Leitsatz (amtlich)

1. Im sozialgerichtlichen Verfahren ist es zulässig, einen Arzt als medizinischen Sachverständigen zu hören, der von der Anstellungsbehörde mit der Erstattung von Gutachten vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit allgemein beauftragt ist.

2. Die Gewährung rechtlichen Gehörs hat Vorrang gegenüber dem Gebot, den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Unterlassung der Benachrichtigung des Klägers von der Ladung des medizinischen Sachverständigen zum Termin ist ein Verfahrensmangel; dieser Mangel ist jedoch geheilt, wenn der im Vernehmungstermin anwesende Kläger der Vornehmung nicht widerspricht.

Die Rüge, daß ein beratender Arzt des Sozialgerichts und des Landessozialgerichts nach dem SGG nicht mehr als Sachverständiger zugezogen werden darf, ist nicht begründet.

Das Gericht darf sein Urteil nicht auf ein unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung erstattetes umfangreiches wissenschaftliches Gutachten des Sachverständigen stützen, wenn der nicht vertretene und rechtsungewandte Kläger keine Gelegenheit gehabt hat, sich zu dem Gutachten sachgerecht zu äußern.

2. Unterbleibt die Mitteilung der Ladung eines Zeugen oder Sachverständigen, so ist der Anspruch auf rechtliches Gehör zunächst gefährdet. Ist aber der Beteiligte bei der Vernehmung anwesend, und rügt er nicht die Unterlassung der Mitteilung, so konnte er sein Fragerecht ausüben und SGG §§ 116, 128 Abs 2 sind beachtet.

Die Heilung des Mangels schließt es aus, den Verstoß noch als Revisionsrüge geltend zu machen (BSGE 3 S 284, 4 S 60). SGG § 111 Abs 2 ist - ebenso wie die entsprechende Bestimmung des ZPO § 357 Abs 2 - eine Ordnungsvorschrift, auf deren Einhaltung verzichtet werden kann. Sie dient ebenso wie SGG § 116 und § 128 Abs 2 dazu, den Beteiligten das rechtliche Gehör zu sichern.

 

Normenkette

SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 106 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 116 Fassung: 1953-09-03, § 111 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 118 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 357 Abs. 2 Fassung: 1950-09-12

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 16. August 1957 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger beantragte 1950 Versorgung wegen eines rechtsseitigen Leistenbruchs, den er sich in englischer Kriegsgefangenschaft durch schwere Erdarbeiten in Belgien zugezogen habe. 1952 machte er Verschlimmerung des Bruchleidens geltend. Die Versorgungsbehörden lehnten den Antrag ab, weil der Leistenbruch auf anlagebedingter Bindegewebsschwäche beruhe. Das Sozialgericht (SG.) verurteilte den Beklagten, den Leistenbruch als Versorgungsleiden im Sinne richtunggebender Verschlimmerung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) unter 25 v. H. anzuerkennen. Das SG. folgte hierbei dem Gutachten des Prof. Dr. D, Berlin, der die Unterernährung des Klägers während der Kriegsgefangenschaft als wesentliche Teilursache für den Bruch ansah. Er schätzte die MdE. ab Antrag auf 20 v. H., ab 1. Dezember 1953 auf 10 v. H. Das Landessozialgericht (LSG.) hörte nochmals Prof. Dr. D, der an seiner Auffassung festhielt. Es vernahm ferner in der mündlichen Verhandlung den "beratenden Arzt beim Sozialgericht und Landessozialgericht Berlin", Dr. N, ohne den Kläger in der Ladung zum Termin auf die beabsichtigte Vernehmung hinzuweisen. Bei der Vernehmung war der Kläger anwesend. Das LSG. hob mit Urteil vom 16. August 1957 das Urteil des SG. auf und wies die Klage ab. Es stützte seine Entscheidung im wesentlichen auf das Gutachten von Dr. N. Danach beruhe die Gesundheitsschädigung des Klägers nicht auf einem Gewaltbruch, sondern auf einer Bruchanlage. Die Abmagerung sei nicht wesentliche Teilursache hierfür. Das LSG. ließ die Revision nicht zu.

Mit der Revision rügte der Kläger Verletzung der §§ 62, 111 Abs. 2, 118 mit 224 Abs. 3 Nr. 1, sowie 128 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Er trug vor: Zu dem zehn Maschinenseiten langen Gutachten des medizinischen Sachverständigen Dr. N habe er ohne eigenen Sachverständigen in der Verhandlung nicht Stellung nehmen können. Das Fehlen eines Hinweises in der Terminsladung sei eine Verletzung seines Rechts auf Gehör. Die Zuziehung des beratenden Arztes widerspreche überdies dem Verfahren nach dem SGG. § 224 Abs. 3 Nr. 1 SGG habe das frühere Verfahren der Reichsversicherungsordnung (RVO) und daher auch § 1686 RVO, der die Wahl bestimmter Ärzte als Sachverständige für die Oberversicherungsämter regelte, aufgehoben. Der Gesetzgeber habe damit bewußt der Gefahr begegnen wollen, daß sich die beratenden Ärzte im sozialgerichtlichen Verfahren infolge ihrer Spezialisierung nicht auf die Beantwortung medizinischer Fragen beschränkten, sondern auch in die dem Richter allein vorbehaltene Entscheidung über Rechtsfragen eingriffen. Für einen Sachverständigen "des Gerichts" sei jetzt kein Raum mehr. Der Kläger beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Sie ist auch statthaft, weil der Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel mit Erfolg rügt (§ 164 Abs. 1 Nr. 2 SGG).

