Entscheidungsstichwort (Thema)

Erfüllung der Wartezeit für die Rente wegen BU bzw EU

 

Leitsatz (redaktionell)

Die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates der EG zurückgelegten Wochenbeitragszeiten, die von einem deutschen Versicherungsträger zu berücksichtigen sind, werden falls bei der erforderlichen Umrechnung in Monate nach EG-Recht ein Rest verbleibt, in der Weise berücksichtigt, daß der verbliebene Rest als ein weiterer Monat angerechnet wird.

 

Normenkette

EWGV 4 Art. 13 Abs. 4 Fassung: 1958-12-03; EWGV 574/72 Art. 15 Abs. 3 Fassung: 1972-03-21; RVO § 1250 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, Abs. 3 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 17.02.1976; Aktenzeichen L 6 Ar 261/74)

SG Augsburg (Entscheidung vom 19.04.1974; Aktenzeichen S 9 Ar-IT. 612/73)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. Februar 1976 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Unter den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger für die Zeit vom 18. Oktober 1971 bis zum 30. April 1972 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit und vom 1. Mai 1972 bis zum 31. Oktober 1972 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Zeit zu zahlen ist.

Der Kläger hat in der Bundesrepublik Deutschland für 44 Monate Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter entrichtet, Der italienische Versicherungsträger hatte zunächst nur 50 Wochenbeiträge bestätigt, am 23. Januar 1973 bestätigte er zusätzlich für die Zeit vom 1. November bis 31. Dezember 1970 und vom 17. Februar bis 18. April 1971 für weitere 18 Wochen Pflichtbeiträge und für die Zeit vom 22. April bis zum 30.April 1971 gleichgestellte Zeiten. Die Beklagte vertritt die Auffassung, die nachgewiesenen italienischen Versicherungszeiten von 68 Wochen ergäben nur eine Versicherungszeit von 15 Monaten, so daß zusammen mit den in Deutschland nachgewiesenen Beitragszeiten von 44 Monaten nur 59 Kalendermonate als Versicherungszeit erreicht würden und damit die Wartezeit für eine Rentengewährung nicht erfüllt sei. Eine Aufrundung der italienischen Versicherungszeiten auf 16 Monate sei nicht möglich. Da der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit am 18. April 1971 eingetreten sei, könne auch der vom italienischen Versicherungsträger als gleichgestellte Versicherungszeit angenommene Zeitraum vom 22. bis zum 30. April 1971 nicht berücksichtigt werden.

