Beteiligte

Klägerin und Revisionsbeklagte

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I.

Streitig ist, ob sich die Beklagte, soweit sie der Klägerin Witwenrente für eine zurückliegende Zeit verweigert, auf Verjährung berufen darf.

Die Klägerin hat als Witwe des am 19. Juni 1962 verstorbenen Versicherten im Oktober 1971 die Gewährung von Witwenrente beantragt. Die Beklagte hat ihr durch Bescheide vom 14. Februar 1974 die Rente bewilligt, aber erst ab November 1967, weil der Anspruch für die Zeit vom 1. Juni 1962 bis einschließlich Oktober 1967 verjährt sei. Der Widerspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, Witwenrente auch für die Zeit von Juni 1962 bis Oktober 1967 zu zahlen. Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen. Aufgrund der von der Tochter der Klägerin gemachten Zeugenaussage hat es festgestellt, daß die Klägerin nach dem Tode des Versicherten den Sachbearbeiter des Sozialamts der für sie zuständigen Gemeindeverwaltung in Löhne dreimal aufgesucht hat, um zu erfahren, ob sie Anspruch auf Witwenrente habe. Beim dritten Male hätten dem Sachbearbeiter die Unterlagen vorgelegen, die später zur Rentengewährung führten. Der Sachbearbeiter habe jedoch erklärt, daß diese für einen Anspruch auf Witwenrente nicht ausreichten; deswegen habe die Klägerin damals von einem Rentenantrag abgesehen. Hiervon ausgehend verneint das LSG zwar einen Fall des "venire contra factum proprium"; es meint jedoch, daß die Erhebung der Verjährungseinrede auch dann nicht pflichtgemäßem Ermessen entspreche, wenn die Geltendmachung des Rentenanspruches infolge von Umständen unterblieben sei, die dem Berechtigten nicht angelastet werden könnten. Dann bestehe ein besonderer Härtefall im Sinne der Rechtsprechung des Großen Senats des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 34, 1 ff.). Von einer Interesselosigkeit oder Nachlässigkeit könne hier nicht gesprochen werden; die Klägerin habe sich rechtzeitig an eine Behörde gewandt, die sie für zuständig und in Sozialfragen für vertrauenswürdig halten durfte. In einem solchen Falle bedeute die Erhebung der Verjährungseinrede "in Anbetracht des besonderen Vertrauensverhältnisses zwischen Versicherungsträger und Versichertem und schließlich sogar einer gewissen Fürsorgepflicht des Versicherungsträgers" eine unzulässige Rechtsausübung.

Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,

unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile die Klage abzuweisen.

Sie rügt eine Verletzung der §§ 205 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), 29 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Ein besonderer Härtefall liege nicht vor. Der Klägerin sei zuzumuten gewesen, einen Versicherungsträger um Auskunft zu bitten oder sogleich Rente zu beantragen. Zudem habe nicht die Beklagte die falsche Auskunft gegeben.

Die ist vor dem BSG nicht vertreten; sie ist ebenso wie die Beklagte mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Klägerin ist für die Zeit vor November 1967 keine Rente zu zahlen. Die Beklagte darf sich vielmehr insoweit auf Verjährung berufen.

Nach § 29 Abs. 3 RVO (i.V.m. § 205 AVG) verjähren Ansprüche auf Leistungen der Rentenversicherung, in vier Jahren nach Fälligkeit. Wie der Große Senat des BSG (BSG 34, 1) klar gestellt hat beginnt die Verjährungsfrist, sofern der Antrag - wie hier - keine materiell-rechtliche Bedeutung hat, mit der Entstehung des Rentenanspruches.

Die Verjährung ist allerdings nur zu berücksichtigen, wenn der Versicherungsträger die Verjährungseinrede erhebt. Ob er das tut, steht in seinem Ermessen (vgl. u.a. BSG Urteil vom 13. Februar 1969 - 12 RJ 268/66 - Breithaupt 1969, 813 ff.). Hat der Versicherungsträger die Einrede erhoben, ist nur zu prüfen, ob er "von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht" hat (§ 54 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) Wird das verneint, ist sein Verwaltungsakt insoweit rechtswidrig.

