Leitsatz (amtlich)

1. Gewährt das Gesetz einem abhängig Beschäftigten unter bestimmten Voraussetzungen ein Wahlrecht, ob er der Versicherungspflicht unterliegen oder von der Versicherungspflicht befreit werden will, so ist die auf Antrag ausgesprochene Befreiung von der Versicherungspflicht ein begünstigender Verwaltungsakt.

2. Eine zu Unrecht gewährte Befreiung von der Versicherungspflicht (RVO § 173) kann bei unveränderter Sach- und Rechtslage im Hinblick auf die Bindungswirkung des SGG § 77 nicht wegen Rechtsirrtums der Krankenkasse ohne Einverständnis des Begünstigten zurückgenommen werden.

 

Leitsatz (redaktionell)

Der 3. Senat des BSG hält an seiner Rechtsprechung fest, wonach eine abhängig beschäftigte Beamtenwitwe nicht nach RVO § 173 von der Versicherungspflicht befreit werden kann.

 

Normenkette

SGG § 77 Fassung: 1953-09-03; RVO § 173 Fassung: 1945-03-17

 

Tenor

Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 8. Januar 1957 aufgehoben.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 24. April 1956 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger K. ist Inhaber einer kaufmännischen Privatschule. In dieser Schule ist die Klägerin E. als Lehrerin beschäftigt; sie verdiente monatlich im Durchschnitt 350.- DM. Außerdem erhalt Frau E. als Beamtenwitwe Hinterbliebenenbezüge. Sie hat drei eheliche Kinder.

Auf ihren Antrag wurde sie durch Bescheid der beklagten Krankenkasse vom 3. Juni 1954 nach § 173 Reichsversicherungsordnung (RVO) von der Versicherungspflicht vom 1. Mai 1954 an befreit. Die beklagte Krankenkasse nahm die Befreiung von der Versicherungspflicht mit Wirkung vom 1. Februar 1955 mit der Begründung zurück, Frau E. sei zu Unrecht von der Versicherungspflicht befreit worden, da ihr nicht Anwartschaft auf Hinterbliebenenversorgung gewährleistet sei (Bescheid vom 16. Februar 1955). Der Widerspruch der Kläger wurde von der Widerspruchsstelle der beklagten Krankenkasse zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 18. April 1955).

Auf die Klage hin hat das Sozialgericht (SG) Osnabrück mit Urteil vom 24. April 1956 die Bescheide der beklagten Krankenkasse vom 16. Februar und 18. April 1955 aufgehoben und festgestellt, daß die Klägerin vom 1. Februar 1955 an nicht der Sozialversicherungspflicht unterliegt (d.h. auch über den 31. Januar 1955 hinaus versicherungsfrei bleibt). Nach Auffassung des SG durfte der Befreiungsbescheid als begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden. Außerdem sei die Befreiung von der Versicherungspflicht zu Recht ausgesprochen.

Gegen dieses Urteil hat die beklagte Krankenkasse Berufung eingelegt mit dem Antrag,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

Sie wiederholte im wesentlichen ihre bisherige Begründung, daß die Befreiung von der Versicherungspflicht seinerzeit zu Unrecht erfolgt sei und daher mit rückwirkender Kraft habe zurückgenommen werden dürfen.

Die Kläger baten um

Zurückweisung der Berufung.

Sie hielten daran fest, daß Frau E. zu Recht von der Versicherungspflicht befreit worden sei und jedenfalls eine einmal ausgesprochene Befreiung bei gleicher Sach- und Rechtslage nicht zurückgenommen werden dürfe.

Die beigeladene Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) trat der Auffassung der Kläger bei, daß die Befreiung von der Versicherungspflicht rechtmäßig erfolgt sei.

Das Landessozialgericht (LSG) Celle hat der Berufung stattgegeben und unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 8. Januar 1957). Nach Auffassung des LSG ist die Klägerin E. zu Unrecht von der Versicherungspflicht befreit worden, weil ihr nicht Anwartschaft auf Hinterbliebenenversorgung gewährleistet sei. Der fehlerhafte Befreiungsbescheid habe aber mit Wirkung für die Zukunft zurückgenommen werden können. Aus § 173 Abs. 3 RVO, wonach die Befreiung zu widerrufen sei, sobald ihre Voraussetzungen nicht mehr vorlägen, könne nicht gefolgert werden, daß ein Widerruf nur bei Wegfall früher gegebener Voraussetzungen, nicht aber bei Änderung der Rechtsauffassung möglich sei. Diese Vorschrift sei vielmehr nur Ausdruck des auch im übrigen Verwaltungsrecht geltenden allgemeinen Rechtsgedankens, daß rechtswidrige Verwaltungsakte jederzeit zurückgenommen werden könnten.

