Entscheidungsstichwort (Thema)

Höherbewertung der MdE nach § 581 Abs 2 RVO bei einem Maler

 

Orientierungssatz

1. Eine über die Grundsätze der abstrakten Schadensmessung hinausgehende Höherbewertung der MdE nach § 581 Abs 2 RVO ist nicht schon deshalb gerechtfertigt, weil der Verletzte infolge des Arbeitsunfalls seinen erlernten Beruf nicht mehr ausüben kann (vgl BSG 1965-08-25 2 RU 52/64 = BSGE 23, 253).

2. Eine bei der Bemessung der MdE zu berücksichtigende unbillige Härte liegt auch nicht darin, daß erst unter Heranziehung des § 581 Abs 2 RVO eine MdE im rentenberechtigenden Grade angenommen und damit ein Anspruch auf eine Verletztenrente begründet werden kann (vgl BSG 1983-06-23 2 RU 13/82 = SozR 2200 § 581 Nr 18).

 

Normenkette

RVO § 581 Abs 2 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 27.05.1982; Aktenzeichen L 7 U 1544/81)

SG Mannheim (Entscheidung vom 29.05.1981; Aktenzeichen S 3 U 2672/79)

 

Tatbestand

Der im Jahre 1937 geborene Kläger, der während des Revisionsverfahrens gestorben ist, war wegen der Folgen eines am 29. September 1977 erlittenen Unfalls (Sturz von einer Leiter aus drei Meter Höhe) bis zum 15. Januar 1978 arbeitsunfähig. Die Beklagte gewährte ihm für die Zeit vom 16. Januar 1978 bis zum 30. April 1978 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH. Eine Rente über diesen Zeitpunkt hinaus lehnte sie ab, da eine rentenberechtigende MdE nicht mehr vorgelegen habe (Bescheid vom 26. Oktober 1979).

Die hiergegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 29. Mai 1981). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und im Urteil vom 27. Mai 1982 zur Begründung ua ausgeführt: Aus medizinischen Gründen betrage die MdE des Klägers vom 1. Mai 1978 an nicht mehr als 10 vH. Auf chirurgischem Gebiet liege seitdem keine MdE, auf HNO-fachärztlichem Gebiet eine MdE von nur 10 vH vor. Auf neurologischem Gebiet betrage die MdE bereits seit dem 16. Januar 1978 weniger als 10 vH. Da sich die Gesundheitsstörungen auf HNO-ärztlichem und neurologischem Gebiet teilweise überschnitten, habe die unfallbedingte Gesamt-MdE vom 1. Mai 1978 an weit unter 20 vH gelegen. Eine Erhöhung der MdE nach § 581 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) sei nicht vorzunehmen. Zwar könne der Kläger wegen unfallbedingter Schwindelattacken nicht mehr auf Leitern und Gerüsten arbeiten und deshalb einen Teil der üblichen Malertätigkeiten - zB Tapezieren, Wände und Decken streichen sowie Außenarbeiten - nicht mehr verrichten. Die allgemeine Erwerbsfähigkeit des Klägers sei durch die Unfallfolgen aber nur geringgradig eingeschränkt. Er sei nicht gehindert, seinen Malerberuf mit Einschränkungen weiter auszuüben, zB beim Streichen von Türen, Fenstern und Wänden vom Boden aus. Außerdem könne er die durch Ausbildung und Beruf erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse auch noch durchaus zB als Verkäufer in einem Farbengeschäft oder in einem Heimwerkermarkt einsetzen.

Der Kläger hat Revision eingelegt, die vom LSG mit der Begründung zugelassen worden ist, es sei von grundsätzlicher Bedeutung, ob ein Maler mit Gesellenprüfung beruflich besonders betroffen sei, wenn er wegen der Unfallfolgen seinen Beruf nur mit Einschränkungen ausüben könne. Er trägt ua vor: Schon aus medizinischer Sicht betrage die MdE zumindest 20 vH wegen der Wahrscheinlichkeit eines öfter auftretenden Schwindelanfalls. Jedenfalls sei der Anspruch auf eine Verletztenrente wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit nach § 581 Abs 2 RVO begründet. Das LSG habe verkannt, daß der Malerberuf zwangsläufig überwiegend nur auf Gerüsten und sonst erhöhten Arbeitsplätzen verrichtet werden könne. Nur die gröbsten Arbeiten, die überwiegend von ungelernten oder eingewiesenen Hilfskräften erledigt würden, seien vom Boden aus durchzuführen; dies sei ihm aber nicht zuzumuten. Seinem erlernten Beruf vergleichbare Tätigkeiten gebe es nicht, sie wären ihm aber auch im Hinblick auf sein Alter, seine unfallbedingten Schwindelerscheinungen sowie seine mangelnden Kenntnisse und Fähigkeiten nicht zuzumuten.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

unter Aufhebung der Urteile des SG und des LSG sowie des Bescheides der Beklagten vom 26. Oktober 1979 die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente über den 30. April 1978 hinaus zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Durch den Tod des Revisionsklägers ist eine Unterbrechung des Revisionsverfahrens nicht eingetreten (§ 202 SGG iVm §§ 239, 246 der Zivilprozeßordnung). Die Revision ist nicht begründet.

