Leitsatz (amtlich)

1. Kann der Beschädigte wegen der Schädigungsfolgen zwar nicht mehr den gleichen Beruf wie vor der Schädigung ausüben, wohl aber einen sozial gleichwertigen Beruf, so ist damit der "Ausgleich" geschaffen, der die "besondere" Berücksichtigung des früheren Berufs - über die Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben hinaus - ausschließt.

2. Sozial gleichwertig ist ein Beruf, der sich in gleichem Maße wie der frühere Beruf aus dem allgemeinen Erwerbsleben heraushebt; nicht sozial gleichwertig ist in der Regel jedenfalls der Beruf, der zu einer erheblichen wirtschaftlichen Einbuße führt (Fortführung BSG 1959-06-11 11/10 RV 216/57 = BSGE 10,69).

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1956-06-06

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts von 10. Oktober 1957 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger, geboren 1910, war vor dem Weltkrieg Installateur. Als Soldat erhielt er im Oktober 1943 einen Schuß durch die rechte Schulter, im August 1944 wurde er als dienstuntauglich entlassen. Vom 1. Februar 1947 an bewilligte ihm das Versorgungsamt Nürnberg durch zwei Bescheide vom 9. Januar 1953 Rente, zunächst nach dem (Bayerischen) Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG), vom 1. Oktober 1950 an nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Die Rente wurde für die Zeit vom 1. Februar 1947 an nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 50 v.H., vom 1. Dezember 1952 an nach einer MdE. um 40 v.H. gewährt; als Schädigungsfolgen wurden anerkannt: "1. Teilversteifung des rechten Schultergelenkes nach Durchschuß und Abbruch des Endes der rechten Schulterblattgräte, 2. Streckbehinderung der Finger vier und fünf rechts infolge Nervenschädigung nach Schulterdurchschuß". Der Kläger legte Berufung (alten Rechts) ein; nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) wurde diese Berufung als Klage weiterbehandelt. Der Kläger machte geltend, es stehe ihm Rente weiterhin nach einer MdE. um 50 v.H. zu; durch die Folgen der Verwundung sei er als Bauflaschnergeselle beruflich besonders betroffen. Das Sozialgericht (SG.) Nürnberg änderte durch Urteil vom 3. Februar 1954 den Bescheid vom 9. Januar 1953 ab und verurteilte den Beklagten, auch über den 1. Dezember 1952 hinaus die Rente nach einer MdE. um 50 v.H. weiterzugewähren. Auf die Berufung des Beklagten hob das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) durch Urteil vom 10. Oktober 1957 das Urteil des SG. auf und wies die Klage ab: Der Kläger sei vor der Einberufung Installateur gewesen, für diese Tätigkeit wirkten sich die Folgen seiner Verwundung nicht nachteiliger aus als im allgemeinen Erwerbsleben; auch als Bauflaschner sei der Kläger beruflich nicht besonders betroffen (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG), er entspreche beruflich den an ihn gestellten Anforderungen und erhalte den vollen Tariflohn; es sei nicht richtig, daß er diesen Lohn nur dem sozialen Verständnis seines Arbeitgebers verdanke; der Grad der MdE. sei mit 40 v.H. richtig bewertet. Das LSG. ließ die Revision zu; es sei eine grundsätzliche Frage, "ob eine besondere Berufsberücksichtigung nur dann gerechtfertigt ist, wenn sich die Schädigungsfolgen auch praktisch nachteilig auswirken". Das Urteil wurde dem Kläger am 7. Januar 1958 zugestellt. Am 6. Februar 1958 legte der Kläger Revision ein; er beantragte,

das Urteil des Bayerischen LSG. vom 10. Oktober 1957 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger über den 1. Dezember 1952 hinaus Rente aus einer MdE. von 50 v.H. zu gewähren,

hilfsweise,

die Sache zu neuer Entscheidung an das Bayerische LSG. zurückzuverweisen.

Am 6. März 1958 begründete er die Revision: Nach § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG sei der Grad der MdE., der im allgemeinen Erwerbsleben mit 40 v.H. zu bewerten sei, mit 50 v.H. zu bewerten; er könne Arbeiten am Dach, die entgegen der Meinung des LSG. in seinem Beruf häufig vorkämen, nicht mehr ausführen, er werde nur wegen des sozialen Verständnisses seines Arbeitgebers zu solchen Arbeiten nicht mehr herangezogen; wenn er trotzdem als tüchtige Arbeitskraft zum ersten Gesellen aufgestiegen sei und den vollen Tariflohn bekomme, verdanke er dies besonderer persönlicher Anstrengung, damit seien oft Schmerzen verbunden. Er habe auch dauernd Angst, möglicherweise durch einen Unfall seine jetzige Arbeitsstelle und damit seine Existenz zu verlieren, diese seelischen Begleiterscheinungen habe das LSG. zu Unrecht nicht berücksichtigt.

