Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruchsberechtigung eines im Unternehmen seiner Ehefrau tätig gewesenen Kaufmanns. Verlust der 2. Tatsacheninstanz

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ist die Rechtsmittelbelehrung unzureichend, so ist der "bestimmte Antrag" (SGG § 164 Abs 2 S 1) als rechtzeitig gestellt anzusehen, wenn er innerhalb der Jahresfrist des SGG § 66 Abs 2 in irgendeinem Schriftsatz - auch zB in der Revisionsbegründungsschrift - gestellt wird.

2. Zwischen dem Arbeitsamt und seinem Spruchausschuß war ein "In-sich-Prozeß" möglich.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ist ein Kaufmann jahrelang im Unternehmen seiner Ehefrau als alleiniger Geschäftsführer tätig gewesen, so ist es sehr wahrscheinlich, daß er niemals ernstlich den Übergang von der Stellung des Gewerbetreibenden in die des Arbeitnehmers gesucht hat. Im übrigen muß seine Arbeitslosigkeit auch so lange verneint werden, als er nach seiner angeblichen Entlassung durch die alleinige Gesellschafterin als Geschäftsführer im Handelsregister eingetragen bleibt.

2. Wenn das SGG zwei Tatsacheninstanzen vorsieht, bedeutet dies nicht, daß das LSG nicht sachlich entscheiden darf, sobald es die Sache für entscheidungsreif hält; denn nach SGG § 159 Abs 1 Nr 1 kann das LSG durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Es ist dazu aber nicht verpflichtet. Es würde jeder Prozeßökonomie widersprechen, wenn das LSG eine entscheidungsreife Sache an das SG zurückverweist. Im übrigen zeigt auch die Einrichtung der Sprungrevision, daß eine Streitsache nicht immer in zwei Tatsacheninstanzen verhandelt werden muß.

 

Normenkette

SGG § 66 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 164 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 159 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03; AVAVG § 87a

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts in Schleswig vom 15. Juli 1954 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander Kosten nicht zu erstatten.

Die Gebühr für die Berufstätigkeit des Rechtsanwalts des Klägers vor dem Bundessozialgericht wird auf 80,- DM festgesetzt.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I. Der 1892 geborene Kläger, von Beruf Makler, meldete sich am 26. Februar 1951 beim Arbeitsamt Kiel arbeitslos und beantragte Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu). Dabei gab er an, er sei seit 1929 Geschäftsführer der J GmbH., deren alleiniger Gesellschafter seine Frau sei. Der Betrieb ruhe seit etwa 6 Monaten. Bisher hätten sie von Zuwendungen der Familie gelebt, die nunmehr aufgehört hätten. Außerdem habe er seit einigen Monaten Wohlfahrtsunterstützung erhalten. Seine Tätigkeit als Geschäftsführer sei nicht versicherungspflichtig gewesen, da sein Einkommen die erforderliche Höhe nicht erreicht habe. Eine Löschung der GmbH. sei nicht möglich, da sie noch Forderungen gegen den Staat habe. Er selbst sei arbeitsfähig und nehme jede zumutbare Arbeit an.

Das Arbeitsamt lehnte seinen Antrag mit Bescheid vom 10.März 1951 ab, da der Kläger nicht arbeitslos sei; denn die GmbH., deren Geschäftsführer er sei, sei bisher nicht aufgelöst worden.

Auf seinen Einspruch hob der Spruchausschuß des Arbeitsamts durch Entscheidung vom 8. Mai 1951 den Ablehnungsbescheid vom 10. März 1951 auf, nachdem der Kläger eine von seiner Frau als alleiniger Gesellschafterin mit Entlassungstag vom 28. Februar 1951 ausgestellte Entlassungsbescheinigung vom 21. April 1951 beigebracht hatte, und sprach ihm die Alfu vom 5. März 1951 an zu.