Das LSG. durfte entgegen der Auffassung der Revision Dr. N als Sachverständigen hören. § 1686 RVO a. F., der die Wahl der medizinischen Sachverständigen der Oberversicherungsämter betraf, ist zwar durch § 224 Abs. 3 Nr. 1 SGG mit der Aufhebung der §§ 1636-1734 RVO beseitigt worden. Unter den aufgehobenen Vorschriften der RVO finden sich indes viele Bestimmungen, die im SGG wieder Aufnahme gefunden haben (vgl. §§ 1641, 1653, 1657, 1664, 1673, 1681 RVO a. F. mit §§ 60, 61, 105, 107, 109, 138 SGG). § 118 Abs. 1 SGG, der die Beweisaufnahme betrifft, verweist auf § 404 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO). Diese Vorschrift lautet: "Sind für gewisse Arten von Gutachten Sachverständige öffentlich bestellt, so dürfen andere Personen nur dann gewählt werden, wenn besondere Umstände es erfordern". Öffentlich bestellt im Sinn dieser Vorschrift sind beispielsweise die Gerichtsärzte nach dem Preußischen Gesetz vom 16. September 1899 (GS. S. 172) oder die Landgerichtsärzte in Bayern nach dem Gesetz über den gerichtsärztlichen Dienst vom 27. Juli 1950 (GVBl. S. 110) und der Verordnung vom 6. Oktober 1950 (GVBl. S. 213), weitere Beispiele bei Wieczorek, ZPO § 404 B I. Nach der amtlichen Auskunft des Präsidenten des LSG. Berlin stand Dr. N im Zeitpunkt seiner Vernehmung im öffentlich-rechtlichen Angestelltenverhältnis zur Stadt Berlin; sein Dienstherr war der Senator für Inneres in Berlin. Er war mit der medizinischen Beratung der Berliner Sozialgerichte beauftragt. Es kann dahingestellt bleiben, ob dieses öffentlich-rechtliche Angestelltenverhältnis, verbunden mit dem Auftrag zur medizinischen Beratung, als öffentliche Bestellung zum Sachverständigen im Sinn des § 404 Abs. 2 ZPO anzusehen ist. Jedenfalls ist aus der vom Gesetz vorgeschriebenen Bevorzugung von Sachverständigen, die öffentlich bestellt sind, zu entnehmen, daß der vom Staat oder von einer von diesem ermächtigten Stelle erteilte Auftrag zur Sachverständigentätigkeit eher für als gegen die Objektivität solcher Gutachter spricht und daß diesen Gutachtern unbedenklich auch die Gutachtertätigkeit vor Gericht anvertraut werden kann. Der abweichenden Ansicht von Peters-Sautter-Wolff, SGG § 118 Anm. 4 c Abs. 2 vermag der Senat nicht zu folgen. Es ist nicht einzusehen, daß ein von den Sozialgerichten regelmäßig zugezogener ärztlicher Sachverständiger in höherem Grade als ein für den Einzelfall bestimmter Sachverständiger der Gefahr erliegen könnte, bei Erstattung seines Gutachtens der richterlichen Entscheidung vorzugreifen. In jedem Fall ist es Aufgabe des Richters, schon durch seine Fragestellung Äußerungen des Sachverständigen zu unterbinden, die zur Beurteilung der Rechtsfragen gehören. Diese Verfahrensrüge der Revision greift daher nicht durch.

Das LSG. hat zwar, wie der Kläger zutreffend rügt, § 111 Abs. 2 SGG verletzt, da es den Beteiligten die Ladung des ärztlichen Sachverständigen Dr. N bei der Mitteilung des Verhandlungstermins nicht bekanntgegeben hat. Dieser Verfahrensmangel ist jedoch nach § 295 Abs. 1 ZPO, § 202 SGG geheilt, weil der Kläger bei der Vernehmung des Sachverständigen anwesend war und den Mangel in der darauf folgenden mündlichen Verhandlung nicht gerügt hat. § 111 Abs. 2 SGG ist - ebenso wie die entsprechende Bestimmung des § 357 Abs. 2 ZPO - eine Ordnungsvorschrift, auf deren Einhaltung verzichtet werden kann (Baumbach ZPO, 25. Aufl., § 295 Anm. 2 A). Sie dient ebenso wie die §§ 116 und 128 Abs. 2 SGG dazu, den Beteiligten das rechtliche Gehör zu sichern. Unterbleibt die Mitteilung der Ladung eines Zeugen oder Sachverständigen, so ist der Anspruch auf rechtliches Gehör zunächst gefährdet. Ist aber der Beteiligte bei der Vernehmung anwesend, und rügt er nicht die Unterlassung der Mitteilung, so konnte er sein Fragerecht ausüben und die §§ 116, 128 Abs. 2 SGG sind beachtet. Die Heilung des Mangels schließt es aus, den Verstoß noch als Revisionsrüge geltend zu machen (BSG. 3 S. 284, 4 S. 60).