Gegen dieses Urteil haben die Kläger Revision eingelegt mit dem Antrag,

das angefochtene Urteil aufzuheben und das Urteil des SG wiederherzustellen.

Die Kläger sind der Auffassung, daß der Befreiungsbescheid der beklagten Krankenkasse zu Recht ergangen sei. Sie sind ferner - zum Unterschied von der BfA - der Meinung, daß der Befreiungsbescheid, wäre er fehlerhaft ergangen, mangels einer Änderung in der Sach- und Rechtslage nicht hätte zurückgenommen werden dürfen.

Die beklagte Krankenkasse hat um

Zurückweisung der Revision

gebeten. Sie beruft sich auf ihr bisheriges Vorbringen.

Die beigeladene Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BfArb) und die BfA haben keine Anträge gestellt. Die BfArb hält den Befreiungsbescheid für rechtswidrig. Die BfA ist der Auffassung, ein Befreiungsbescheid könne, falls er von vornherein fehlerhaft gewesen sei, mindestens mit Wirkung für die Zukunft zurückgenommen werden.

II

Die Revisionen sind begründet.

Zwar kann den Revisionsklägern darin nicht beigepflichtet wenden, daß die Klägerin Frau E. zu Recht nach § 173 RVO von der Versicherungspflicht befreit worden sei, und die beklagte Krankenkasse schon deshalb ihren Befreiungsbescheid nicht hätte zurücknehmen dürfen. Als Beamtenwitwe, der nicht Anwartschaft auf Hinterbliebenenversorgung gewährleistet war, hatte Frau E. keinen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht (Urteil des erkennenden Senats vom 27. April 1961 - 3 RK 62/57 - in BSG 14, 185 = SozR RVO § 173 Bl. Aa 1). Die beklagte Krankenkasse durfte jedoch den Befreiungsbescheid trotz seiner Rechtswidrigkeit nicht zurücknehmen.

Der Bescheid, durch den die Krankenkasse den Versicherten auf seinen Antrag von der Versicherungspflicht befreit (§ 173 Abs. 1 und 2 RVO), ist - entgegen der Annahme der beigeladenen BfA - ein begünstigender Verwaltungsakt. Zwar trägt - worauf die beigeladene BfA mit Recht hingewiesen hat - der Verwaltungsakt, den die Krankenkasse als Einzugsstelle nach dem jetzt geltenden § 1399 Abs. 3 RVO über die Versicherungspflicht oder -freiheit von Amts wegen erläßt, einen Mischcharakter. Wird durch, einen solchen Verwaltungsakt die Versicherungspflicht festgestellt, so werden damit zugleich Pflichten und Rechte begründet; der Verwaltungsakt ist teils begünstigender, teils belastender Natur. Der BfA ist darin zuzustimmen, daß in solchen Fällen grundsätzlich weder eine objektive - in der Praxis mit vielen Unsicherheitsfaktoren belastete - Interessenabwägung noch gar die subjektive Vorstellung der Beteiligten darüber entscheiden kann, ob im Endergebnis ein überwiegend begünstigender oder belastender Verwaltungsakt vorliegt. Anders steht es mit den Berechtigungen, die nur auf Antrag verliehen werden. Hier ist der Antrag Ausdruck der Dispositionsbefugnis des Berechtigten. Im Vordergrund steht nach der Wahl, die der Berechtigte durch seine Antragstellung getroffen hat, die erstrebte Berechtigung oder - was auf dasselbe herauskommt - die Befreiung von einer Last; die mit der Begründung der Rechtsstellung verbundene Pflichtenübernahme tritt demgegenüber zurück. Im Sinne dieses Gedankens bezeichnet § 173 RVO daher die auf Antrag zu gewährende Rechtsstellung als "Befreiung" von der Versicherungspflicht. Ein solcher Befreiungsbescheid ist daher seiner Natur nach ein begünstigender Verwaltungsakt (ebenso Haueisen in NJW 1960 S. 1497 f; Weber, Die Beiträge 1960 S. 193, 195).