II. Ende November 1952 erhielt das Arbeitsamt Kenntnis von einem Rechtsstreit J gegen L. In der öffentlichen Sitzung des Amtsgerichts Kiel vom 20. November 1952 war als Vertreter der J GmbH. "deren Geschäftsführer ... J" aufgetreten und hatte u.a. erklärt:

Ich bin Geschäftsführer der Klägerin und war es immer. Ich hatte mich beim Arbeitsamt niemals arbeitslos gemeldet, sondern nur Arbeitslosenfürsorgeunterstützung beantragt, die ich auch bekommen habe, während damals keine Einnahmen bei der Klägerin vorhanden waren. Das Telefon war niemals abgemeldet, das Büro war damals auch im Gange, wenn auch keine Umsätze erzielt wurden. Ich bin noch arbeitslos gemeldet, aber das Büro besteht heute noch. Ich beziehe weiterhin Arbeitslosenfürsorgeunterstützung. Ich habe aber dem Beklagten gesagt, daß ich für ihn die Hypothekenangelegenheit als Geschäftsführer der Firma J durchführe und das nicht umsonst mache".

Das Arbeitsamt entzog ihm nunmehr mit Verfügung vom 29. November 1952 die Alfu rückwirkend vom 5. März 1951, weil er während des Unterstützungsbezugs weiterhin als Geschäftsführer tätig gewesen und es noch jetzt sei, forderte von ihm als zu Unrecht erhalten 2.083,70 DM zurück und legte ihm nach § 259 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) eine Ordnungsstrafe von 100,- DM auf.

Hiergegen legte der Kläger Einspruch und Beschwerde ein.

Durch Entscheidung des Spruchausschusses des Arbeitsamts Kiel vom 16. Januar 1953 wurde der Einstellungsbescheid sowie der Rückforderungs- und Ordnungsstrafbescheid des Arbeitsamts aufgehoben. Die Firma J sei wegen fehlenden Betriebskapitals zur Zeit nicht arbeitsfähig, der Kläger deshalb arbeitslos im Sinne des § 3 des Anhangs zur Militärregierungsverordnung (MRVO) Nr. 117.

III. Gegen diese Entscheidung legte der Direktor des Arbeitsamts Kiel Berufung bei der Spruchkammer des Oberversicherungsamts (OVA.) Kiel ein. In der Verhandlung vom 5.Dezember 1953 erklärte der Kläger, die Firma J sei seit ihrer Gründung 1899 zunächst OHG. gewesen und 1929 in eine GmbH. umgewandelt worden. Gesellschafter seien seine Frau und Herr S gewesen, der aber 1931/32 ausgeschieden sei. Er selbst sei seit 1931 der alleinige Geschäftsführer. Die Firma betreibe Grundstücksmaklergeschäfte. Seine Frau habe keine eingehenden Kenntnisse von diesen Dingen, sie sei auch niemals im Büro gewesen.

Auf Grund des § 215 Abs. 2 des am 1. Januar 1954 in Kraft getretenen Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ging das Verfahren auf das Sozialgericht (SG.) Schleswig über. Dieses wies mit Urteil vom 12. Februar 1954 die Klage als unzulässig ab, da es sich nicht mehr um ein Rechtsmittel gegen eine erstinstanzliche Entscheidung, sondern um eine Klage des Arbeitsamts gegen einen Zugunstenbescheid seines eigenen Spruchausschusses handele. Eine solche Klage einer Verwaltungsbehörde "gegen sich selbst" kenne das SGG ebensowenig wie andere Verwaltungsgerichtsgesetze. Eine Rückforderung der gezahlten Alfu nach § 177 AVAVG sei im übrigen nicht zulässig, da der Spruchausschuss sich, "von der Sicht des Arbeitsamts gesehen", bei der Bewilligung in einem Rechtsirrtum befunden habe. Das SG. verneinte die Prozeßvoraussetzungen des Rechtsschutzbedürfnisses und der Klagbarkeit.

Die Berufung wurde nach § 150 SGG zugelassen.