Das Sozialgericht (SG) Augsburg hat sich der von der Beklagten zur Möglichkeit einer Aufrundung der Versicherungszeit auf volle Monate vertretenen Ansicht nicht angeschlossen und die Beklagte unter Abänderung des vom Kläger angefochtenen Bescheids vom 18. August 1972 verurteilt, dem Kläger vom 18. Oktober 1971 bis zum 30. April 1972 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit und vom 1. Mai 1972 bis zum 31. Oktober 1972 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Zeit zu zahlen. Soweit der Kläger Rente für weitere Zeiträume beantragt hatte, hat es die Klage abgewiesen. Die von der Beklagten gegen das Urteil des SG eingelegte Berufung hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 17. Februar 1976 zurückgewiesen. Auch das LSG ist der Ansicht, daß die italienische Versicherungszeit von 68 Wochen auf 16 Monate aufzurunden ist und damit die Wartezeit für die vom SG zugesprochenen Renten erfüllt war. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat Revision eingelegt, weil sie die Ansicht vertritt, daß Dezimalstellen, die bei der Umrechnung von mitgliedstaatlichen Versicherungszeiten aus kleineren in größere Zeiteinheiten nach Art 13 Abs 4 der Verordnung Nr 4 und Art 15 Abs 3 Buchst a der Verordnung Nr 574/72 entstehen, zum Zwecke der Zusammenrechnung der Versicherungszeiten nicht nach § 1250 Abs 2 bzw Abs 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aufzurunden sind. Sie müßten vielmehr bei der Zusammenrechnung der Versicherungszeiten nach Art 27 Abs 1 VO Nr 3 und Art 45 Abs 1 VO Nr 1408/71 unberücksichtigt bleiben. Wegen der Vorrangigkeit des EWG-Rechts vor dem nationalen Recht könnten die Aufrundungsregelungen des deutschen Rechts (§ 1250 Abs 2 und 3 RVO) nicht zur Anwendung kommen. Die EWG-Umrechnungsnormen (Art 13 Abs 4 EWG-VO Nr 4 und Art 15 Abs 3 EWG-VO Nr 574/72) beschränkten die Umrechnung auf volle Zeiteinheiten und ließen Restwerte unberücksichtigt. 68 Wochen entsprächen einer Arbeitszeit von 408 Tagen und 408 Tage seien 15,692 Monate. Der verbleibende Dezimalrest von 0,692 Monaten könne nach EWG-Recht nicht auf einen vollen Monat aufgerundet werden. Der von ihr vertretenen Rechtsauffassung stehe das Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 30. Oktober 1975 in der Rechtssache 33/75 nicht entgegen. Nach dieser Entscheidung sei vielmehr ein verbleibender Dezimalrest nur dann auf die nächsthöhere Zeiteinheit aufzurunden, wenn eine in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegte Versicherungszeit von weniger als einem Monat nach den deutschen Rechtsvorschriften als voller Monat anzusehen sei. Den in § 1250 RVO enthaltenen Umrechnungsvorschriften komme jedoch nicht die allgemeine Bedeutung bei, die in dem Vorlagebeschluß unterstellt und vom EuGH vorausgesetzt worden sei, weil § 1250 RVO nur der Regelung besonderer Tatbestände diene. Die in § 1250 Abs 2 RVO getroffene Regelung diene lediglich der Überleitung des vor 1957 geltenden Rechts an das seitdem geltende Recht, denn für Zeiten nach 1957 kenne das deutsche Recht keine Umwandlung von Wochen in Monate. § 1250 Abs 3 RVO sei aber schon deshalb nicht anwendbar, weil diese Norm ausdrücklich auf die Entrichtung von Pflichtbeiträgen an eine deutsche Einzugsstelle abgestellt sei. Bei der Entscheidung eines gleichliegenden Falles durch den erkennenden Senat vom 28. Januar 1977 - 5 RJ 48/76 - werde eine Auseinandersetzung mit der zentralen und nach ihrer Auffassung entscheidungserheblichen Frage nach der "Übersetzung" des überstaatlichen in das deutsche Recht vermißt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Augsburg vom 19. April 1974 abzuändern und das Urteil des Bayerischen LSG vom 17. Februar 1976 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 18. August 1972 abzuweisen.

Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat sich in dem Verfahren vor dem Bundessozialgericht nicht gemeldet.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat mit Recht die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Der Anspruch auf die zugesprochenen Renten scheitert nicht an der Nichterfüllung der Wartezeit, denn die vom italienischen Versicherungsträger bestätigte Versicherungszeit von 68 Wochen ist auf eine Versicherungszeit von 16 Monaten aufzurunden, so daß mit der Beitragszeit von 44 Monaten, die der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt hat, die Wartezeit von 60 Monaten für Renten wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit erfüllt ist (§§ 1247 Abs 3 und 1246 Abs 3 RVO).