Die bisherige Rechtsprechung des BSG (12. Senat a.a.O.; auch der 5. Senat in BSG 34, 124, 127 davon gesondert geprüft, ob die Erhebung der Verjährungseinrede unter dem Gesichtspunkt des "venire contra factum proprium" ohnedies unzulässig wäre; das wurde bejaht, wenn der Versicherungsträger selbst unrichtige oder unvollständige Auskunft gegeben hatte (vgl. BSG 19, 93; 32, 61; 34, 124). Diese Rechtsprechung ist - wovon das LSG zutreffend ausgeht - für den vorliegenden Fall ohne Bedeutung, weil hier ein venire contra factum proprium (Widerspruch zu eigenem früheren Verhalten) nicht vorliegt.

Somit bleibt zu prüfen, ob die Beklagte von ihrem Ermessen fehlerhaften Gebrauch gemacht hat. Dabei ist zunächst festzustellen, daß das Gesetz (§ 29 RVO) das schon über die Möglichkeit des Versicherungsträgers schweigt, nach Ermessen über die Erhebung der Verjährungseinrede zu befinden, erst recht nichts über den Zweck dieser dem Versicherungsträger erteilten Ermächtigung aussagt. Einen Aufschluß gibt jedoch der Hinweis des Großen Senats (BSG 34, 12), daß Renten im wesentlichen dem laufenden Unterhalt dienen und die Verjährungsvorschriften in der Sozialversicherung unvorhergesehene Belastungen des Versicherungsträgers durch Nachzahlungen für weit zurückliegende Zeiten verhindern sollen. Dementsprechend ist der Versicherungsträger im Interesse der Versichertengemeinschaft und nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Verwaltung im allgemeinen gehalten, die Verjährungseinrede zu erheben. Auch ist die Geltendmachung dieses Rechts grundsätzlich nicht als unsozial anzusehen (vgl. Großer Senat, a.a.O.). Infolgedessen können nur besondere Umstände und nicht allein die mit nahezu jeder Verjährung verbundene Härte den Versicherten verbieten dem Versicherungsträger die Erhebung der Verjährungseinrede verbieten. Im Urteil vom 13. Februar 1969 dachte der 12. Senat an Gründe der "Zweckmäßigkeit, Billigkeit und Angemessenheit", welche die Berufung auf die Verjährung als "unbillige oder besondere Härte" erscheinen lassen. Auch der Große Senat hatte "besondere Härtefälle" im Auge (BSG 34, 14). Hinzuweisen ist ferner auf Ausführungen des 5. Senats (BSG 34, 124, 131), daß "andere vorrangige Gesichtspunkte" zu beachten seien. Hieraus ergibt sich zusammengefaßt, daß der Versicherungsträger von der Erhebung der Verjährungseinrede abzusehen hat, wenn sie im Einzelfall zu Unbilligkeit oder zu besonderer Härte führt.

