Entscheidungsstichwort (Thema)

Schülerunfallversicherung

 

Leitsatz (amtlich)

Gehört der Beichtunterricht - nach irrevisiblem Landesrecht - zum Unterricht an allgemeinbildenden Schulen, so steht der Schüler auf dem Weg zur Teilnahme an dem im Pfarrhaus stattfindenden Beichtunterricht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.

 

Leitsatz (redaktionell)

Schüler allgemeinbildender Schulen stehen beim Besuch des Schulunterrichts und anderer schulischer Veranstaltungen auch unter Versicherungsschutz nach RVO § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b, wenn der Unterricht oder die Schulveranstaltung nicht im Schulgebäude stattfindet.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b Fassung: 1971-03-18, § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 550 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. Juli 1974 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat den Klägern auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der im Mai 1963 geborene Schüler S K verunglückte tödlich am 21. Januar 1972 auf dem Weg von der elterlichen Wohnung in W zum katholischen Beichtunterricht im Pfarrhof G. Die Kläger begehren als Eltern des Verunglückten Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung.

Der Beklagte lehnte durch Bescheid vom 21. April 1972 Entschädigungsleistungen mit der Begründung ab, der vom Pfarrer der katholischen Kirchengemeinde angeordnete Beichtunterricht sei keine schulische Veranstaltung gewesen.

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 9. Mai 1973 den Beklagten verurteilt, die Kläger "leistungsgemäß zu entschädigen". Es hat u.a. ausgeführt, der Beichtunterricht gehöre in Bayern zum ordentlichen Schulunterricht. Das SG hat die Berufung zugelassen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 24. Juli 1974 die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es dargelegt, daß gemäß Art. 7 § 1, Art. 4 § 3, Art. 5 § 1 und Art. 8 des Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Staate Bayern vom 29. März 1924 sowie Art. 136 Abs. 2 der Bayerischen Verfassung vom 2. Dezember 1946 der Religionsunterricht in allen Volksschulen ordentliches Lehrfach sei. Die von den Kirchen und Religionsgemeinschaften bestellten Religionslehrer könnten den gesamten Religionsunterricht selbst erteilen (Art. 20 Abs. 3 des Volksschulgesetzes vom 17. November 1966 - GVBl 402). Der mit der Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus über die Richtlinien für den Unterricht in der Religionslehre an den Bayerischen Volksschulen vom 13. September 1967 (KMBl 1967, 660) vorgelegte Rahmenplan für die Glaubensunterweisung regele die Ausgestaltung des katholischen Religionsunterrichts dahin, daß spätestens im vierten Schuljahr alle Kinder eine eingehende Anleitung zu einem differenzierten Beichten erhalten sollten. Dafür genüge nach dem Rahmenplan eine kurze Hinführung, die im Laufe von höchstens drei Wochen am besten außerhalb der Schule und im Raum der Pfarrei durchgeführt werden sollte. Der katholische Beichtunterricht sei fest in den Religionsunterricht an den Volksschulen eingefügt. Die Schüler ständen bei der Teilnahme an dem Beichtunterricht und auf den Wegen nach und von dem Ort des Beichtunterrichts unter Versicherungsschutz.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt.

Er führt aus: Der Sohn der Kläger habe auf dem Weg zum Beichtunterricht nicht unter Versicherungsschutz gestanden, weil dieser Unterricht keine schulische Veranstaltung sei. In Bayern werde die religiöse Unterweisung zum Beichten außerhalb des ordentlichen Religionsunterrichts und außerhalb der gewöhnlichen Schulstunden und zudem nicht im Schulgebäude durchgeführt. Die Herausnahme der Einweisung aus dem allgemeinen Unterricht und die Wahl des Wohnhauses des Pfarrers als Belehrungsstätte sprächen deutlich gegen die Deklarierung der Unterweisung als Schulunterricht. Während der Schulbesuch obligatorisch sei, bleibe den Eltern die Entscheidung unbenommen, ob sie ihr Kind überhaupt beichten lassen wollten. Das angefochtene Urteil beachte auch den Gleichheitssatz nicht. Der Konfirmandenunterricht für die evangelischen Schüler sei kein Teil des Religionsunterrichts. Die Teilnahme an ihm stehe nicht unter Versicherungsschutz.

Der Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil und das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 9. Mai 1973 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 21. April 1972 abzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die zulässige Revision ist nicht begründet.

Der Sohn der Kläger hat auf dem Weg zum Beichtunterricht unter Versicherungsschutz gestanden.

