Leitsatz (amtlich)

Ein Beamter des mittleren Dienstes (Verwaltungssekretär), der bei Weiterzahlung seiner beamtenrechtlichen Dienstbezüge auf den gehobenen Dienst vorbereitet wird, befindet sich während dieses Vorbereitungsdienstes nicht in einer Berufsausbildung iS des RVO § 1267 S 2 = AVG § 44 S 2 (Anschluß an BSG 1965-04-06 4 RJ 479/61 = SozR Nr 15 zu § 1267 RVO).

 

Normenkette

RVO § 1267 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 44 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. Juli 1965 und das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 11. März 1964 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger, geboren ... 1940, erhielt die Waisenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung seines Vaters über das 18. Lebensjahr hinaus, weil er sich (seit April 1958) als Verwaltungslehrling bei der Landesversicherungsanstalt (LVA) Hessen in Berufsausbildung befand. Er bestand im Februar 1962 die A-Prüfung für den mittleren Dienst, seit 1. April 1962 war er als Verwaltungssekretär (im Beamtenverhältnis) tätig; damit entfiel die Waisenrente. Im Januar 1963 wurde der Kläger von seiner Anstellungsbehörde, der LVA Hessen, mit Wirkung vom 1. April 1963 zum Vorbereitungsdienst für den gehobenen Dienst (Ablegung der B-Prüfung) zugelassen. Im April 1963 beantragte er darauf, ihm die ("verlängerte") Waisenrente wieder zu gewähren, weil er ab 1. April 1963 wieder in Berufsausbildung stehe. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 15. Juli 1963 ab; der Kläger sei für die mittlere Beamtenlaufbahn ausgebildet worden, er habe die Verwaltungsprüfung abgelegt und sei Beamter dieser Laufbahn (Verwaltungssekretär) geworden; wenn er dann später bei Zahlung seines vollen Beamtengehalts auf den gehobenen Verwaltungsdienst vorbereitet worden sei, so habe er sich nicht mehr in einer Berufsausbildung im Sinne des § 44 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) befunden.

Das Sozialgericht (SG) Kassel gab der Klage mit Urteil vom 11. März 1964 statt. Das Hessische Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 15. Juli 1965 zurück: Die Beschäftigung des Klägers (ab 1. April 1963) habe eine Ausbildung für einen Beruf und nicht die Verwertung der Arbeitskraft bezweckt; daß der Kläger bei Beginn seiner erneuten beruflichen Ausbildung schon Beamter gewesen und dann "Aufstiegsbeamter" geworden sei, sei ohne Bedeutung. Auch die Voraussetzung für die Weitergewährung der Waisenrente, daß die Waise außerstande sein müsse, sich selbst zu unterhalten, sei erfüllt; durch die Tätigkeit in der fraglichen Zeit sei die Arbeitskraft des Klägers voll in Anspruch genommen, so daß eine Erwerbstätigkeit zur gleichen Zeit unmöglich gewesen sei; daß der Kläger in dieser Zeit sein volles Gehalt als Verwaltungssekretär weiterbezogen habe, sei nicht ausschlaggebend, das Gehalt sei seinem Charakter nach nicht der Gegenwert für geleistete Dienste gewesen. Es habe danach ein Ausbildungsverhältnis im Sinne des § 44 Satz 2 AVG vorgelegen. Das LSG ließ die Revision zu.

Die Beklagte legte fristgemäß und formgerecht Revision ein und beantragte,

das Urteil des Hessischen LSG vom 15. Juli 1965 und das Urteil des SG Kassel vom 11. März 1964 aufzuheben und die Klage (gegen den Bescheid vom 15. Juli 1963) abzuweisen.

Sie rügte, das LSG habe § 44 AVG verletzt.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

II

Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist auch begründet.

Streitig ist, ob der Kläger (geb. ... 1940) für die Zeit ab 1. April 1963, also eine Zeit nach der Vollendung seines 18. Lebensjahres, Anspruch auf die ("verlängerte") Waisenrente nach § 44 Satz 2 AVG (= § 1267 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) hat. Die Entscheidung hängt davon ab, ob sich der Kläger in der Zeit seiner Vorbereitung zum gehobenen Verwaltungsdienst (bis zum Abschluß der B-Prüfung) noch in einer Berufsausbildung im Sinne des § 44 Satz 2 AVG befunden hat, obgleich er nach Abschluß seiner Ausbildung für den mittleren Dienst bereits seit April 1962 als Verwaltungssekretär tätig gewesen ist und in der Zeit seiner Vorbereitung für den gehobenen Dienst seine vollen beamtenrechtlichen Dienstbezüge als Verwaltungssekretär bezogen hat.