Das LSG hat zu Recht einen Anspruch des Klägers auf Gewährung von Verletztenrente über den 30. April 1978 hinaus verneint. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die mit durchgreifenden Verfahrensrügen nicht angefochten sind (§ 170 Abs 3 Satz 1 SGG), liegt bei dem Kläger nach der aufgrund des § 581 Abs 1 RVO vorzunehmenden Schätzung von diesem Zeitpunkt an eine MdE im rentenberechtigenden Grade nicht mehr vor. Ein Rentenanspruch ist entgegen der Auffassung der Revision auch nicht aus der in § 581 Abs 2 RVO getroffenen Regelung herzuleiten.

Nach § 581 Abs 1 RVO ist Verletztenrente entsprechend dem Ausmaß der MdE zu gewähren. Diese Vorschrift verdeutlicht § 581 Abs 2 RVO dahin, daß bei der Bemessung der MdE gemäß § 581 Abs 1 RVO Nachteile zu berücksichtigen sind, die der Verletzte dadurch erleidet, daß er bestimmte, von ihm erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Unfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen kann, soweit sie nicht durch sonstige Fähigkeiten ausgeglichen werden, deren Nutzung ihm zugemutet werden kann. Diese Regelung läßt auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung eine allgemeine Berücksichtigung der besonderen beruflichen Betroffenheit anders als nach § 30 Abs 2 des Bundesversorgungsgesetzes nicht zu. Dies würde vielmehr den Voraussetzungen und der gegenüber dem Versorgungsrecht anders gearteten Systematik des Unfallversicherungsrechts widersprechen. Eine Höherbewertung der MdE im Rahmen des § 581 Abs 2 RVO rechtfertigende Nachteile liegen im allgemeinen nur vor, wenn die Nichtberücksichtigung von Ausbildung und Beruf bei der Bewertung der MdE im Einzelfall zu einer unbilligen Härte führen würde (ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats seit BSGE 23, 253, 255, der sich der 5. Senat - SozR Nr 12 zu § 581 RVO - und der 8. Senat des BSG - zB in BG 1975, 521 - angeschlossen haben; s auch Urteil vom 23. Juni 1983 - 2 RU 13/82 - mwN).

Wie der erkennende Senat in seinem ebenfalls einen unfallverletzten Maler betreffenden Urteil vom 25. August 1965 (BSGE 23, 253) bereits entschieden hat, ist eine über die Grundsätze der abstrakten Schadensmessung hinausgehende Höherbewertung der MdE nach § 581 Abs 2 RVO nicht schon deshalb gerechtfertigt, weil der Verletzte infolge des Arbeitsunfalls seinen erlernten Beruf nicht mehr ausüben kann (s auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl, S 569 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung und dem Schrifttum). Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob der Kläger, wie er mit der Revision entgegen der Auffassung des LSG geltend macht, wegen der unfallbedingten Behinderung (zeitweilige Schwindelanfälle) deshalb wie ein gelernter Maler zu beurteilen ist, der seinen Beruf überhaupt nicht mehr ausüben kann, weil die ihm trotz der Unfallfolgen noch möglichen Tätigkeiten überwiegend von ungelernten oder eingewiesenen Hilfskräften verrichtet werden könnten.

Insbesondere unter Berücksichtigung des Alters des Klägers von erst 40 Jahren im Unfallzeitpunkt hat das LSG zu Recht angenommen, daß bei der nur geringgradigen Einschränkung der Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens durch die Folgen des Unfalls eine Höherbewertung der MdE im Rahmen des § 581 Abs 2 RVO auch deshalb nicht gerechtfertigt ist, weil der Kläger seine durch Ausbildung und Beruf erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse ua auch als Verkäufer in einem Farbengeschäft oder in einem Heimwerkermarkt trotz der Unfallfolgen noch einsetzen konnte. Schließlich liegt eine bei der Bemessung der MdE zu berücksichtigende unbillige Härte auch nicht darin, daß - wie im vorliegenden Fall - erst unter Heranziehung des § 581 Abs 2 RVO eine MdE im rentenberechtigenden Grade angenommen und damit ein Anspruch auf eine Verletztenrente begründet werden kann (BSG SozR Nr 9 zu § 581 RVO; BSG Urteile vom 31. Oktober 1972 - 2 RU 169/70 - und vom 23. Juni 1983 aaO; Brackmann aaO S 569a mwN).

Das LSG hat danach zu Recht entschieden, daß dem Kläger über den 30. April 1978 hinaus eine Verletztenrente nicht zustand, weil die unfallbedingte MdE seitdem einen rentenberechtigenden Grad von mindestens 20 vH (§ 581 Abs 1 RVO) nicht mehr erreichte. Die Revision ist deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663389

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