Die Statthaftigkeit der Revision ergibt sich indes aus einer andersgearteten, gleichfalls von der Revision gerügten Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz - GG -). Nach § 128 Abs. 2 SGG darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Das rechtliche Gehör ist schon dann verletzt, wenn sich die Beteiligten von dem ihnen durch den Vortrag des Berichterstatters bekannt gewordenen Beweisergebnissen kein klares Bild machen konnten (BSG. 4 S. 60) oder wenn ein Antrag auf Terminsänderung abgelehnt wird, obwohl sich der Antragsteller zu einem Vorbringen der Gegenseite infolge Zeitmangels nicht mehr äußern konnte (BSG. 11 S. 165 und SozR. SGG § 62 Bl. Da 2 Nr. 6 und Bl. Da 3 Nr. 11). Der Kläger rügt mit Recht, es sei ihm nicht ausreichend rechtliches Gehör gewährt worden, weil er zu dem umfangreichen Vortrag des Sachverständigen noch vor Urteilsverkündung als Laie nicht Stellung nehmen konnte. Da der Sinn des rechtlichen Gehörs nicht allein darin liegt, eine erschöpfende Aufklärung des Sachverhalts zu ermöglichen, sondern auch darin, die Würde der Rechtsgenossen zu wahren (vgl. BVerfG. in NJW. 1958 S. 665), genügt es nicht, den Beteiligten nur die theoretische Möglichkeit zu geben, zu einem Beweisergebnis Stellung zu nehmen. Es ist ihnen vielmehr eine Zeitspanne einzuräumen, die es zuläßt, daß sie sich von dem Beweisergebnis ein klares Bild machen und entsprechend der Art des Beweisergebnisses angemessen dazu Stellung nehmen können (BVerfGE. Bd 4 S. 190). Hier konnte sich der Kläger in der nach Vernehmung des Sachverständigen zur Verfügung stehenden kurzen Zeit vor Schluß der mündlichen Verhandlung nicht sachgerecht zu dem umfangreichen gerichtsärztlichen Gutachten äußern. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger dem Gutachten in allen wesentlichen Punkten folgen und erkennen konnte, aus welchen Gründen ein ursächlicher Zusammenhang des Leistenbruchs mit den Einwirkungen der Kriegsgefangenschaft fehlte und ob andererseits eine hochgradige Abmagerung für die Bruchbildung von wesentlicher Bedeutung sein konnte. Dem Kläger war es jedenfalls als Laien nicht möglich, seine Bedenken gegen das Gutachten mit medizinisch-wissenschaftlicher Begründung vorzubringen. Diese Lage des Klägers konnte dem LSG. nicht verborgen bleiben. Der Kläger hätte gemäß § 106 Abs. 1 SGG darüber belehrt werden müssen, daß er die Einräumung einer Frist zur Stellungnahme beantragen könne. Gegenüber der Vorschrift, das Verfahren möglichst in einer mündlichen Verhandlung abzuschließen (§ 106 Abs. 2 SGG), gebührt dem Erfordernis des rechtlichen Gehörs aus rechtsstaatlichen Gründen der Vorrang. Dem Kläger kann mit Rücksicht auf seine Unkenntnis des Verfahrens auch nicht der Vorwurf gemacht werden, er habe es versäumt, sich rechtliches Gehör zu verschaffen (BSG. 7 S. 209). Der Verstoß gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs ist nicht heilbar (RGZ. 93, 152 und Stein-Jonas, Komm. z. ZPO, 18. Aufl., § 295 Anm. II 2 a). Das LSG. durfte somit das gerichtsärztliche Gutachten nicht zur Urteilsgrundlage machen, ohne dem Kläger vorher ausreichend Zeit zu einer dem Umfang des Gutachtens entsprechenden Stellungnahme zu lassen. Die Verwertung des Gutachtens verstößt daher gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 62 SGG). Gleichzeitig hat das LSG. § 128 Abs. 2 SGG verletzt. Dieser Verfahrensmangel ist wesentlich und macht die Revision des Klägers statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).

Das angefochtene Urteil beruht auf dem mit Erfolg gerügten Verfahrensmangel, weil nicht auszuschließen ist, daß es anders ausgefallen wäre, wenn das LSG. sich nicht auf das gerichtsärztliche Gutachten gestützt hätte oder wenn der Kläger Gelegenheit gehabt hätte, zu dem gerichtsärztlichen Gutachten sachgerecht Stellung zu nehmen (§ 162 Abs. 2 SGG). Die Revision ist daher auch begründet (BSG. 2 S. 197), weshalb das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen aufzuheben war.

Da die tatsächlichen Feststellungen des LSG. wegen des vorliegenden Verfahrensmangels nicht Urteilsgrundlage sein können, fehlen dem Senat die zur Entscheidung in der Sache selbst notwendigen Feststellungen. Der Senat mußte daher die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2149312

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