Die Beklagte hat den streitigen Anspruch - entgegen der Ansicht des LSG und des SG - in dem angefochtenen Bescheid vom 15. Juli 1963 zu Recht verneint; der Kläger hat sich während der Vorbereitungszeit zum gehobenen Dienst nicht mehr in einer Berufsausbildung im Sinne des § 44 Satz 2 AVG befunden.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits mehrfach entschieden, daß nicht jede Ausbildung, der sich ein Kind nach Vollendung des 18. Lebensjahres unterzieht, als Schul- oder Berufsausbildung im Sinne von § 44 Satz 2 AVG anzusehen ist. Sinn und Zweck der in § 44 Satz 2 AVG getroffenen Regelung über den "verlängerten" Anspruch auf Waisenrente gehen dahin, die Fälle zu erfassen, in denen das Kind - entgegen der angenommenen Regel - auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres noch auf elterliche Unterhaltsleistungen angewiesen ist, weil seine Ausbildung noch nicht abgeschlossen ist und es sich deshalb noch nicht selbst durch eine Erwerbstätigkeit unterhalten kann (Urt. des erkennenden Senats vom 1. Juli 1964, BSG 21, 185 mit weiteren Hinweisen). Eine Schul- oder Berufsausbildung vermag den Anspruch nach § 44 Satz 2 AVG nur dann zu begründen, wenn das Kind infolge dieser Ausbildung gehindert ist, sich selbst den ausreichenden Lebensunterhalt zu verdienen. Um eine Berufsausbildung im Sinne des § 44 Satz 2 AVG handelt es sich deshalb nicht, wenn sich die Ausbildung im Rahmen einer Erwerbstätigkeit vollzieht, die den vollen Unterhalt des Kindes sichert, so daß es neben dieser Ausbildung auf keine andere Erwerbstätigkeit zur Sicherung des Lebensunterhalts angewiesen ist. Dies ist dann der Fall, wenn - wie hier - ein Beamter des mittleren Dienstes bei voller Weiterzahlung seiner beamtenrechtlichen Dienstbezüge auf den gehobenen Dienst vorbereitet wird. Die Ausbildung, der sich der Kläger unterzogen hat, d. h. die Vorbereitung auf den gehobenen Dienst, hat ihn nicht gehindert, sein - entgeltliches - Beschäftigungsverhältnis bei seiner Anstellungsbehörde fortzusetzen und damit - wie ein anderer Beamter - seinen Lebensunterhalt sicherzustellen. Wenn der Kläger in der streitigen Zeit nicht mehr mit den "normal anfallenden Arbeiten" eines Verwaltungssekretärs befaßt gewesen ist, so bedeutet das nicht, daß das bisherige entgeltliche Beschäftigungsverhältnis des Klägers beendet gewesen ist. Der Kläger hat seine Dienstbezüge als Verwaltungssekretär nicht - wie das LSG meint - ohne Gegenleistung erhalten. Die Anstellungsbehörde hat nicht auf die Dienstleistung des Klägers "verzichtet", sie hat nur - vorübergehend - die Art seiner Beschäftigung geändert. Der Kläger hat auch mit seiner Beschäftigung zur Vorbereitung auf den gehobenen Dienst, die darin bestanden hat, daß er von Beamten des gehobenen Dienstes unterwiesen worden, auf deren Anleitung tätig gewesen ist oder an Lehrgängen teilgenommen hat, Dienst geleistet und ist für diesen Dienst besoldet worden. Die Beschäftigung des Klägers während dieses Vorbereitungsdienstes hat nicht nur seinem eigenen Interesse an einem beruflichen Aufstieg gedient, sondern auch den Interessen der Behörde, zumindest dem Interesse der Behörde daran, ihren Bedarf an qualifizierten Verwaltungskräften zu decken. Die Zahlung der Dienstbezüge während des Vorbereitungsdienstes an den Kläger hat danach nicht auf einer "Freigebigkeit" der Behörde beruht; vielmehr hat der Kläger auch während seines Vorbereitungsdienstes in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden, das ihm einen Anspruch auf seine vollen Dienstbezüge - nicht nur auf einen Unterhaltszuschuß wie bei Beamtenanwärtern - gegeben hat. Diese Dienstbezüge haben es dem Kläger ermöglicht, sich selbst zu unterhalten. Während der Unterhaltszuschuß eines Beamtenanwärters bezweckt, die wirtschaftliche Lage dieses Beamten im Vorbereitungsdienst zu erleichtern, nicht aber, jedenfalls nicht in der Regel, den Unterhalt sicherzustellen, ist es der Zweck der Dienstbezüge eines Beamten, den Lebensunterhalt zu sichern; dies gilt für einen Beamten, der für eine andere Berufslaufbahn vorbereitet wird, ebenso wie für den, der den üblichen dienstlichen Tätigkeiten nachgeht. Es schließt jedenfalls die Gewährung der vollen Dienstbezüge an einen Beamten die Annahme aus, daß sich der Empfänger noch in einer Berufsausbildung im Sinne des § 44 Satz 2 AVG befindet (so auch Urt. des BSG vom 6. April 1965, SozR Nr. 15 zu § 1267 RVO); ob das gleiche auch gilt, wenn andere Bezüge gewährt werden, die praktisch einer vollen Alimentierung gleichkommen, ist in dieser Sache nicht zu entscheiden.

Da das LSG und das SG die Sach- und Rechtslage nicht zutreffend gewürdigt haben, sind auf die Revision der Beklagten die Urteile des LSG und des SG aufzuheben; die Klage ist abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 289

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