Der Beklagte beantragte,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II

Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Der Kläger hat die Revision auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet, sie ist daher zulässig. Die Revision ist jedoch nicht begründet.

Die Statthaftigkeit der Berufung gehört zu den Prozeßvoraussetzungen, die im öffentlichen Interesse zu beachten und der Verfügung der Beteiligten entzogen sind; sie ist daher bei einer zulässigen Revision von Amts wegen zu prüfen. Das LSG. hat die Berufung des Beklagten zu Recht für statthaft gehalten. Zwar hat das Urteil des SG. lediglich entschieden, ob die MdE. des Klägers deshalb höher zu bewerten ist, weil er durch die Schädigungsfolgen beruflich besonders betroffen sei (§ 30 Abs. 1 BVG), es hat damit lediglich den Grad der MdE. betroffen (§ 148 Nr. 3 SGG aF.; Urteil des Bundessozialgerichts -BSG.- vom 28.4.1960 - 8 RV 5/59 -); die Berufung ist jedoch im vorliegenden Falle deshalb statthaft gewesen, weil vom Grade der MdE. die Schwerbeschädigteneigenschaft abhängig ist. Das LSG. hat daher zu Recht ein Sachurteil erlassen. Dieses Urteil ist auch sachlich richtig.

Nach § 30 Abs. 1 BVG in der Fassung vor der Bekanntmachung vom 6. Juni 1956 (BGBl. I S. 469, 673 -a.F.-) ist die MdE. nach der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen, dabei ist der vor der Schädigung ausgeübte Beruf zu berücksichtigen. Nach § 30 Abs. 1 BVG n.F. ist der Grad der MdE., der grundsätzlich nach der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen ist, höher zu bewerten, wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten Beruf besonders betroffen wird, es sei denn, daß zumutbare arbeits- und berufsfördernde Maßnahmen im Sinne des § 26 BVG einen Ausgleich bieten. Sowohl nach der alten wie nach der neuen Fassung des § 30 Abs. 1 BVG ist damit der im Einzelfall "speziell" ausgeübte Beruf dann "besonders" zu berücksichtigen, wenn die Berücksichtigung der Körperschäden nach allgemeinen Grundsätzen, also für das allgemeine Erwerbsleben nicht ausreicht, um die Nachteile auszugleichen, die dem Beschädigten in dem speziell ausgeübten Beruf aus der Versehrtheit erwachsen sind (vgl. van Nuis-Vorberg, Das Recht der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen, IV. Teil S. 17). Kann der Beschädigte zwar nicht mehr den bisherigen Beruf, wohl aber einen sozial gleichwertigen Beruf ausüben, so ist damit der "Ausgleich" geschaffen, der die besondere Berücksichtigung des früher ausgeübten Berufs - über die Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben hinaus - ausschließt. Daß ein solcher "Ausgleich" zu beachten ist, wenn er durch "zumutbare arbeits- und berufsfördernde Maßnahmen" im Sinne des § 26 BVG erzielt werden kann, ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG, 2. Halbsatz. Der Gesichtspunkt des "Ausgleichs" ist um so mehr erheblich, wenn der Beschädigte auch ohne solche Maßnahmen auf einen sozial gleichwertigen Beruf verwiesen werden kann (vgl. auch Verwaltungsvorschriften zu §§ 29, 30 BVG Abs. 2 unter Buchstabe a).