IV. Der Präsident des Landesarbeitsamts Schleswig legte Berufung ein. In der Berufungsverhandlung wurde die Ehefrau des Klägers als Zeugin vernommen. Sie sagte u.a. aus:

"Ich bin die alleinige Gesellschafterin der Firma J gewesen und bin es auch heute noch. Die Firma besteht jetzt noch. Sie kann im Handelsregister nicht gelöscht werden, weil wir gerne wieder vorankommen wollen. Unter "wir" verstehe ich meinen Mann und mich. Ich selbst habe mich im Geschäft eigentlich gar nicht betätigt.

Ich bin Gesellschafterin der GmbH. nur deswegen geworden, weil wir das Geschäft weiterführen wollten, nachdem es 1930 in Konkurs gegangen war. Über die Umsätze des Geschäfts kann ich nichts sagen, weil ich nie im Geschäft gewesen bin.

Ich kann hier nichts darüber aussagen, in welchem Umfang mein Mann seit 1931 tätig war."

Auf Vorhalt:

"Ich habe zwar mit ihm zusammen gelebt, doch kann ich wenig darüber sagen, wie er sich beschäftigt hat. Mein Mann ist viel unterwegs gewesen. Er hat wohl versucht, Geschäfte zu machen."

Durch Urteil vom 15. Juli 1954 hob das Landessozialgericht (LSG.) das Urteil des SG. Schleswig auf, soweit es sich nicht auf die Ordnungsstrafe von 100,- DM bezog; deren Aufhebung war bereits auf Grund des zur Zeit der Entscheidung des Spruchausschusses noch geltenden § 259 Abs. 2 AVAVG endgültig geworden. Deshalb wurde die Berufung dagegen zurückgewiesen. Die Entscheidung des Spruchausschusses vom 16.Januar 1953 wurde insoweit aufgehoben, als sie die Entziehung der Alfu und den Rückforderungsanspruch betraf. Der Berufungsbeklagte wurde verurteilt, an die Berufungsklägerin 2.083,70 DM zurückzuzahlen. Revision wurde zugelassen.

Das LSG. erklärte die Berufung für statthaft, da es ebenso wie das SG den Spruchausschuss weder als Verwaltungsgericht noch als gerichtsähnliche Instanz ansah. Es hielt ihn für eine Verwaltungsbehörde im Sinne des § 25 MRVO Nr. 165 über die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen Zone und für mindestens passiv parteifähig gemäß § 50 dieser Verordnung. Deshalb sei es zulässig, daß das Arbeitsamt gegen seinen Spruchausschuß einen Prozeß führe. Es gebe keinen allgemeinen Rechtsgedanken, der solche "In-sich-Prozesse" verbiete. Es bestehe auch ein Rechtsschutzbedürfnis, wenn die Verwaltung sich nicht kraft Weisungsbefugnis selbst durchsetzen könne wie bei unabhängigen und von Weisungen freien Ausschüssen. Dieses treffe auf die Spruchausschüsse zu. Da eine Rechtsverletzung durch den Spruchausschuß zum Nachteil der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung behauptet werde, sei die Berufung statthaft.

Im übrigen war das LSG. nicht davon überzeugt, daß der Kläger den Übergang von der Stellung des Gewerbetreibenden in die des Arbeitnehmers jemals ernstlich gesucht habe, sondern stattdessen immer bestrebt gewesen sei, "im Zwielicht der Geschäftsführerstelle einer nur zum Schein errichteten GmbH. selbständig zu bleiben". Es hielt ihn deshalb nach § 87 a AVAVG nicht für arbeitslos und die Entziehung und Rückforderung der Alfu für zu Recht erfolgt.

V. Gegen dieses dem Kläger am 27. August 1954 zugestellte Urteil legte er durch seinen Prozeßbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 25. September 1954 - beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen am 27. September - Revision ein, ohne aber einen bestimmten Antrag zu stellen. Erst mit Schriftsatz vom 25. Oktober 1954 beantragte er, unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen. Er rügte die rückwirkende Entziehung der Unterstützung als unzulässig, da die Entscheidung des Spruchausschusses rechtskräftig geworden sei. Auch die Entziehung für die Zukunft sei mangels einer Änderung der Verhältnisse unberechtigt gewesen. Im übrigen habe es sich um einen unzulässigen In-sich-Streit gehandelt. Für den Fall der Klageabweisung machte er noch geltend, das LSG. habe nur über die Zulässigkeit der Klage entscheiden und dem Kläger nicht eine Tatsacheninstanz wegnehmen dürfen.