Nach Auffassung der Kläger kann der Befreiungsbescheid - als begünstigender Verwaltungsakt - nur unter den Voraussetzungen des § 173 Abs. 3 RVO "widerrufen" werden, wenn also die Voraussetzungen für eine Befreiung "nicht mehr" vorliegen, mithin eine Änderung der Sach- oder Rechtslage nach Erlaß des Befreiungsbescheides eingetreten ist; eine Rücknahme des Befreiungsbescheids im Sinne der Aufhebung eines von vornherein fehlerhaften Verwaltungsaktes sei überhaupt nicht möglich. Wäre diese Meinung richtig, so müßte der Klage schon aus diesem Grunde stattgegeben werden; denn die Voraussetzungen für einen Widerruf des Befreiungsbescheids nach § 173 Abs. 3 RVO sind im vorliegenden Fall nicht gegeben. Diese Vorschrift, wonach die Krankenkasse die Befreiung widerruft, "sobald ihre Voraussetzungen nicht mehr vorliegen", regelt - ähnlich dem § 1293 RVO aF = § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO nF - den Fall, daß sich die Verhältnisse, die die Grundlage des Befreiungsbescheides gewesen sind, geändert haben. Sie ist aber nicht anwendbar, wenn es um die Frage geht, ob ein wegen Rechtsirrtums fehlerhaft ergangener Befreiungsbescheid bei unveränderter Sach- und Rechtslage zurückgenommen werden kann (vgl. auch Weber, Die Beiträge 1960 S. 193, 199).

Im Gegensatz zu den Klägern ist das LSG davon ausgegangen, daß von vornherein fehlerhafte Befreiungsbescheide jedenfalls mit Wirkung für die Zukunft zurückgenommen werden könnten, weil die Frage, ob Versicherungspflicht oder -freiheit bestehe, sich allein nach den zwingenden Normen des Sozialversicherungsrechts richte. Zur Stütze seiner Ansicht beruft sich das LSG auf die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA), wonach der Versicherungsträger seine Rechtsansicht zur Frage der Versicherungspflicht oder -freiheit eines Beschäftigungsverhältnisses grundsätzlich jederzeit ändern konnte und allenfalls - in der Krankenversicherung und in der Arbeitslosenversicherung - nach dem Grundsatz von Treu und Glauben daran gehindert war, Beiträge nachzuerheben (RVA in Grunds. Entsch. Nr. 2327 in AN 1917 S. 396, Grunds. Entsch. Nr. 5054 in AN 1937 S. 73, Grunds. Entsch. Nr. 5278 in AN 1939 S. 134 und Grunds. Entsch. Nr. 5347 in AN 1940 S. 133). Nach dieser Auffassung gibt es im Beitragsrecht der Sozialversicherung - abgesehen von § 1445 Abs. 2 RVO aF (= § 1423 Abs. 3 RVO nF) - keine materiell bindenden Verwaltungsakte (v. Altrock, Wege zur Sozialversicherung 1954 S. 1, 6 und Koch-Hartmann, AVG 2. Aufl. Anm. F I 1 zu § 204; vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen in Breithaupt 1956 S. 1029, 1031). Bei der Frage, ob und gegebenenfalls mit welchen Einschränkungen die angeführten Grundsätze auch nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gelten, darf jedoch zweierlei nicht übersehen werden. Nach altem Recht (§ 405 Abs. 2 RVO aF) konnten die Beteiligten einen "Streit über das Versicherungsverhältnis oder über die Verpflichtung, Beiträge zu leisten, einzuzahlen oder zurückzuzahlen", jederzeit an das Versicherungsamt herantragen; es war hiernach ausgeschlossen, daß ein Beitragsbescheid unanfechtbar wurde, was aber Voraussetzung einer materiellen Bindungswirkung ist (vgl. § 77 SGG). Außerdem lag der Sachverhalt in den zitierten Entscheidungen - soweit er aus der gekürzten Wiedergabe ersichtlich ist - so, daß der Versicherungsträger - meist die Krankenkasse als Einzugsstelle - auf die richtige Sachdarstellung des Arbeitgebers hin eine unrichtige Auskunft erteilt oder auch nur von der Einhebung von Beiträgen abgesehen hatte, ohne daß eine "Entscheidung" über die Versicherungspflicht oder Beitragspflicht (vgl. § 1399 Abs. 3 RVO) vorgelegen hätte. Aus diesen Gründen geben die zitierten Entscheidungen nichts für den Fall her, daß nach Inkrafttreten des SGG ein unanfechtbar gewordener Verwaltungsakt über die Befreiung von der Versicherungspflicht vorliegt.

