Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslegung eines Verwaltungsaktes

 

Orientierungssatz

1. Für die Auslegung der Willenserklärungen einschließlich der Verwaltungsakte kommt es darauf an, wie der Empfänger nach den Umständen des Einzelfalles die Erklärung bei verständiger Würdigung zu deuten hatte; in Betracht kommen dabei die Umstände vor und beim Ergehen der behördlichen Maßnahme und in gewissem Sinn auch solche, die ihr folgen (vgl BSG 1962-06-20 1 RA 66/59 = BSGE 17, 124, 126). Es kommt nur auf den erklärten, dh auf den zum Ausdruck gekommenen Willen der erklärenden Stelle an, und zwar in der Gestalt, wie er für den Adressaten der Erklärung erkennbar geworden ist; maßgebend ist also nicht, was die Verwaltung mit ihrer Erklärung gewollt hat, sondern wie der Empfänger sie verstehen durfte; andererseits kann der Empfänger sich nicht darauf berufen, er habe die Erklärung in einem bestimmten Sinne verstanden, wenn diese objektiv - unter Berücksichtigung aller Umstände - nicht so verstanden werden konnte (vgl BSG 1979-03-01 6 RKa 3/78 = BSGE 48, 56, 59).

2. Die Aussage: "Sie erhalten weiterhin die Rente wegen Berufsunfähigkeit" wird von einem verständigen Menschen als Zusage der Rente wegen Berufsunfähigkeit aufgefaßt, wenn nicht besondere Umstände vorliegen, die den Satz anders als im Wortsinn deuten lassen.

3. Ein Bescheid oder ein Verfügungssatz des Bescheides ist nicht schon deshalb nichtig, weil die Begründung zum Teil unschlüssig oder widerspruchsvoll ist (§§ 40 ff SGB 10); eine derartige Unschlüssigkeit oder Widersprüchlichkeit der Begründung kann auch nicht die Auslegung eines klaren Verfügungssatzes beeinträchtigen.

 

Normenkette

RVO §§ 1246-1247; SGB 10 § 40

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 16.02.1982; Aktenzeichen L 6 Ar 59/81)

SG Augsburg (Entscheidung vom 16.12.1980; Aktenzeichen S 9 Ar 459/80)

 

Tatbestand

Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 17. Januar 1980 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) für die Zeit vom 12. Januar bis 30. Juni 1980. Im April 1980 beantragte der Kläger die Weiterzahlung der Rente über den 30. Juni 1980 hinaus. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 24. Juni 1980 den Antrag ab, weil der Kläger als Bürokaufmann noch vollschichtig arbeiten könne. Das Formblatt enthält auch den Satz: "Sie erhalten weiterhin die Rente wegen Berufsunfähigkeit." Die Zahlung der Zeitrente wurde mit Ablauf des Monats Juni 1980 eingestellt.

Mit der am 3. Juli 1980 bei dem Sozialgericht (SG) in Augsburg erhobenen Klage hat der Kläger beantragt, den Bescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) ab Antragstellung zu gewähren. Während des Prozesses hat der Vorsitzende der Kammer des SG die Beklagte darauf hingewiesen, daß diese im angefochtenen Bescheid die Rente wegen BU weiter gewährt habe. Darauf hat der Kläger beantragt, die Beklagte entsprechend ihrem Bescheid zur Zahlung der Rente wegen BU zu verpflichten.

Das SG hat mit Urteil vom 16. Dezember 1980 entschieden:

1. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger auf seinen

Antrag vom 17. April 1980 unter Beachtung der

Rechtsauffassung des Gerichts einen Bescheid über Berechnung

und Höhe der ab 1. Juli 1980 zu gewährenden Rente

wegen Berufsunfähigkeit zu erteilen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom zurückgewiesen und die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Der Bescheid der Beklagten vom 24. Juni 1980 enthalte den selbständigen Verfügungssatz, daß der Kläger weiterhin die Rente wegen BU erhalte. Ein unbefangener Leser des Bescheidtextes habe darin nicht nur die Ablehnung der Erwerbsunfähigkeitsrente, sondern auch die Zusage der Berufsunfähigkeitsrente sehen müssen. Die Beklagte habe nunmehr die Rente zu berechnen und an den Kläger auszuzahlen. Ihr bleibe überlassen, ob und wie sie die bindende Wirkung ihres Bescheides wieder beseitigen wolle.