Die Bundesanstalt beantragte, die Revision als unzulässig zu verwerfen, da die Revisionsschrift nicht einen bestimmten Antrag enthalten habe, hilfsweise, sie als unbegründet zurückzuweisen.

VI. Die Revision ist vom LSG. wegen der grundsätzlichen Bedeutung der behandelten Rechtsfragen zugelassen worden und deshalb insoweit statthaft. Zu prüfen war aber, ob sie auch form- und fristgerecht eingelegt worden ist.

Der Kläger hat zwar die Revision durch seinen Prozeßbevollmächtigten, einen Rechtsanwalt, fristgemäß einlegen lassen. Dieser hat jedoch nicht beachtet, daß nach § 164 Abs. 2 SGG schon die Revisionsschrift einen bestimmten Antrag enthalten muß. Wird nur das angefochtene Urteil bezeichnet, so entspricht dies noch nicht der weiteren Vorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG über den bestimmten Antrag (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 8.6.1955 und Beschluß des 4. Senats vom 27.6.1955 - BSG. 1 S.50, 47 -; Urteil des 9. Senats vom 24.5.1955 - SozR SGG § 164 Bl. Da3 -). Den bestimmten Antrag hat der Prozeßbevollmächtigte erst in der Revisionsbegründungsschrift gestellt. Dieser Mangel war jedoch unschädlich. Denn nach § 136 Abs. 1 Nr. 7 SGG muß das Urteil eine Rechtsmittelbelehrung enthalten, in welcher der Beteiligte u.a. über den Rechtsbehelf zu "belehren" ist. Die Rechtsmittelbelehrung im Urteil des LSG. ist aber unzureichend; sie enthält nämlich nicht den Hinweis, daß schon in der Revisionsschrift ein bestimmter Antrag gestellt werden muß. Dies ist aber ein zwingendes Erfordernis (so auch Urteil des 3.Senats vom 23.9.1955 - BSG. 1 S. 227 -).

Aus diesem Grunde galt nicht die Monatsfrist des § 164, sondern die Jahresfrist des § 66 SGG. In dieser Frist aber ist der "bestimmte Antrag" als rechtzeitig gestellt anzusehen, wenn er in irgendeinem Schriftsatz - auch z.B. in der Revisionsbegründungsschrift - gestellt wird. Die Revision ist deshalb auch als form- und fristgerecht eingelegt anzusehen.

VII. Die Revision konnte aber keinen Erfolg haben.

Soweit es sich zunächst um die Frage der Zulässigkeit der Berufung handelt, war die vom SG. ausgesprochene Zulassung "nach § 150 SGG" unzutreffend. Die Zulassung ist nicht begründet worden. Da das SG. jedoch auf die materielle Streitfrage nicht eingegangen ist, wird anzunehmen sein, daß es die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zulassen wollte (§ 150 Nr. 1 SGG). Aber auch dann wäre die Zulassung unzutreffend; denn § 150 SGG bezieht sich nur auf die Fälle der §§ 144 bis 149 SGG, wie im Urteil des erkennenden Senats vom 8. Juni 1955 (BSG. 1 S. 69) eingehend dargelegt ist. Jedoch war die "Zulassung" unbeachtlich, da die Berufung nach § 143 SGG zulässig war.