Mit größerem Recht hätte in diesem Zusammenhang für die Auffassung des LSG die Grunds. Entsch. Nr. 2783 (AN 1924 S. 34, 35) angeführt werden können, in der das RVA ausgesprochen hatte, für bindende Anerkenntnisse hinsichtlich der Verneinung der Versicherungsfreiheit sei unter der Herrschaft der auch für die Angestelltenversicherung geltenden öffentlich-rechtlichen Zwangsversicherung grundsätzlich kein Raum, weil das Versicherungsverhältnis beim Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen kraft Gesetzes unabhängig vom "Willen der Beteiligten begründet werde; denn damit wird der Vorrang der Verpflichtung der Verwaltung zu einem den materiell-rechtlichen Vorschriften über Versicherungspflicht und -freiheit entsprechenden "gesetzmäßigen" Handeln gegenüber Bindungswirkungen ausgesprochen, die sich aus einem Anerkenntnis der Versicherungsfreiheit ergeben könnten. Indessen berücksichtigt diese Auffassung nicht den entscheidenden Wandel, der sich mit dem Inkrafttreten des SGG vollzogen hat. Die Gesetzmäßigkeit des Handelns der Verwaltung erfordert nunmehr in den von § 77 SGG erfaßten Rechtsbereichen auch die Beachtung der umfassenden Bindungswirkung, die diese Vorschrift dem unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakt zuspricht. Gesetzmäßigkeit der Verwaltung heißt somit nicht mehr Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit um jeden Preis (BVerwG vom 7. Dezember 1960 in DVBl 1961 S. 380, 381); sie bedeutet vielmehr im Rechtsstaat auch Wahrung des Rechtsfriedens und Förderung der Rechtssicherheit (vgl. Erning in DVBl 1960 S. 188, 191). § 77 SGG läßt klar erkennen, daß im Falle des Irrtums der Verwaltung bei Erlaß ihres unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts der Gedanke der Rechtssicherheit, die dem Schutz des Vertrauens der Bürger auf den Bestand behördlicher Entscheidungen dient, entscheidend ist (vgl. BVerwG aaO). Das Spannungsverhältnis zwischen der Verpflichtung der Verwaltung zu einem dem materiellen Recht entsprechenden - in diesem Sinn "gesetzmäßigen" - Handeln und der Rechtssicherheit löst § 77 SGG bei den Verwaltungsakten, die im Streitfall der Beurteilung durch die Sozialgerichtsbarkeit unterliegen, im Sinne ihrer Rechtsbeständigkeit. Hier ist die Rücknahme fehlerhafter Verwaltungsakte grundsätzlich ausgeschlossen (so schon der 1. Senat in BSG 2, 188, 190 f).

Bei der nunmehr allein entscheidenden Frage, ob "durch Gesetz" (§ 77 SGG am Schluß) Ausnahmen von der Bindungswirkung nicht mehr anfechtbarer Verwaltungsakte bestimmt sind, wendet der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in Kriegsopfersachen für begrenzte Zeiten (nämlich für die Zeit vor Inkrafttreten des Verwaltungsverfahrensgesetzes (1. April 1955)- und, soweit es sich um die ehemalige britische Zone handelt, nach Außerkraftsetzung der Ziff. 26 der SVA Nr. 11 (31. Dezember 1952 -) die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts über die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte an (vgl. BSG 7, 8, 16; 8, 11, 14; 10, 72, 76 und Urteil vom 6. September 1961 - 11 RV 320/58 - in NJW 1961 S. 1943, 1944). Gegen den Ausgangspunkt dieser Auffassung, daß "Gesetz" im Sinne des § 77 SGG nicht nur geschriebenes Recht - womöglich Gesetz im förmlichen Sinn -, sondern auch andere Rechtsnormen sein können, dürften begründete Bedenken nicht bestehen. Doch ist hierbei zu beachten - und mahnt zur Vorsicht beim Rückgriff auf "anerkannte Grundsätze" des allgemeinen Verwaltungsrechts -, daß ungeschriebenes Recht in Gestalt allgemeiner Grundsätze nur subsidiär Platz greifen kann, wenn feststeht, daß das gesetzte Recht keine Regelung enthält.

Demnach ist. eine Berufung auf allgemeine Grundsätze des Verwaltungsrechts dann ausgeschlossen, wenn das fragliche Rechtsgebiet die Rücknahme fehlerhafter Verwaltungsakte erschöpfend geregelt hat. Das ist nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats der Fall im Recht der Rentenversicherung (BSG 11, 226, 229 f) und der Altershilfe für Landwirte (BSG 14, 10, 13 ff).

