Leitsatz (amtlich)

1. Ist in einer Versorgungsstreitsache ein Urteil des Versorgungsgerichts Berlin vor dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (1954-01-01) verkündet, aber erst nach diesem Zeitpunkt zugestellt worden, so ist nach Einlegung eines Rechtsmittels die Sache auf das Landessozialgericht Berlin übergegangen.

2. Die nach altem Recht zulässig eingelegte Berufung gegen das Urteil des Versorgungsgerichts Berlin bleibt auch nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes und nach dem Übergang der Sache auf das Landessozialgericht Berlin eine zulässige Berufung, wenn in diesem Falle ein Sozialgericht die Berufung nach SGG § 150 Nr 1 hätte zulassen müssen.

 

Normenkette

SGG § 150 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, § 218 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

1. Unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Berlin vom 25. Mai 1954 wird die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Versorgungsgerichts Berlin vom 21. Dezember 1953 zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Die Klägerin war in erster Ehe mit ... verheiratet, der als Volkssturmmann in russische Gefangenschaft geriet und durch Entscheidung des Amtsgerichts ... vom 2. November 1950 für tot erklärt wurde; als Todestag wurde der 31. August 1945 festgestellt. Am 3. März 1951 ging die Klägerin eine zweite Ehe mit ... ein und beantragte am 9. August 1951 beim Versorgungsamt Hinterbliebenenversorgung (Abfindung) nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) aus Anlaß des Todes ihres ersten Ehemannes.

Das Versorgungsamt II Berlin hat durch Bescheid vom 21. November 1952 die Gewährung einer Heiratsabfindung (§ 44 BVG) abgelehnt, da die Klägerin im Monat ihrer Wiederverheiratung keinen Anspruch auf Witwenrente (§ 38 BVG) gehabt habe. Ihr Einspruch ist durch Entscheidung des Landesversorgungsamts ... vom 2. März 1953 zurückgewiesen worden. Das Versorgungsgericht ... hat durch Urteil vom 21. Dezember 1953 die Klage, mit der die Klägerin die Verurteilung des Beklagten, ihr eine Heiratsabfindung zu gewähren, begehrt hatte, abgewiesen. Gegen dieses ihr am 22. Januar 1954 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 19. Februar 1954 beim Landessozialgericht Berlin Berufung eingelegt, hierbei ihren Klageantrag wiederholt und außerdem die Verurteilung des Beklagten, ihr für den Monat März 1951 Witwenrente zu gewähren, beantragt.

Das Landessozialgericht Berlin hat durch Urteil vom 25. Mai 1954, zugestellt am 11. Juni 1954, die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Die Zulässigkeit der Berufung richte sich nach den §§ 143 ff. des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), und zwar sei die Berufung hinsichtlich des Anspruchs auf Witwenrente (für einen bereits abgelaufenen Zeitraum) nach § 148 Nr. 2, hinsichtlich des Anspruchs auf Heiratsabfindung (eine einmalige Leistung) nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG unzulässig; § 150 Nr. 1 SGG könne nicht sinngemäß angewendet werden. Das Landessozialgericht hat die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen, weil es sich bei der Frage, ob die Berufung zulässig ist, um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung handele, die vom 6. Senat des Landessozialgerichts Berlin in einem Urteil vom 7. Mai 1954 in anderem Sinne entschieden worden sei.

Gegen dieses Urteil, zugestellt am 11. Juni 1954, hat die Klägerin am 8. Juli 1954 Revision eingelegt mit dem Antrag:

a) das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 25. Mai 1954 aufzuheben,

b) zu erkennen, daß das Rechtsmittel der Berufung gegen das Urteil des ersten Rechtszuges gegeben ist,

c) die Sache alsdann zur erneuten Verhandlung an das Landessozialgericht Berlin gem. § 170 Abs. 2 SGG zurückzuverweisen,

d) den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin auch die Kosten des zweiten und dritten Rechtszuges nach Maßgabe des § 193 SGG zu erstatten.

Zur Begründung der Revision macht die Klägerin in einem am 23. Juli 1954 eingegangenen Schriftsatz vom 22. Juli 1954 geltend, daß die Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG ohne weiteres zulässig sei; im übrigen wird auf ihren Schriftsatz Bezug genommen. Der Beklagte hat die Zurückweisung der Revision beantragt; auf seinen Schriftsatz vom 18. Januar 1955 wird Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft; sie ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden. Die Revision konnte aber nur insoweit Erfolg haben, als das die Berufung der Klägerin als unzulässig verwerfende Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben war. Dagegen mußte die Berufung der Klägerin gegen das ihre Klage abweisende Urteil des Versorgungsgerichts als unbegründet zurückgewiesen werden.