VIII. Soweit es sich um die prozeßrechtliche Frage handelt, ob ein Verwaltungsträger einen Prozeß gegen einen bei ihm auf Grund gesetzlicher Vorschriften errichteten Ausschuß erheben kann, ist im allgemeinen auf die zutreffenden Ausführungen des LSG. zu verweisen. Jedenfalls ist ein solcher Prozeß zulässig, wenn diese Einrichtung nicht den Weisungen des Verwaltungsträgers unterliegt und er ihr gegenüber somit nicht seinen Willen durchsetzen kann. Denn in einem solchen Fall ist ein Rechtsschutzbedürfnis vorhanden, wie das Oberverwaltungsgericht Münster in seinem Urteil vom 28. November 1952 (DÖV 1953 S. 570) zutreffend dargelegt hat. Es gibt keinen allgemeinen Grundsatz, daß Rechtsstreitigkeiten zwischen Organen oder Behörden des gleichen Rechtsträgers unzulässig seien. In den zustimmenden Anmerkungen von Haueisen zu dieser Entscheidung, der im übrigen auch abweichende Urteile anderer Verwaltungsgerichte anführt, wird im Anschluß an die Untersuchungen von Haas (DÖV 1952 S. 135 und 170) besonders darauf hingewiesen, daß aus dem Grundsatz der Einheit der Verwaltung keine Bedenken herzuleiten sind, wenn z. B. ein Land Maßnahmen von Ausschüssen usw. anficht, denen die Weisungsgebundenheit fehlt, aber auch nicht die Eigenschaft eines besonderen Verwaltungsgerichts zukommt.

Zutreffend führt Haueisen in seinem Aufsatz "Zur Frage der Zulässigkeit von Klagen gegen Entscheidungen der Berufungsausschüsse in Zulassungsstreitigkeiten" ("Die Ortskrankenkasse" 1954 S. 242) auch aus, daß die rechtsstaatliche Forderung, alle Verwaltungsmaßnahmen, die eine hoheitliche Regelung eines Einzelfalles darstellen, einer gerichtlichen Nachprüfung zu unterziehen, durch Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) zu einer verfassungsmäßigen Norm erhoben worden sei und die Träger der unmittelbaren und mittelbaren Staatsverwaltung sich nicht einem rechtsschutzleeren Raum gegenüber sehen dürfen, weil sie an der organisatorischen Bildung von Gremien, deren Willensbildung ihrer Weisungsbefugnis nicht zugänglich ist, beteiligt sind.

Dies gilt auch für die früheren Spruchausschüsse der Arbeitsämter, die niemals weisungsgebunden waren, wenn dies auch erst durch § 49 Abs. 4 des Gesetzes über die Errichtung einer Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 10. März 1952 (BGBl. I S. 123) ausdrücklich geklärt wurde. Daß die Entscheidungen der Spruchausschüsse formell rechtskräftig wurden, also von dem Betroffenen nicht mehr mit der Klage angefochten werden konnten, ist die überwiegende Meinung (Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 6. Aufl. S. 224; Haueisen, "Der Verwaltungsakt unter besonderer Berücksichtigung des Sozialrechts" in "Die Ortskrankenkasse" 1954 S. 460 (468)). Ob ihnen auch materielle Rechtskraft zustand, ist zwar umstritten, muß aber auf dem Gebiet der Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenfürsorge schon mit Rücksicht auf die Spezialvorschrift des § 177 AVAVG verneint werden.

§ 177 weist auf ein wesentliches Merkmal hin, das bei der Frage der materiellen Rechtskraft zu berücksichtigen ist, nämlich die Änderung des Sachverhalts ("Die Alu ist von Amts wegen zu entziehen, sobald die Voraussetzungen zum Bezuge nicht mehr vorliegen ...") oder die Feststellung, "daß sie schon bisher nicht vorgelegen habe". Sie deutet damit auf einen besonderen Gesichtspunkt hin, den auch Forsthoff (a.a.O. S. 226) hervorhebt, daß nämlich die Verwaltung sich "jene Starrheit nicht leisten kann, welche die materielle Rechtskraft dem Urteil des ordentlichen Richters verleiht". Das richterliche Urteil wird in aller Regel zu einem Tatbestand gesprochen, der fest umgrenzt ist, der Vergangenheit angehört und deshalb unveränderlich ist. Die Verwaltung dagegen steht im großen Umfange Sachverhalten gegenüber, die nicht immer auf längere Zeit unverändert bleiben. "Angesichts variabler Sachlagen kann es die Bindung der materiellen Rechtskraft nicht geben" (Forsthoff a.a.O.).