Eine derartige, in sich abgeschlossene Regelung - die bei der Rentenversicherung aus den §§ 1300, 1744 RVO zu dem Umkehrschluß zwingt, daß fehlerhafte Verwaltungsakte nur in den in den genannten Vorschriften behandelten Bällen zurückgenommen werden können - besteht in der Frage der Rücknehmbarkeit fehlerhafter Bescheide einer Krankenkasse über die Befreiung von der Versicherungspflicht nicht. Insbesondere greift hier § 1744 RVO nicht Platz; denn diese Vorschrift gilt nur für die Leistungsbescheide der Versicherungsträger (vgl. die Kennzeichnung des Oberabschnitts A des Sechsten Buches der RVO, zu dem § 1744 RVO gehört: "Feststellung der Leistungen"). Andererseits kann der in § 173 Abs. 3 RVO vorgesehene Fall des Widerrufs des Befreiungsbescheides - wegen Veränderung der Verhältnisse - nicht die einzige Möglichkeit seiner Aufhebung durch die Verwaltung sein. Es wäre nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen nicht vertretbar anzunehmen, daß z.B. der "erschlichene" Befreiungsbescheid nicht zurückgenommen werden könnte.

Die hiernach vom positiven Recht nicht geregelte Frage, unter welchen Voraussetzungen von vornherein fehlerhafte Befreiungsbescheide im Recht der Krankenversicherung zurückgenommen werden können, läßt sich nicht durch einen einfachen Rückgriff auf einen - in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (s.o.) und im Schrifttum (vgl. Haueisen in DVBl 1957 S. 506, DOK 1958 S. 421, NJW 1958 S. 642 und 1661, DOK 1959 S. 385, NJW 1960 S. 63, DVBl 1960 S. 350 und S. 913 ff; Menger in VerwArch 1958 S. 81, 273; 1959 S. 86; 1960 S. 155, 273) angenommenen - allgemeinen Grundsatz des Verwaltungsrechts beantworten, daß bei fehlerhaften Verwaltungsakten zwischen dem öffentlichen Interesse an der Beseitigung des fehlerhaften Bescheides und dem privaten Interesse des Begünstigten an der Aufrechterhaltung des Bescheides abzuwägen sei. Hierbei soll ergänzend die Vermutung Platz greifen, daß die Rücknehmbarkeit des fehlerhaften begünstigenden Verwaltungsakts jedenfalls mit Wirkung für die Zukunft die Regel sei (so neuerlich BVerwG in DVBl 1961 S. 380, 381 f). Ob ein solcher Grundsatz mit der hieran geknüpften Vermutung, der Rücknehmbarkeit des fehlerhaften begünstigenden Verwaltungsakts verbindliche Norm ist, unterliegt schon im allgemeinen Verwaltungsrecht erheblichen Zweifeln. So lassen z.B. Wolff (Verwaltungsrecht, 3. Aufl., S. 277 f) und Erning (DVBl 1959 S. 795 und DVBl 1960 S. 188) die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte nur als Ausnahme gelten. Vor allem aber haftet den Begriffen des "öffentlichen Interesses" und des "privaten Interesses" eine solche Unbestimmtheit an, daß die Abwägung mit der Fragestellung, was nun überwiege, in eine Fallrechtsprechung mündet, die sich jeder Voraussicht entzieht. Es erscheint bedenklich, in dem öffentlichen - im wesentlichen ideellen - Interesse der Verwaltung an der Aufrechterhaltung der materiellen Rechtsordnung und dem meist wirtschaftlichen Interesse des begünstigten Staatsbürgers an der Aufrechterhaltung des fehlerhaften Verwaltungsaktes vergleichbare Größen zu sehen, die ein "Abwägen" - auf gleicher Ebene - gestatten. Indessen kann die Frage auf sich beruhen, ob im allgemeinen Verwaltungsrecht eine solche Regel - oder gar eine solche Norm - des Abwägens mit der Wirkung besteht, daß fehlerhafte begünstigende Verwaltungsakte für die Zukunft grundsätzlich zurückgenommen werden können. Zwar könnte sich im vorliegenden Streitfall der Rückgriff auf einen solchen Grundsatz - anders als bei den schon erwähnten Rechtsgebieten des Leistungsrechts der Rentenversicherung und der Altershilfe für Landwirte - nicht deshalb erübrigen, weil das besondere Rechtsgebiet eine erschöpfende Regelung der Rücknahme fehlerhafter Verwaltungsakte enthält; denn die Frage der Rücknahme eines fehlerhaften Befreiungsbescheides in der Krankenversicherung ist, wie bereits dargelegt, im Gesetz nicht abschließend geregelt. Jedoch würde die Heranziehung des Abwägungsgrundsatzes jedenfalls dadurch ausgeschlossen sein, daß die gesetzliche Regelung im Bereich der Krankenversicherung erkennen läßt, welche Art von Fehlern beim Erlaß rechtswidriger Befreiungsbescheide in der Krankenversicherung ihre Rücknahme nicht gestatten. Für das Leistungsrecht hat nämlich der Gesetzgeber selbst die ihm grundsätzlich vorbehaltene Aufgabe einer Wertentscheidung zwischen Rechtssicherheit und "Gesetzmäßigkeit" des Handelns der Verwaltung in dem Sinne erfüllt, daß nur besonders schwere Mängel (vgl. § 1744 RVO) die Rücknahme des begünstigenden Leistungsbescheides gestatten. Der bloße Verstoß gegen zwingendes materielles Recht berechtigt dagegen nicht zur Rücknahme des Leistungsbescheides, obwohl in diesem Fall die Aufrechterhaltung des falschen Leistungsbescheides nur um den Preis einer zweckwidrigen Verwendung der von den Versicherten und Arbeitgebern aufgebrachten Mittel möglich ist.

