Orientierungssatz

1. Die freiwillig und unentgeltlich unternommene Hilfe der Ehefrau eines SPD-Mitgliedes beim Aufräumen einer für die Maifeier der SPD benutzten Turnhalle ist eine Tätigkeit, die ihrer Art nach sonst von Personen verrichtet werden könnte, die in einem dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis stehen. Die Voraussetzungen für den Versicherungsschutz nach RVO § 539 Abs 2 iVm RVO § 539 Abs 1 Nr 1 sind demnach gegeben.

2. Für die rechtliche Beurteilung der verrichteten, dem allgemeinen Erwerbsleben zugänglichen ernstlichen Arbeitsleistung ist es unerheblich, ob die in derselben Weise tätig gewordenen SPD-Mitglieder aufgrund ihrer Mitgliedschaft zur Mitwirkung bei den Aufräumungsarbeiten verpflichtet waren. Entscheidend ist vielmehr, daß die Klägerin nicht eine ihr obliegende Mitgliedschaftspflicht erfüllt, sondern sich wie ein aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses hierzu verpflichteter Versicherter nach RVO § 539 Abs 1 Nr 1 an den Aufräumungsarbeiten beteiligt hat.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1963-04-30, Abs. 2 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 19.03.1975; Aktenzeichen L 2 Ua 603/73)

SG Mannheim (Entscheidung vom 21.03.1973; Aktenzeichen S 5 U 953/72)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. März 1975 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin, die als kaufmännische Angestellte in einem Motorenwerk beschäftigt war, besuchte am 30. April 1969 zusammen mit ihrem Ehemann, der Mitglied der SPD ist, eine vom SPD-Stadtbezirk M in der Turnhalle eines Sportvereins veranstaltete Maifeier. Nach Beendigung der Feier beteiligten sich die Klägerin wie auch andere Gäste, hauptsächlich aber Mitglieder des SPD-Stadtbezirks, freiwillig an den Aufräumungsarbeiten, zu denen der SPD-Stadtbezirk als Veranstalter gegenüber dem Sportverein verpflichtet war. Als die Klägerin - gegen 2 Uhr am 1. Mai 1969 - auf einem Tisch stehend Stühle zur Empore der Turnhalle hoch reichte, stürzte sie zu Boden und zog sich dabei einen Bruch des rechten Fersenbeins zu.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 1. Februar 1972 eine Entschädigung ab und führte zur Begründung aus: Bei der unentgeltlich und ohne Auftrag ausgeübten Gefälligkeitsleistung für die SPD habe es sich um eine Tätigkeit gehandelt, die von Partei- und Vereinsmitgliedern, erforderlichenfalls auch von deren Angehörigen, aufgrund der Vereinsmitgliedschaft erbracht worden sei; hierbei bestehe kein Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO).

Das Sozialgericht (SG) Mannheim hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 14. Juni 1969 bis zum 29. Oktober 1970 Verletztengeld und für die Folgezeit Verletztenrente von 30 v. H. der Vollrente zu zahlen (Urteil vom 21. März 1973). Es hat angenommen, die Klägerin sei als Nichtmitglied der SPD bei den Aufräumungsarbeiten wie ein nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO Versicherter tätig geworden (§ 539 Abs. 2 RVO). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß Verletztengeld erst vom 16. Juni 1969 an zu gewähren ist (Urteil vom 19. März 1975). Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Mithilfe der Klägerin bei den Aufräumungsarbeiten sei eine ernstliche, dem SPD-Stadtbezirk dienende und dessen Willen entsprechende Arbeitstätigkeit gewesen. Es könne dahingestellt bleiben, ob der Ehemann der Klägerin ausschließlich aufgrund seiner Mitgliedschaftspflichten im SPD-Stadtbezirk bei den Aufräumungsarbeiten mitgewirkt habe, denn die Klägerin sei nicht Mitglied des SPD-Stadtbezirks. Zwar sei die Klägerin wie ein SPD-Mitglied tätig geworden, sie habe sich mit den SPD-Mitgliedern solidarisiert. Diese Solidarisierung habe jedoch die Tätigkeit der Klägerin nicht derart geprägt, daß sie der Tätigkeit eines Mitglieds gleichzusetzen sei. Der entscheidende Unterschied liege darin, daß die Klägerin freiwillig, aus ideellen Gründen und ohne rechtliche Verpflichtung geholfen und es sich daher um eine arbeitnehmerähnliche, nicht um eine mitgliedschaftliche Tätigkeit gehandelt habe.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Nach ihrer Ansicht ist die Tätigkeit der Klägerin maßgeblich durch den Zusammenhang mit der aus der Vereinszugehörigkeit sich ergebenden und deshalb unversicherten Beteiligung der SPD-Mitglieder an den Aufräumungsarbeiten gekennzeichnet. Die Solidarisierung mit den SPD-Mitgliedern habe die Mithilfe der Klägerin geprägt. Die Klägerin sei daher nicht wie ein nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO Versicherter tätig geworden.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung der angefochtenen Urteile die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision ist nicht begründet.