Eine besondere Härte wird etwa angenommen werden können, wenn die Verjährungseinrede bei dem Betroffenen einen wirtschaftlichen Notstand auslöst; davon kann nach den Feststellungen des LSG hier nicht die Rede sein. Die Verjährungseinrede bedeutet im vorliegenden Fall aber auch keine grobe Unbilligkeit. Zwar hat sich die Klägerin ratsuchend an eine Stelle gewandt, von der sie eine zuverlässige Auskunft erwarten konnte. Bei der Prüfung der groben Unbilligkeit darf jedoch nicht außer Betracht bleiben, daß das Sozialamt der Gemeindebehörde weder mit dem Versicherungsträger identisch ist noch zu dessen Verantwortungsbereich gehört; dieser Gesichtspunkt ist nicht allein der Prüfung auf ein "venire contra factum proprium" vorbehalten. Die Sozialämter nehmen ihre Aufgaben als eigene wahr und sind darum für die ordnungsgemäße Wahrnehmung selbst verantwortlich. Die Beklagte hat keinen Einfluß auf die Besetzung dieser Ämter oder auf die berufliche Aus- und Fortbildung der dort Beschäftigten. Dementsprechend hat die Rechtsprechung des BSG schon in Fällen, in denen eine Gemeindebehörde als Orstbehörde für die Arbeiterrentenversicherung (Urteil vom 20. Februar 1962 - 1 RA 215/58 - nicht veröffentlicht) oder sogar das nach § 37 Abs. 1 RVO zur Einzelauskunft in Angelegenheiten der Rentenversicherung ausdrücklich berufene Versicherungsamt (Urteil vom 18. Dezember 1973 - 12 RJ 162/73 -) falsche Auskünfte erteilt hatten, dem Versicherungsträger die Erhebung der Verjährungseinrede nicht versagt. Der Senat kann es deshalb nicht als grobe Unbilligkeit bezeichnen, wenn die wegen der falschen Auskunft des Sozialamtes der Gemeinde Löhne hier nicht auf die Verjährungseinrede verzichten will. Zu einem gegenteiligen Verhalten zwingen sie nicht Vertrauens- und Fürsorgepflichten gegenüber der Klägerin wie das LSG angenommen hat. Das LSG hat hierfür keine Begründung gegeben; eine solche Verpflichtung läßt sich hier aus dem Versicherungsverhältnis allein auch nicht begründen. Im übrigen wird das Vertrauen der Klägerin gegenüber der Gemeinde auf die Richtigkeit der dort erteilten Auskunft dadurch geschützt, daß insofern die Grundsätze der Amtshaltung für behördliche Auskünfte Anwendung finden (§ 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -; vgl. auch NJW 1962, 613 ff.); die Entscheidung von Streitigkeiten hierüber obliegt jedoch nicht den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit.

An diesem Ergebnis ändert auch nichts die Amtliche Begründung zur Verjährungsvorschrift des (vor der Verabschiedung stehenden) Allgemeinen Teils des Sozialgesetzbuches - § 45 des Entwurfs - BT-Drucks. 7/868 S. 30 sowie Maier in "Die Angestelltenversicherung" 1975 Nr. 10 S. 373, 385). Darin wird in Abs. 1 erneut klargestellt, "daß im Interesse des Rechtsfriedens und der Überschaubarkeit der öffentlichen Haushalte Ansprüche auf Sozialleistungen innerhalb einer angemessenen Frist geltend gemacht werden müssen, zumal der mit den Leistungen verfolgte sozialpolitische Zweck später in der Regel nicht mehr erreicht wird". In Abs. 2 heißt, es dann: "Abs. 1 setzt in Anlehnung an § 197 BGB und einige Regelungen des Sozialrechts (z.B. § 222 Arbeitsförderungsgesetz und § 29 Abs. 3 RVO) die Verjährungsfrist einheitlich auf vier Jahre fest. Von den Vorschriften des BGB, auf die Abs. 2 verweist, ist § 222 hervorzuheben. Danach kann der Leistungsträger verweigern, aber auch Anspruch noch erfüllen, wenn er in pflichtgemäßer Ausübung seines Ermessens davon absieht, sich auf den Zeitablauf zu berufen. Dies kann z.B. der Fall sein, wenn der Leistungsberechtigte glaubhaft macht, daß er vom Vorliegen der Voraussetzungen des Anspruchs keine Kenntnis hatte. Ein solcher Fall liegt hier zwar vor, weil die Klägerin nach den Feststellungen des LSG sich infolge der falschen Auskunft in Unkenntnis über das tatsächliche Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen befand. Auch nach der amtlichen Begründung bleibt es aber dabei, daß bei derartigen Sachverhalten der Versicherungsträger in pflichtgemäßer Ermessensausübung entscheiden soll, ob er die Leistung verweigern oder unter Verzicht auf die Verjährungseinrede den Anspruch erfüllen will. Verweigert er sie in einem solchen Fall ist die gerichtliche Prüfung darauf beschränkt, ob er sich von sachlichen Erwägungen hat leiten lassen. Sind sachfremde Erwägungen - wie hier - nicht zu erkennen, dann ist die Entscheidung des Versicherungsträgers ein rechtmäßiger Verwaltungsakt. Die Gerichte dürfen Ermessensentscheidungen des Versicherungsträgers nicht durch eigene ersetzen.

Auf die Revision der Beklagten müssen somit die vorinstanzlichen Urteile aufgehoben und die Klage abgewiesen werden (§ 170 Abs. Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 279

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