Das Urteil des Versorgungsgerichts ... vom 21. Dezember 1953, das erst am 22. Januar 1954 der Klägerin zugestellt wurde, war beim Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (1. Januar 1954) noch nicht rechtskräftig. Da es auf Grund mündlicher Verhandlung erlassen wurde, ist es nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen (vgl. § 1671 Abs. 1, § 1679 RVO; § 51 der Verordnung über Geschäftsgang und Verfahren der Versicherungsämter, § 134 des Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen vom 10.1.1922, alle in der bis zum 31.12.1953 gültigen Fassung) und in Ermangelung entgegenstehender Vorschriften des Gesetzes über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihren Hinterbliebenen vom 24. Juli 1950 (VOBl. für GroßBerlin 1950 S. 318) i. d. F. des Art. I des Ersten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung von Vorschriften auf dem Gebiete der Kriegsopferversorgung vom 22. Dezember 1952 (GVBl. für Berlin S. 1184) mit der Verkündung wirksam geworden. Es ist daher ein Urteil des Versorgungsgerichts ... geblieben, auch nachdem das Versorgungsgericht infolge Einführung des Sozialgerichtsgesetzes in Berlin mit dem Ablauf des Jahres 1953 zu bestehen aufgehört hatte (§ 12 des Ausführungsgesetzes zum SGG vom 22.12.1953 - GVBl. für Berlin 1953 S. 1521) und obwohl der Eintritt der Rechtskraft mindestens bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist, deren Lauf frühestens mit der Zustellung des Urteils begann, gehemmt war. Gegen dieses Urteil war nach § 41 Abs. 3 in Verb. mit § 45 Abs. 2 des obengenannten Berliner Gesetzes vom 24. Juli 1950 innerhalb eines Monats nach seiner Zustellung die Berufung bei dem Oberversorgungsgericht ... zulässig.

Die Streitsache ist daher am 1. Januar 1954 noch rechtshängig, und zwar beim Versorgungsgericht ... anhängig gewesen. Sie ist nach § 218 Abs. 5 SGG in dem Schwebezustand, in dem sie sich zu diesem Zeitpunkt befand, auf das Sozialgericht Berlin übergegangen und nach Anfechtung des versorgungsgerichtlichen Urteils kraft der Anfallwirkung des eingelegten Rechtsmittels beim Landessozialgericht Berlin anhängig geworden. Die Zustellung des Urteils des Versorgungsgerichts ... vom 21. Dezember 1953 und der Zeitpunkt der Zustellung haben nur Bedeutung für den Beginn der Rechtsmittelfrist.

Nachdem das Landessozialgericht zuständig geworden war, hat sich die Sache hinsichtlich des Verfahrensstandes von jenen Fällen nicht unterschieden, die am 1. Januar 1954 beim Oberversorgungsgericht ... anhängig waren und gemäß § 218 Abs. 6 SGG auf das Landessozialgericht Berlin übergegangen sind. Da das Landessozialgericht im Gesamtaufbau der Sozialgerichtsbarkeit die Stellung eines Berufungsgerichts im Urteilsverfahren einnimmt (§ 29 SGG) und da § 218 Abs. 6 SGG nichts darüber bestimmt, in welchem Verfahren die übergegangenen Sachen zu erledigen sind, gilt hier dasselbe wie nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 20.9.1955 - 9 RV 46/54 -) im Falle des § 215 Abs. 3 SGG, der ebenfalls den Übergang rechtshängiger Sachen auf das Landessozialgericht in denjenigen Ländern betrifft, in denen es schon vor dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes einen zweistufigen Aufbau der Versicherungsbehörden und Versorgungsgerichte gab. Die Rechtsmittel in den übergegangenen Sachen sind daher grundsätzlich als Berufung neuen Rechts (§§ 143 bis 159 SGG) zu behandeln.

Die Auffassung des Vorderrichters, daß im vorliegenden Falle die Zulässigkeit der Berufung ohne weiteres nach den §§ 143 ff. SGG sich richte und daß die Übergangsvorschriften in den §§ 218 215 SGG nicht heranzuziehen seien, trifft nicht zu. Um einen Neufall handelt es sich nicht, weil nicht das Urteil eines Sozialgerichts (vgl. § 143 SGG), sondern das Urteil eines Versorgungsgerichts angefochten ist.

Das von der Klägerin gegen das Urteil des Versorgungsgerichts Berlin eingelegte Rechtsmittel war daher zweimal auf seine Zulässigkeit hin zu prüfen, nämlich nach alten und nach neuem Recht. Es wird schon durch eine Vorschrift allein, die das Rechtsmittel ausschließt, gleichgültig ob sie dem alten oder dem neuen Recht angehört, zu Fall gebracht. Es bedurfte daher zunächst der ausdrücklichen Feststellung, daß ein Berufungs-Ausschließungsgrund nicht vorlag; denn ein nach altem Recht unzulässiges Rechtsmittel kann in einem Übergangsfall nicht deshalb zulässig werden, weil es in einem Neufall nach dem Sozialgerichtsgesetz zulässig wäre (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 20.9.1955 - 9 RV 46/54 -).