Ist aber nach dem Recht der Krankenversicherung das erhebliche öffentliche Interesse an der Beseitigung eines falschen Leistungsbescheides nicht stark genug, um die Rücknahme dieses Verwaltungsakts zu rechtfertigen, so muß dies um so mehr von dem Bescheid der Krankenkasse gelten, der zu Unrecht die Befreiung von der Versicherungspflicht ausgesprochen hat. Hier ist das öffentliche Interesse an der Aufhebung des unrichtigen Verwaltungsakts wesentlich geringer als in dem des fehlerhaften Leistungsbescheids. Da - infolge der Erteilung des Befreiungsbescheides - ein Versicherungsverhältnis nicht besteht, ist die Verwaltung von jeder Belastung frei. Ein besonderes - über das ideelle Interesse an einer dem Gesetz entsprechenden Ordnung hinausgehendes - öffentliches Interesse ist nur insofern gegeben, als eine von der Versicherungspflicht zu Unrecht befreite Person sich nicht an der Solidarhaft der Versicherten bei Aufbringung der Lasten der Versichertengemeinschaft beteiligt und nicht des Schutzes teilhaftig wird, der ihr von Gesetzes wegen zugedacht ist. Andererseits ist das Bedürfnis nach Sicherheit des einzelnen an der Aufrechterhaltung des einmal erteilten Befreiungsbescheides besonders groß. Dabei muß im vorliegenden Streitfall auch die "Transmissionswirkung" der Befreiung von der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung berücksichtigt werden, die nach dem hier maßgeblichen Recht (vgl. § 1226 Nr. 1 RVO aF, § 69 Nr. 1 AVAVG aF) auch Befreiung von der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung und in der Arbeitslosenversicherung zur Folge hatte. Hatte sich der Berechtigte zur Stellung des Antrags auf Befreiung von der Versicherungspflicht entschlossen - was in seinem Belieben stand -, so war zu vermuten, daß dieser Entschluß überlegt war und seinen Interessen entsprach. Vor allem fällt ins Gewicht, daß sich der von der Versicherungspflicht Freigestellte hierauf eingerichtet hat, indem er z.B. private Versicherungen abgeschlossen oder anderweit geplante Vorsorge getroffen hat. Deshalb kann das Vertrauen des einzelnen auf die Rechtsbeständigkeit behördlicher Entscheidungen in diesem Falle jedenfalls nicht schwächer als im Falle des unrichtigen Leistungsbescheides geschützt sein. Wie immer daher auch die Rücknehmbarkeit unrichtiger Befreiungsbescheide bei schwersten Mängeln - insbesondere im Falle ihrer "Erschleichung" - zu beurteilen sein mag, so kann jedenfalls ein Befreiungsbescheid nicht allein schon deshalb zurückgenommen werden, weil die Verwaltung ihrem Bescheid eine falsche Rechtsansicht zugrunde gelegt hatte und nunmehr eine andere Rechtsauffassung vertreten will.

Demnach durfte die beklagte Krankenkasse den Befreiungsbescheid nicht zurücknehmen. Die Revisionen sind begründet.

Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils war daher das Urteil des SG wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 252

NJW 1962, 1126

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