Auffassung des Senats wird die letztere Gesetzesauslegung dem Wortlaut und besonders dem Zweck des § 573 Abs. 2 RVO gerecht, Härten für die Versicherten auszugleichen, welche durch einen Arbeitsunfall zu Schaden kommen, bevor sie ein bestimmtes Lebensalter erreicht und deshalb erst einen verhältnismäßig niedrigen Verdienst erzielt hatten.

Entgegen der Meinung des LSG Hamburg und den ihm in der Begründung im wesentlichen folgenden Urteilen des LSG Rheinland-Pfalz (aaO) sowie des LSG Baden-Württemberg (aaO) sind die Worte "oder sonst ortsüblich" nicht in dem Sinne zu verstehen, daß durch das Wort "sonst" eine bestimmte Rangfolge festgelegt wird, die den ortsüblichen Lohn an die "zweite Stelle" verweist. Der Inhalt, den die vorgenannten Gerichte dem Wort "sonst" beilegen, entspricht nicht dessen Vieldeutigkeit im Sprachgebrauch. Denn "sonst" wird nicht nur im Sinne von "andernfalls" gebraucht, sondern u. a. etwa auch für "außerdem, bei anderer Gelegenheit, für gewöhnlich, im allgemeinen" (Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Sonderausgabe, Seite 3322). Die grammatische Auslegung der Vorschrift des § 573 Abs. 2 RVO zwingt also keineswegs dazu, eine bestimmte Rangfolge der beiden aufgeführten Alternativen anzunehmen. Vielmehr sieht der Senat das Wort "sonst" als Attribut und nicht als Konjunktion also als besondere Kennzeichnung zu dem folgenden Wort "ortsüblich" an. Es sollte damit offenbar zum Ausdruck gebracht werden, daß der Gesetzgeber die tariflich geregelten Entgelte in der Regel als "ortsüblich" ansah, zumal diese Regelungen regional ebenso unterschiedlich sein können, wie von Tarifverträgen abweichende Entgelte.

Diese Auslegung des § 573 Abs. 2 RVO wird dadurch bekräftigt, daß nur zwei Vorschriften später, in § 575 Abs. 1 Satz 1 RVO, ausdrücklich durch das Hinzufügen eines Finalsatzes bestimmt ist, der JAV betrage nur dann das Dreihundertfache des Ortslohnes, "wenn ein Beschäftigungsort fehlt" Danach ist anzunehmen, daß, wenn für § 573 Abs. 2 RVO eine ebensolche Rangfolge gewollt wäre, das auch in dieser Vorschrift in gleicher oder ähnlicher Weise zum Ausdruck gekommen wäre und der Gesetzgeber sich nicht mit dem Wort "sonst" begnügt hätte.

Ein Vergleich des § 573 idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 (BGBl I, 241) - UVNG - mit der bis dahin geltenden entsprechenden Regelung (§ 565 RVO idF des 6. Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 6. März 1942 - 6. ÄndG - RGBl I, 107) zeigt, daß die Neufassung weitgehend der textlichen Formulierung des § 565 RVO aF entspricht, denn es hieß dort "... so wird ... der JAV nach dem Entgelt berechnet, der ... durch Tarif oder sonst allgemein ... festgesetzt ist" schon in dieser Fassung kommt zum Ausdruck, daß die beiden Alternativen gleichrangig nebeneinanderstehen und das Wort "sonst" im Sinne von "anderweitig" gebraucht ist Ein anderer gesetzgeberischer Wille läßt sich weder aus der amtlichen Begründung zum 6. ÄndG noch aus den Ausführungen von Jantz (AN 1942 II Seiten 199, 200 und 209 f) ersehen. Diese Fassung läßt sich zwar auch aus der Rechtssituation des Jahres 1942 erklären, weshalb nur allgemein "festgesetzte" Entgelte berücksichtigt zu werden brauchten. Dennoch erlaubt die Übernahme des Gesetzestextes, soweit er die Verknüpfung der beiden Alternativen mit den Worten "oder sonst" betrifft, den Schluß, daß insoweit keine Subsidiarität der zweiten gegenüber der ersten Alternative beabsichtigt war.