Der erkennende Senat hat bereits im Urteil vom 28. Januar 1977 - 5 RJ 48/76 - dargelegt, daß nach Art 13 Abs 4 der EWG-VO Nr 4 und Art 15 Abs 3 der EWG-VO Nr 574/72 für die Umrechnung 6 Tage als eine Woche, 26 Tage als ein Monat, 3 Monate oder 13 Wochen oder 78 Tage als ein Vierteljahr und jeweils umgekehrt gelten. Für die Umrechnung von Wochen in Monate und umgekehrt sind nach Art 13 Abs 4 Buchst e der EWG-VO Nr 4 die Wochen und Monate nach Tagen zu zählen. Danach sind zunächst die 28 Wochen in 408 Tage und diese in 15,692 Monate umzurechnen, wobei sich der Restteil von 0,692 aus den übrig bleibenden 18 Tagen ergibt. Da die bei der Umrechnung sich ergebenden vollen 15 Monate zusammen mit den 44 deutschen Beitragsmonaten lediglich 59 Beitragsmonate ergeben und zur Erfüllung der Wartezeit nicht ausreichen, kommt es darauf an, ob der bei der Umrechnung verbleibende Restteil als voller Monat zu werten ist oder unberücksichtigt bleiben muß. Diese Frage ist in den EWG-VOen nicht geregelt. Der EuGH hat aber in einem Urteil vom 30. Oktober 1975 - Az.:33/75 - (SozR 6055 Art 15 Nr 1) entschieden, daß dann, wenn eine in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegte Versicherungszeit von weniger als einem Monat nach den deutschen Rechtsvorschriften als voller Monat anzusehen ist, eine nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates zurückgelegte Versicherungszeit, bei der sich nach der zum Zwecke der Zusammenrechnung vorgenommenen Umrechnung in Monate noch ein Dezimalrest ergibt, gleichfalls auf die nächsthöhere in Monaten ausgedrückte Einheit aufzurunden ist. Es ist richtig, daß die in § 1250 Abs 2 RVO getroffene Regelung für eine Umrechnung von Wochenbeiträgen in Kalendermonate nur noch für vor dem 1. Januar 1957 entrichtete Beiträge bedeutsam ist, weil es für die Zeit nach dem 1. Januar 1957 keine Wochenbeiträge mehr gibt; es ist auch richtig, daß die in § 1250 Abs 3 RVO getroffene Regelung, wonach Kalendermonate, die nur teilweise als Versicherungszeit anzurechnen wären, voll anzurechnen sind, nur für Pflichtbeiträge gilt, die durch Abführung an eine deutsche Einzugsstelle entrichtet worden sind. Diesen Vorschriften ist aber der Grundgedanke zu entnehmen, daß nach deutschem Recht eine in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegte Versicherungszeit von weniger als einem Monat als voller Monat anzurechnen ist. Daraus aber ist zu folgern, daß nach EWG-Recht die nach den Rechtsvorschriften Italiens zurückgelegten Versicherungszeiten gleichfalls auf die nächsthöhere in Monaten ausgedrückte Einheit aufzurunden sind. Somit ist davon auszugehen, daß der Kläger bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts 16 Beitragsmonate in der italienischen Rentenversicherung zurückgelegt und daher mit den deutschen Beiträgen die Wartezeit von 60 Kalendermonaten erfüllt hat. Zum gleichen Ergebnis ist auch der 4. Senat des BSG in einem Urteil vom 14. Juli 1977 - 4 RJ 39/76 - gekommen.

Einer Auseinandersetzung mit der nach der Ansicht der Beklagten entscheidungserheblichen Frage nach der "Übersetzung" des überstaatlichen in das deutsche Recht bedarf es nicht, weil bei der Umrechnung gar keine Übersetzung überstaatlichen Rechts in das deutsche Recht erfolgt. Anzuwenden ist das überstaatliche Gemeinschaftsrecht, wobei die deutschen Gerichte an die Vorabentscheidung des EuGH bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts gebunden sind. Der Senat ist der Ansicht, daß der EuGH auch das Gemeinschaftsrecht zur Lückenausfüllung fortentwickeln kann. Für eine erneute Vorlage an den EuGH sieht er keine Veranlassung.

Da feststeht, daß der Kläger wegen der Folgen eines Arbeitsunfalles in den genannten Zeiten erwerbs- bzw berufsunfähig war, mußte die Revision der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651881

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