Die weitere Prüfung ergibt, daß bei Ansprüchen von der Art, wie sie die Klägerin im Berufungsverfahren geltend gemacht hat, die Berufung im allgemeinen nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 und § 148 Nr. 2 SGG unzulässig ist. Insoweit ist der Rechtsauffassung des Landessozialgerichts beizutreten; es kann ihm aber darin nicht gefolgt werden, daß es eine sinngemäße Anwendung des § 150 Nr. 1 SGG nicht für möglich hielt. Für ein Sozialgericht wären die Voraussetzungen dafür gegeben gewesen, nach § 150 Nr. 1 SGG die Berufung zuzulassen, da der Anspruch der Klägerin auf Heiratsabfindung (§ 44 BVG) von der Rechtsfrage abhängt, ob § 44 Satz 2 und 3 BVG i. d. F. des Zweiten Änderungsgesetzes vom 7. August 1953 (BGBl. I S. 862) auf solche Fälle zurückwirkt, in denen die Witwe zwar nach dem Inkrafttreten des BVG (1. Oktober 1950), aber vor dem 11. August 1952, dem frühesten Beginn der in Satz 2 genannten Jahresfrist sich wiederverheiratet hat. Diese Frage hatte zur Zeit der Entscheidung des Landessozialgerichts grundsätzliche Bedeutung und war damals vom Bundessozialgericht noch nicht entschieden.

§ 150 Nr. 1 SGG ist allerdings, wie in der Begründung des angefochtenen Urteils ausgeführt ist, unmittelbar nur auf Urteile der Sozialgerichte, nicht auf die der früheren Versorgungsgerichte anwendbar. Das Landessozialgericht hat aber verkannt, daß gerade deshalb, weil eine Zulassung der Berufung in Altfällen durch das Gericht des ersten Rechtszuges nicht möglich war, dem Landessozialgericht die Aufgabe zufällt zu prüfen, ob es sich um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung handelt, und bejahendenfalls in der Sache selbst zu entscheiden (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 16.6.1955 - 8 RV 461/54 -).

Da das Landessozialgericht durch das angefochtene Urteil die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen und somit eine Sachentscheidung zu Unrecht abgelehnt hat, war das angefochtene Urteil aufzuheben. Dem Senat erschien es nicht tunlich, die Sache an das Landessozialgericht zurückzuverweisen, da der Sachverhalt einwandfrei feststeht und die Entscheidung nur von Rechtsfragen abhängt. Der Senat hat daher nach § 170 Abs. 2 SGG in der Sache selbst entschieden.

Die Klägerin kann sich nicht auf die jüngste Fassung des § 44 Satz 2 und 3 BVG berufen. Denn die Sätze 2 und 3, eingefügt durch das Zweite Gesetz zur Änderung und Ergänzung des BVG vom 7. August 1953 (BGBl. I S. 862), finden keine Anwendung, wie das Bundessozialgericht bereits in einem Urteil vom 24. August 1955 - 9 RV 184/55 - ausgesprochen hat, wenn die Eheschließung der Witwe vor dem 11. August 1952, d. h. vor dem frühesten Beginn der in Satz 2 genannten Jahresfrist, stattgefunden hat. Der Anspruch der Klägerin war daher nach § 44 BVG in der ursprünglichen, vom 1. Oktober 1950 an geltenden Fassung zu beurteilen. Nach dieser Vorschrift konnte aber die Klägerin, wie das Versorgungsgericht ohne Rechtsirrtum angenommen hat, eine Heiratsabfindung nicht beanspruchen, weil diese einmalige Leistung dem Wesen der Abfindung entsprechend nur an die Stelle eines Anspruchs auf Witwenrente im Sinne des § 38 BVG tritt, ein solcher Anspruch aber der Klägerin für den Heiratsmonat nicht zustand. Nach § 61 Abs. 2 BVG kann die Rente frühestens mit dem Ersten desjenigen Monats beginnen, in welchem der Anspruch angemeldet worden ist. Die Klägerin hat die Witwenrente erst im August 1951 beantragt, so daß ihr Antrag nicht mehr auf den 1. März 1951 zurückwirken konnte. Nach dem oben erwähnten Urteil des Bundessozialgerichts vom 24. August 1955 - 9 RV 184/55 - ist der Anspruch auf Heiratsabfindung auf Grund des § 44 BVG a. F. nicht begründet, wenn im Zeitpunkt der Wiederverheiratung die Witwenrente noch nicht beantragt oder festgestellt war und auch nicht mehr festgestellt werden konnte. Hiernach hat das Versorgungsgericht ... die Klage mit Recht abgewiesen.

Die Entscheidung im Kostenpunkt beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2373428

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