Gerade auf dem Gebiet der Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenfürsorge ist dieser Gesichtspunkt von ausschlaggebender Bedeutung, da sich hier ständig Änderungen der Sachlage ergeben können. Wenn man also, wie es der Vertreter des Klägers tut, von einer res judicata sprechen wollte, so könnte sich dies allenfalls auf die Gewährung der Alfu vom 5. März 1951 bis zur formellen Rechtskraft des Bescheides des Spruchausschusses vom 8. Mai 1951 beziehen, also bis zum 22. Mai 1951, da der Kläger, der in der Spruchausschußsitzung anwesend war, auf die Zustellung der Entscheidung verzichtet hatte. Daß aber auch insoweit eine res judicata nicht anzunehmen ist, weil sich später herausstellte, daß die Voraussetzungen zum Bezuge der Alfu schon bisher nicht vorgelegen hatten, ergibt sich aus der dem Arbeitsamt durch § 177 AVAVG gegebenen Ermächtigung. Das frühere Reichsversicherungsamt hat sich zwar in seinen Grundsätzlichen Entscheidungen Nr. 3689 vom 30. Oktober 1929 und 3769 vom 20. Dezember 1929 (AN 1930 IV S. 110, 262) und 4126 vom 15. Mai 1931 (AN IV S. 298) auf den Standpunkt gestellt, daß rechtskräftige Entscheidungen der Spruchbehörden bindend seien. Dem kann aber im Hinblick auf § 177 AVAVG nicht zugestimmt werden; denn diese Vorschrift spricht nicht von den Verwaltungsstellen der Beklagten, sondern läßt die Entziehung nur dann nicht zu, wenn die bewilligende "Stelle" sich in einem Rechtsirrtum befunden hat. Der Begriff "Stelle" umfaßt in der Sondervorschrift des § 177 aber auch eine Spruchbehörde der Arbeitslosenversicherung. Soweit es sich jedoch um die Entscheidung des Spruchausschusses vom 16. Januar 1953 handelte, war diese noch nicht einmal formell rechtskräftig geworden. Wenn der Vertreter des Klägers deshalb darauf hinweist, daß nur eine Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse, und zwar auch nur für die Zukunft eine Handhabe zu einer Entziehung der Alfu gegeben haben würde, so kann er damit mit Rücksicht auf § 177 AVAVG nicht durchdringen.

IX. Soweit der Kläger ausführt, das LSG. habe nur über die Zulässigkeit der Klage entscheiden und dem Kläger nicht die zweite Tatsacheninstanz wegnehmen dürfen, sondern die Klage ohne Anordnung der Beweisaufnahme an das SG. zurückverweisen müssen, kann diese Rüge nicht durchgreifen. Wenn das SGG zwei Tatsacheninstanzen vorsieht, bedeutet dies noch nicht, daß das LSG. nicht sachlich entscheiden darf, sobald es die Sache für entscheidungsreif hält; denn nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG kann das LSG. durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG. zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Es ist dazu aber nicht verpflichtet. Dies traf hier um so mehr zu, als nicht der Kläger, sondern die Bundesanstalt den Antrag auf Zurückweisung gestellt hatte und hinsichtlich der Beweiserhebung durch Vernehmung der Ehefrau des Klägers im Endergebnis nur das bestätigt wurde, was der Kläger selbst in der Sitzung der Spruchkammer des OVA. Kiel vom 5. Dezember 1953 erklärt hatte. Es würde jeder Prozeßökonomie widersprochen haben, wenn das LSG. eine entscheidungsreife Sache an das SG. zurückverwiesen hätte. Im übrigen zeigt auch die Einrichtung der Sprungrevision (§ 161 SGG), daß eine Streitsache nicht immer in zwei Tatsacheninstanzen verhandelt werden muß.