Das LSG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, daß die Klägerin bei den Aufräumungsarbeiten, die zu dem Unfall führten, wie ein nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO Versicherter tätig geworden ist und daher nach § 539 Abs. 2 RVO unter Versicherungsschutz gestanden hat. Die freiwillig und unentgeltlich unternommene Hilfe beim Aufräumen der für die Maifeier benutzten Turnhalle war eine ernstliche, dem SPD-Stadtbezirk als dem Veranstalter und für das Aufräumen Verantwortlichen dienende Tätigkeit, die dessen wirklichem oder jedenfalls mutmaßlichem Willen entsprach. Es handelte sich um eine Tätigkeit, die ihrer Art nach sonst von Personen verrichtet werden könnte, die in einem dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis stehen. Die Voraussetzungen, unter denen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 2 iVm Abs. 1 Nr. 1 RVO besteht, sind demnach gegeben (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl., Band II, S. 476 ff mit zahlreichen Nachweisen).

Die Ansicht der Beklagten, die Klägerin sei als Nichtmitglied "wie ein Mitglied" der SPD und nicht wie ein nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO Versicherter tätig geworden, sie habe deshalb nicht unter Versicherungsschutz gestanden, ist unzutreffend. Sie läßt sich insbesondere entgegen dem Revisionsvorbringen nicht auf entsprechende tatsächliche Feststellungen des LSG gründen. Das LSG hat zwar ua ausgeführt (S. 10 des Urteils), die Klägerin sei "wie ein SPD-Mitglied" tätig geworden, sie habe sich mit den SPD-Mitgliedern solidarisiert, ihre Sonderstellung als Gast der Veranstaltung aufgegeben und freiwillig die Pflichten eines Mitglieds des die Veranstaltung tragenden Vereins auf sich genommen. Insoweit enthält das angefochtene Urteil jedoch keine das BSG bindenden tatsächlichen Feststellungen (§ 163 SGG), sondern eine rechtliche Wertung, die das LSG zudem zutreffend dahin ergänzt hat, daß es sich ihrer Art nach um eine arbeitnehmerähnliche und nicht um eine mitgliedschaftliche Tätigkeit der Klägerin gehandelt habe. Nach den unangegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG ist die Klägerin als Gast nach dem Ende der Maifeier beim Aufräumen der für die Maifeier benutzten Turnhalle ebenso tätig geworden, wie dies der veranstaltende SPD-Bezirk insbesondere von seinen Mitgliedern erwartete. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Mitglieder des SPD-Bezirks - darunter der Ehemann der Klägerin - bei ihrer gleichartigen Tätigkeit unter Versicherungsschutz gestanden haben. Die Revision geht zwar zutreffend davon aus, daß für ein Arbeits- oder Dienstverhältnis (§ 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO) und damit auch für die Anwendung des § 539 Abs. 2 iVm Abs. 1 Nr. 1 RVO kein Raum ist, wenn eine ihrer Art nach dem allgemeinen Erwerbsleben zugängliche Tätigkeit ausschließlich aufgrund mitgliedschaftlicher oder ähnlicher Verpflichtungen ausgeübt wird (vgl. Brackmann aaO S. 476 f, 476 f II, 476 g und h mit Nachweisen). Falls aber die an der Veranstaltung beteiligten SPD-Mitglieder lediglich aufgrund mitgliedschaftlicher Verpflichtung beim Aufräumen der Turnhalle mitgewirkt und deshalb keine versicherte Tätigkeit verrichtet haben, so folgt daraus nicht, daß die Klägerin ebenfalls nicht unter Versicherungsschutz stand. Für die rechtliche Beurteilung der von der Klägerin verrichteten, dem allgemeinen Erwerbsleben zugänglichen ernstlichen Arbeitsleistung ist es unerheblich, ob die in derselben Weise tätig gewordenen SPD-Mitglieder aufgrund ihrer Mitgliedschaft zur Mitwirkung bei den Aufräumungsarbeiten verpflichtet waren. Entscheidend ist vielmehr, daß die Klägerin nicht eine ihr obliegende Mitgliedschaftspflicht erfüllt, sondern sich wie ein aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses hierzu verpflichteter Versicherter nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO an den Aufräumungsarbeiten beteiligt hat.

Die Feststellungen des LSG zur Beendigung der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin, zum Zeitpunkt, bis zu dem der Klägerin das Arbeitsentgelt nach dem Unfall von ihrem Arbeitgeber gezahlt worden ist, sowie zur Höhe der durch den Unfall bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit sind von der Revision nicht angegriffen, vielmehr sogar ausdrücklich als zutreffend bezeichnet worden.

Die Revision der Beklagten ist danach zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653413

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