Mit der am 7. Juni 1982 bei dem Bundessozialgericht eingegangenen Revision trägt die Beklagte vor: Der Bescheid vom 24. Juni 1980 habe keinen Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente begründet. Zwar habe sie, die Beklagte, bei diesem Bescheid ein Formblatt (III R 58) verwendet, das für Anträge auf Umwandlung in Rente wegen EU bei bereits gewährter Rente wegen BU gedacht sei. Diese "Unzulänglichkeit der Sachbearbeitung" habe aber nicht zur Anerkennung einer Rente geführt. Der Kläger habe aus den Gesamtumständen entnehmen müssen, daß ihm keine Rente zugesprochen werde. Im übrigen habe der Kläger den Bescheid auch gar nicht als Bewilligungsbescheid verstanden; erst das SG habe ihn auf den Zusatz im Bescheid hingewiesen.

Die Beklagte beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger stellt keinen Antrag.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil ist nicht zu beanstanden.

Die Beklagte hat nach Auffassung des Klägers diesem in ihrem Bescheid vom 24. Juni 1980 eine Rente wegen BU dem Grunde nach zuerkannt. Sie weigert sich jedoch, ihren Bescheid in diesem Sinne aufzufassen, und sie verweigert dem Kläger demgemäß die Berechnung und Zahlung der Rente. Streitig zwischen den Beteiligten ist somit der Inhalt des Bescheides vom 24. Juni 1980. Dabei handelt es sich um die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses iS des § 55 Abs 1 Nr 1 SGG. Diese Klage ist zulässig, denn der Kläger hat ein berechtigtes Interesse an der von der Beklagten bestrittenen Feststellung, daß sie ihm in dem Bescheid eine Rente wegen BU zugebilligt hat.

Der Bescheid der Beklagten vom 12. August 1982, der während des Revisionsverfahrens ergangen ist, ist nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens (§ 171 Abs 2 SGG).

Die Revision ist nicht begründet.

Für die Auslegung der Willenserklärungen einschließlich der Verwaltungsakte kommt es darauf an, wie der Empfänger nach den Umständen des Einzelfalles die Erklärung bei verständiger Würdigung zu deuten hatte; in Betracht kommen dabei die Umstände vor und beim Ergehen der behördlichen Maßnahme und in gewissem Sinn auch solche, die ihr folgen (BSGE 17, 124, 126 = SozR Nr 1 zu Art 2 § 1 AnVNG). Es kommt nur auf den erklärten, dh auf den zum Ausdruck gekommenen Willen der erklärenden Stelle an, und zwar in der Gestalt, wie er für den Adressaten der Erklärung erkennbar geworden ist; maßgebend ist also nicht, was die Verwaltung mit ihrer Erklärung gewollt hat, sondern wie der Empfänger sie verstehen durfte; andererseits kann der Empfänger sich nicht darauf berufen, er habe die Erklärung in einem bestimmten Sinne verstanden, wenn diese objektiv - unter Berücksichtigung aller Umstände - nicht so verstanden werden konnte (BSGE 48, 56, 59 = SozR 2200 § 368a Nr 5).

Das LSG hat dazu ausgeführt, ein unbefangener Leser des Bescheides vom 24. Juni 1980 habe in diesem die Zusage der Rente wegen BU sehen müssen.