X. Soweit es sich um die materiell-rechtliche Beurteilung handelt, kann hier dahingestellt bleiben, ob der Kläger als selbständiger Gewerbetreibender oder als Angestellter zu gelten hatte; denn in beiden Fällen wäre er nicht als arbeitslos anzusehen.

Das LSG. hat angenommen, der Kläger habe niemals ernstlich den Übergang von der Stellung des Gewerbetreibenden in die des Arbeitnehmers gesucht. Diese Auffassung hat große Wahrscheinlichkeit für sich; denn nach den eigenen Angaben des Klägers und den Aussagen seiner Frau verstand diese nichts vom Geschäft und kümmerte sich auch nicht darum. Der Kläger ist deshalb auch als "die Seele" des Geschäfts bezeichnet worden und hat als zuletzt vor der Schädigung ausgeübten Beruf im Kriegssachschädenantrag vom 30. März 1954 den als Immobilien-, Hypotheken- und Finanzmakler angegeben. Im Jahre 1951 hat er eine Aufbauhilfe zur "Festigung einer beruflichen Existenz" gestellt, also zu einer Zeit, als er Unterstützung bezog. Diese Aufbauhilfe hätte er als Angestellter nicht erhalten können. Die Ansicht des LSG. daß der Kläger als Mitgesellschafter anzusehen sei, kann deshalb nicht als abwegig angesehen werden.

Legt man aber die Handelsregistereintragung zugrunde, wonach der Kläger Geschäftsführer der GmbH. gewesen ist, so müßte auch insoweit seine Arbeitslosigkeit verneint werden; denn auch nach dem Zeitpunkt der angeblichen Entlassung durch die alleinige Gesellschafterin, seine Ehefrau, blieb er nach wie vor im Handelsregister als Geschäftsführer eingetragen, obwohl nach § 39 des GmbH-Gesetzes jede Änderung in den Personen der Geschäftsführung sowie die Beendigung der Vertretungsbefugnis eines Geschäftsführers zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden ist. Seine Angabe, die GmbH. habe kein Geld für diese Eintragung gehabt, ist, wie das LSG. zutreffend festgestellt hat, völlig abwegig. Im übrigen hat er, wie bereits oben erwähnt, in dem Rechtsstreit der GmbH. gegen L vor dem Amtsgericht Kiel am 20. November 1952 erklärt: "Ich bin Geschäftsführer der Klägerin und war es immer. Ich hatte mich beim Arbeitsamt niemals arbeitslos gemeldet, sondern nur Arbeitslosenfürsorgeunterstützung beantragt". Jedenfalls ergibt sich aus diesem Prozeß und aus einem Schreiben, das er an die Allianz-Lebensversicherung gerichtet hat, daß er auch während der Zeit seiner angeblichen Arbeitslosigkeit als Geschäftsführer weiter tätig gewesen ist. Daß es sich dabei nicht um geringfügige Beschäftigungen im Sinne des § 75 a Abs. 2 AVAVG gehandelt haben kann, ist daraus zu entnehmen, daß er diese Tätigkeiten nicht als Arbeitsloser, sondern als weiter im Handelsregister eingetragener Geschäftsführer ausgeübt hat.