Nach § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b der Reichsversicherungsordnung (RVO) sind Schüler während des Besuchs allgemeinbildender Schulen gegen Arbeitsunfälle versichert. Zum Besuch allgemeinbildender Schulen gehört vor allem die Teilnahme am Schulunterricht einschließlich schulischer Veranstaltungen (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-8. Aufl., S. 474 q IV; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 539 Anm. 85; BT-Drucks. VI/1333, S. 4). Schüler allgemeinbildender Schulen stehen beim Besuch des Schulunterrichts und anderer schulischer Veranstaltungen auch unter Versicherungsschutz, wenn der Unterricht oder die Schulveranstaltung nicht im Schulgebäude stattfindet. Ebenso besteht gemäß § 550 Abs. 1 RVO Versicherungsschutz für die Schüler während des Besuchs allgemeinbildender Schulen auf den Wegen nach und von dem Ort des Schulunterrichts oder anderer schulischer Veranstaltungen.

Von dieser Rechtsauffassung geht auch der Beklagte aus. Er wendet sich jedoch gegen die Auffassung des LSG, der Sohn der Kläger sei auf dem Weg zum Schulunterricht verunglückt, da in Bayern der Beichtunterricht Teil des Religionsunterrichts und damit auch des Schulunterrichts sei. Die Revision kann jedoch nur darauf gestützt werden, daß die Entscheidung auf der Nichtanwendung oder unrichtigen Anwendung einer Vorschrift des Bundesrechts oder einer sonstigen im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt (§ 162 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Das LSG hat seine Entscheidung, der Beichtunterricht sei in Bayern Teil des Schulunterrichts, auf die Vorschriften des Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Bayern und des Bayerischen Schulgesetzes sowie auf die Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus über die Richtlinien für den Unterricht in der Religionslehre an den Bayerischen Volksschulen vom 13. September 1967 und damit nicht auf Vorschriften des Bundesrechts oder auf andere Vorschriften gestützt, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt. Sind Rechtsnormen irrevisibel, so darf das Revisionsgericht nicht nachprüfen, ob sie bestehen und ob sie vom Berufungsgericht auf den Sachverhalt richtig angewandt worden sind (s. BSG 3, 77, 80; 7, 122, 125; Brackmann aaO S. 252 y). Der Senat muß jedoch nachprüfen, ob durch die Anwendung der irrevisiblen Normen eine revisible Norm verletzt ist, sei es durch deren Nichtanwendung oder durch deren unrichtige Anwendung; hierbei handelt es sich nicht um eine Nachprüfung der irrevisiblen Norm, sondern um eine Nachprüfung einer revisiblen Norm (BSG 3, 77, 80/81; Brackmann aaO; Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur SGb, § 162 Anm. 5 c). Die Anwendung der Vorschriften des Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Bayern und des Bayerischen Schulrechts verstößt nicht gegen § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b RVO. Das LSG und der erkennende Senat gehen bei der Auslegung dieser revisiblen Vorschrift davon aus, daß zum Besuch allgemeinbildender Schulen, wie bereits dargelegt, vor allem die Teilnahme am Schulunterricht und sonstigen schulischen Veranstaltungen zählt. Ob der Beichtunterricht in Bayern zum Schulunterricht gehört oder wenigstens eine schulische Veranstaltung ist, richtet sich dagegen nach den vom LSG angewandten irrevisiblen Vorschriften. Eine Kollision zwischen ihnen und der bundesrechtlichen Vorschrift des § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b RVO besteht nicht.

Der Beklagte sieht in der Entscheidung des LSG einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz. Es kann dahinstehen, ob in Bayern der Konfirmationsunterricht evangelischer Schüler weder Teil des Schulunterrichts noch eine sonstige Schulveranstaltung ist. Der Senat kann dies zugunsten des Beklagten unterstellen. Der Senat braucht auch nicht zu entscheiden, ob - wie der Beklagte meint - damit unter Verletzung des Gleichheitssatzes im Vergleich zur Teilnahme am Beichtunterricht wesentlich gleiche Tatbestände rechtlich ungleich geregelt wären. Selbst wenn man wiederum zugunsten des Beklagten von einer insoweit gegen den Gleichheitssatz verstoßenden ungleichen Behandlung evangelischer und katholischer Schüler im Bayerischen Schulrecht ausginge, würde dies nach Sinn und Zweck des § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b RVO nicht zur Folge haben, daß der Versicherungsschutz der Schüler entfällt, die am Beichtunterricht und damit - nach der dem Senat bindenden Rechtsauffassung des LSG - aufgrund noch nicht für verfassungswidrig erklärter Vorschriften des Bayerischen Schulrechts am Schulunterricht oder an einer schulischen Veranstaltung teilnehmen.

Da der Sohn der Kläger nach der vom LSG getroffenen Auslegung irrevisiblen Landesrechts auf dem Weg zum Schulunterricht tödlich verunglückt ist, hat das LSG mit Recht die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen. Auch die Revision konnte somit keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 252

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