Für die Ansicht des LSG spricht, daß die Aussage: "Sie erhalten weiterhin die Rente wegen Berufsunfähigkeit" von einem verständigen Menschen zunächst einmal als Zusage der Rente wegen BU aufgefaßt wird, wenn nicht besondere Umstände vorliegen, die den Satz anders als im Wortsinn deuten lassen. Solche Umstände sind nicht ersichtlich. Insbesondere steht dem allgemeinen Verständnis des Satzes nicht entgegen, daß der Kläger niemals Rente wegen BU erhalten hat, also diese auch nicht "weiterhin" erhalten konnte. Denn die Rente wegen EU, die der Kläger bei seinem Antrag und bei Erlaß des Bescheides bezog, umfaßte auch die Rente wegen BU. Die EU ist eine "gesteigerte Berufsunfähigkeit" (Verbands-Kommentar, Anm 3 zu § 1247 RVO, Stand: 1. Januar 1978), wer erwerbsunfähig ist, ist auch berufsunfähig (BSGE 21, 88, 89 = SozR Nr 40 zu § 1246 RVO). Diese Auffassung vom Verhältnis der beiden Rentenarten ist auch in der Bevölkerung verbreitet; die Rente wegen BU wird als die "kleine", diejenige wegen EU, die etwa 150 % der anderen Rente ausmacht, als die "große" Rente angesehen, der Unterschied wird nicht als grundsätzlicher, sondern als gradueller empfunden. Der verständige Leser faßt also den erwähnten Satz im Bescheid dahin auf, daß zwar der Antrag auf Weitergewährung der Rente wegen EU abgelehnt, die bisher gewährte Rente aber in der kleinen Form als Rente wegen BU "weiterhin" gezahlt wird.

Ob der Kläger möglicherweise den Bescheid zunächst anders verstanden hat, bedarf keiner weiteren Ermittlungen. Denn auch wenn er zunächst der Ansicht gewesen wäre, der Bescheid lehne auch die Rente wegen BU ab, so stünde das der richtigen Auslegung des Bescheides nicht entgegen.

Der Satz über die Weitergewährung der Rente wegen BU steht auf dem Bescheid-Vordruck verhältnismäßig weit hinten, nämlich als zweiter Satz im zweitletzten Absatz vor der Rechtsmittelbelehrung. Damit ist er aber nicht Teil der Begründung geworden, auf die sich - im Gegensatz zum Verfügungssatz - die Bindungswirkung nicht erstreckt (so zuletzt BSGE 46, 236, 237 = SozR 1500 § 77 Nr 29), sondern er stellt, was zulässig ist (BSGE aa0 unter Hinweis auf BSGE 27, 22, 23 = SozR Nr 59 zu § 77 SGG), einen zweiten Verfügungssatz dar. Ob eine Aussage Verfügungssatz oder Begründung ist, ergibt sich nicht aus ihrer räumlichen Stellung im Bescheid, sondern aus ihrem sachlichen Inhalt. Der Bescheid vom 24. Juni 1980 enthält erkennbar zwei Regelungen: im ersten Absatz die Ablehnung des Antrages auf Gewährung der Rente wegen EU, dann folgen fünf Absätze Begründung, der siebente Absatz enthält schließlich eine Zusammenfassung ("Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit besteht daher nicht.") und eine weitere - die zweite - Regelung ("Sie erhalten weiterhin die Rente wegen Berufsunfähigkeit.").

Diese zweite Regelung ist auch nicht etwa dadurch gegenstandslos, daß sie in einem gewissen Widerspruch zu dem fünften Absatz des Bescheides steht, der lautet: "Ärztlicherseits werden sie noch für fähig erachtet, im Verweisungsberuf (Bürokaufmann) vollschichtig zu arbeiten." Ein Bescheid oder ein Verfügungssatz des Bescheides ist nicht schon deshalb nichtig, weil die Begründung zum Teil unschlüssig oder widerspruchsvoll ist (§§ 40 ff SGB X); eine derartige Unschlüssigkeit oder Widersprüchlichkeit der Begründung kann auch nicht die Auslegung eines klaren Verfügungssatzes beeinträchtigen. Hinzu kommt, daß die Wiedergabe einer ärztlichen Stellungnahme noch nicht zwingend zur Verneinung eines Rentenanspruchs führen muß.

Die Revision war als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654167

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