Das LSG. hat festgestellt, daß der Kläger vor seiner Verwundung den Beruf eines Installateurs ausgeübt hat und daß durch die Folgen seiner Verwundung seine Erwerbsfähigkeit im allgemeinen Erwerbsleben um 40 v.H. gemindert ist. Das LSG. hat weiter festgestellt, daß der Kläger seit Kriegsende als Flaschnergehilfe tätig ist, und zwar seit 1950 in einer Bauflaschnerei, daß er Arbeiten am Dach und auf Leitern infolge seiner Verwundung nicht verrichten kann und vorwiegend in der Werkstatt mit leichterer Arbeit beschäftigt wird, daß er ununterbrochen voll beschäftigt ist, den Tariflohn erhält und als erster Geselle gegenüber den anderen Flaschnergehilfen eine hervorgehobene Stellung hat. Gegen diese Feststellungen sind Revisionsrügen nicht geltend gemacht, sie sind daher für das BSG. bindend (§ 163 SGG). Das LSG. hat hieraus zutreffend den Schluß gezogen, daß der Kläger durch die Art der Schädigung in dem vor der Schädigung ausgeübten Beruf nicht "besonders" betroffen ist. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger den Beruf eines Installateurs, den er vor der Schädigung gehabt hat, nicht mehr oder nur noch mit Einschränkungen ausüben kann. Er ist in diesem Beruf jedenfalls deshalb beruflich nicht besonders betroffen, weil er einen sozial gleichwertigen Beruf ausübt. Sozial gleichwertig ist der Beruf, der sich in gleichem Maße wie der frühere Beruf aus dem allgemeinen Erwerbsleben heraushebt; nicht sozial gleichwertig ist in der Regel jedenfalls der Beruf, der gegenüber dem früheren Beruf zu einer erheblichen wirtschaftlichen Einbuße führt (vgl. van Nuis-Vorberg a.a.O. S. 25, ferner die Hinweise auf Rechtsprechung und Literatur zu § 30 Abs. 1 BVG a.F. a.a.O. S. 21 ff.; Wilke, "Die Kriegsopferversorgung" 1956 S. 1 f und "Der Versorgungsbeamte" 1955 S. 113 ff.; Tichy, VdK-Mitteilungen 1957 195 ff.; BSG. 10 S. 69 ff. mit weiteren Hinweisen; Urteil des BSG. vom 18.2.1959 - 11/9 RV 1256/56 -). Der Kläger hat selbst nicht behauptet und das LSG. hat nicht festgestellt, daß die Tätigkeit des Klägers als Bauflaschner der Tätigkeit eines Installateurs sozial nicht gleichwertig sei; daß dies nicht der Fall ist, entspricht auch der allgemeinen Lebenserfahrung. Der Grad der MdE. des Klägers ist aber auch nicht deshalb höher zu bewerten, weil nach § 30 AbS. 1 Satz 1 BVG n.F. "seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen in ihrer Auswirkung zu berücksichtigen" sind und nach der Verwaltungsvorschrift Nr. 5 zu §§ 29, 30 BVG a.F. davon auszugehen ist, daß sie auch nach der früheren Fassung des § 30 Abs. 1 zu berücksichtigen gewesen sind. Das LSG. hat nicht festgestellt, daß der Kläger an seelischen Begleiterscheinungen leidet, der Sachverhalt hat hierzu keinen Anlaß gegeben, der Kläger hat auch mit der Revision nicht gerügt, das LSG. habe gegen Verfahrensvorschriften verstoßen, wenn es solche seelischen Begleiterscheinungen nicht festgestellt habe, er hat überhaupt erst in der Revisionsinstanz geltend gemacht, er könne die normale Arbeitsleistung und das normale Arbeitsentgelt nur unter erheblichen Schmerzen erzielen und er lebe in ständiger Angst vor einem Unfall und vor dem etwaigen Verlust seiner Existenz. Das BSG. ist jedoch an die Tatsachenfeststellungen des LSG. auch insoweit gebunden, als das LSG. bestimmte Tatsachen, die für den Anspruch, des Klägers auf Versorgung erheblich sind, nicht hat feststellen können; das BSG. darf nicht selbst Tatsachen feststellen. Abgesehen davon sind aber auch nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG n.F. seelische Begleiterscheinungen "in ihrer Auswirkung" zu berücksichtigen, also nur dann, wenn sie sich im konkreten Fall für das Erwerbsleben bemerkbar machen, nicht etwa ohne Rücksicht auf ihre Bedeutung für das Erwerbsleben (vgl. BSG. 8 S. 209 ff. [214/215]); daß solche Auswirkungen etwaiger seelischer Begleiterscheinungen vorliegen, hat der Kläger in den Tatsacheninstanzen selbst nicht behauptet.

Da der Beklagte in dem angefochtenen Bescheid den Grad der MdE. vom 1. Dezember 1952 an sonach zu Recht mit 40 v.H. bewertet hat, hat das SG. diesen Bescheid zu Unrecht aufgehoben; das LSG. hat zu Recht auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG. aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 212

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