Im übrigen kann die Entlassungsbescheinigung auch nur als Scheinbescheinigung angesehen werden. Abgesehen davon, daß sie von seiner Ehefrau ausgestellt ist, enthält sie Unrichtigkeiten und Unklarheiten. In dieser Bescheinigung ist der 1. Januar 1929 als Beginn der Geschäftsführertätigkeit des Klägers angegeben, während er selbst vor dem OVA. erklärt hat, er sei seit 1931 der alleinige Geschäftsführer der GmbH. gewesen. Es ist auch unglaubhaft, daß der Kläger von Beginn seiner Beschäftigung an bis zum 30. Juni 1948, also bis wenige Tage nach der Währungsumstellung, ständig ein Monatsgehalt von 700,- DM - die DM-Währung gilt erst seit dem 21. Juni 1948 - erhalten haben soll, während er vom 1. Juli 1948 bis zum angeblichen Entlassungstag am 28. Februar 1951 überhaupt kein Entgelt mehr bekommen habe. Der gleichbleibende Betrag von 700,- DM soll offenbar verdecken, daß für den Kläger keine Beiträge zur Sozialversicherung entrichtet worden sind. Seine Angabe, sein Einkommen habe nicht die entsprechende Höhe erreicht, um versicherungspflichtig zu sein, ist abwegig, da es für Arbeitnehmer keine Mindestgrenze für die Pflichtversicherung gibt, der Eintritt in diese vielmehr kraft Gesetzes mit dem Beginn des versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses beginnt. Im übrigen hat der Kläger in dem Antrag auf Gewährung von Soforthilfe vom 5. Oktober 1949 als durchschnittliches Jahreseinkommen für die Jahre 1937, 1938, 1939 nur den Betrag von 4.000,- RM angegeben, während er im Kriegssachschädenantrag vom 30. März 1954 für dieselbe Zeit ein Durchschnittsentgelt von 10.000,- RM zu Grunde gelegt hat.

Daß der Kläger nicht arbeitslos gewesen ist, ergibt sich auch aus folgendem: Der Spruchausschuss hatte ihm am 11.April 1951 aufgegeben, eine Arbeitsbescheinigung über seine ordnungsmäßige Entlassung als Geschäftsführer beizubringen. Sie ist unter dem 21. April 1951 ausgestellt. Aus den vom LSG. herbeigezogenen Akten des Amtes für Soforthilfe in Kiel ergibt sich aber, daß der Kläger sich am 2. Oktober 1951 nach dem Schicksal seines Antrags auf Aufbauhilfe erkundigt und dabei angegeben hat, daß das Geschäft am 1. April 1951 wieder aufgenommen worden sei. Die Zeit der angeblichen Arbeitslosigkeit würde demnach nur vom 1. bis 31. März 1951 bestanden haben. Dem Spruchausschuß aber überreichte er die unter dem 21. April 1951 datierte Entlassungsbescheinigung zu einer Zeit, als nach den Angaben vorm Amt für Soforthilfe das Geschäft bereits "wieder" eröffnet war.

Aus allen diesen Darlegungen ergibt sich, daß nicht nur die Entlassungsbescheinigung nicht zutreffend sein kann, sondern daß der Kläger auch nicht als arbeitslos anzusehen war. Er stand dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung. Im einzelnen wird wegen der Auslegung des Begriffs "Arbeitslosigkeit" auf das Urteil des erkennenden Senats vom 21. März 1956 (BSG. 2 S. 67) verwiesen.

XI. Das LSG. hat deshalb mit Recht nicht nur das Urteil des SG., sondern auch die Entscheidung des Spruchausschusses aufgehoben, soweit sie ihrerseits die Verfügung des Arbeitsamts über die Entziehung der Alfu und den Rückforderungsanspruch aufgehoben hatte. Der Rückforderungsanspruch war nach § 177 AVAVG berechtigt, da sich herausgestellt hatte, daß die Voraussetzungen zum Bezuge der Alfu schon bisher nicht vorgelegen hatten, d.h. also bis zum Zeitpunkt des Eintritts der formellen Rechtskraft der Spruchausschußentscheidung vom 8. Mai 1951, und daß sie auch weiterhin nicht mehr vorgelegen haben. Daß der Erstattungsanspruch nach § 177 Abs. 1 Satz 2 AVAVG unzulässig gewesen wäre, weil die bewilligende Stelle sich in einem Rechtsirrtum befunden hätte, kann nicht angenommen werden. Die Alfu ist bewilligt worden, weil Arbeitsamt und Spruchausschuß der Auffassung waren, der Kläger sei tatsächlich rechtmäßig entlassen worden und deshalb arbeitslos.

XII. Die Revision des Klägers mußte deshalb zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten und über die Gebühren des Prozeßbevollmächtigten beruht auf den §§ 193 und 196 Abs. 4 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1957, 766

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