Diese Auslegung entspricht auch dem mit § 573 RVO angestrebten Ziel, Härten für die während einer Berufs- oder Schulausbildung oder in frühem Lebensalter Verunglückten hinsichtlich der Berechnung des JAV auszugleichen und sie möglichst so zu stellen, als ob sie erst zu einem späteren Zeitpunkt den Unfall erlitten und einen höheren Verdienst erzielt gehabt hätten. An die Stelle des tatsächlichen Arbeitseinkommens, das regelmäßig der Ausgangspunkt für die Bemessung des JAV ist (§ 571 RVO), tritt in § 573 Abs 2 RVO ein fiktives Entgelt, jedoch nur, wenn das für den Verletzten günstiger ist. Hierbei ist weder das vor dem Unfall erzielte noch das Entgelt maßgebend, das der Verletzte in einem höheren Lebensalter tatsächlich erreicht hätte. Im Interesse einer vereinfachten Handhabung, die schon mit dem 6. ÄndG und später auch mit dem UVNG bezweckt war, (vgl. BT-Drucks. IV/120 S. 57), sind hierfür vielmehr bestimmte Bezugsgrößen gesetzt. Daraus läßt sich aber nicht folgern, daß grundsätzlich die verhältnismäßig einfach zu ermittelnden einschlägigen Tarifentgelte und nur, wenn solche nicht vorhanden sind, die ortsüblichen Entgelte maßgebend sein sollen. Der in frühem Lebensalter Verunglückte, der deshalb erst einen niedrigen Verdienst erzielt hatte, ist schon dadurch benachteiligt, daß der JAV nicht nach dem Entgelt berechnet wird, das er tatsächlich von einem späteren Zeitpunkt an erzielt hätte. Wäre nun, soweit ein Tarifvertrag besteht, dieser allein maßgebend, wäre in den nicht seltenen Fällen einer übertariflichen Bezahlung eine weitere Benachteiligung gegenüber den später Verunglückten die Folge, wodurch der erstrebte Ausgleich noch weiter gemindert würde. Die vergleichsweise Ermittlung des ortsüblichen Entgelts kann zwar zeitraubender sein, als die des entsprechenden Tarifentgelts und zu gewissen Schwierigkeiten führen, stellt jedoch keine unzumutbare Belastung der Versicherungsträger dar. Ergibt der Vergleich, daß das ortsübliche Entgelt höher als das tatsächliche im Zeitpunkt des Unfalls erzielte ist und auch höher als das tariflich festgesetzte, so bleibt es für die Anpassung des JAV maßgebend.

Inwieweit auch das Gebot der verfassungskonformen Gesetzesauslegung der Annahme der Subsidiarität des ortsüblichen Entgeltes gegenüber dem tariflich festgesetzten in § 573 RVO entgegensteht, weil, wie das LSG Schleswig-Holstein (aaO) meint, darin ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 GG liege, kann nach dem oben Gesagten dahingestellt bleiben.

Unter "ortsüblichem" Arbeitsentgelt im Sinne von § 573 Abs. 2 RVO ist dasjenige Entgelt zu verstehen, das am Ort des Unternehmens für Personen mit gleichartiger Tätigkeit im Durchschnitt tatsächlich gezahlt wird. Ebenso wie bei der Bemessung des JAV nach dem Tarifvertrag der Ort des Unternehmens, an dem der Tarifvertrag gilt, maßgebend ist, (vgl. BSG 31, 38, 40; SozR Nr. 7 zu § 565 RVO aF; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. II, Stand: August 1974, S. 575; Lauterbach aaO, Anm. 6 b zu § 573 RVO) muß das auch für das "ortsübliche Entgelt" gelten. Dabei sind die Entgelte der Betriebe heranzuziehen, die innerhalb der Gemeindegrenzen liegen, in denen der Betrieb oder der Betriebsteil gelegen ist, in dem der Verletzte im Zeitpunkt des Arbeitsunfalles beschäftigt war und in denen gleichartige Tätigkeiten geleistet werden, wie sie der Verletzte ausgeübt hatte (BSG v. 4. Mai 1971 - 2 RU 82/68 -). Eine derartige geographische Abgrenzung wird dem Zweck des Ausgleichs von Nachteilen im o. g. Sinne am ehesten gerecht, weil dadurch regional bedingte, unterschiedliche Entgelte weitgehend berücksichtigt werden und der JAV damit den tatsächlichen Verhältnissen, soweit das im Rahmen des Gesetzes möglich ist, angepaßt werden kann. Im übrigen werden dadurch die notwendigen Feststellungen in der Regel auf eine verhältnismäßig geringe Zahl von Betrieben beschränkt werden können.

Zwar hat das LSG bezüglich des ortsüblichen Lohnes einen Sachverständigen gehört, der ausgeführt hat, dieser Lohn sei im Falle des Klägers höher gewesen als der tariflich festgesetzte, und es hat auch in seinen Entscheidungsgründen durch Bezugnahme auf diese Ausführungen hingewiesen. Nach seiner Rechtsauffassung kam es jedoch nur auf den Tariflohn an. Das angefochtene Urteil enthält daher insoweit keine ausreichenden Feststellungen, so daß der Senat nicht in der Sache abschließend entscheiden konnte.

Das Urteil des LSG war daher aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, damit dieses die erforderlichen Feststellungen über die Höhe des ortsüblichen Entgelts treffen kann.

Bei der erneuten Entscheidung wird das LSG auch auf die Rüge des Klägers einzugehen haben, es sei nicht hinreichend der Frage nachgegangen, wie sich die Allergie gegen Nickel und Kobaltsulfate im Hinblick auf den Umfang der auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auswirke, und deshalb sei die MdE mit 20 v. H. nicht ausreichend bewertet (wegen der für die Bewertung der MdE bei einer beruflichen Hauterkrankung maßgebenden Gesichtspunkte wird auf die Entscheidungen des erkennenden Senats in SozR Nr. 15 zu § 622 RVO und vom 29. Dezember 1974 - 8 RU 296/73 - mit weiteren Hinweisen verwiesen).

Da schon nicht feststeht, wie hoch der JAV nach § 573 Abs. 2 RVO zu bemessen ist, erübrigt es sich auf die Frage einzugehen, ob die Beklagte nach § 577 RVO den JAV nach billigem Ermessen festzustellen gehabt hätte, denn Letzteres setzt voraus, daß der nach den §§ 571 bis 576 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 271

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