Orientierungssatz

Wie sich aus dem Gesetzeswortlaut und einem Vergleich der Vorschrift des AVG § 140 Abs 3 (= RVO § 1418) mit der Bestimmung des AVG § 140 Abs 2 ergibt, muß der Versicherte einer gesteigerten Sorgfalt genügt haben, um die Voraussetzungen der Vergünstigung zu erfüllen, die in AVG § 140 Abs 3 für besonders gelagerte Ausnahmefälle über die Vorschriften des AVG § 140 Abs 1 und 2 hinaus geschaffen ist.

 

Normenkette

AVG § 140 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23, Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1418 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, Abs. 3 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Juni 1969 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der im Jahre 1920 geborene Kläger hat nach dem erfolgreichen Besuch einer höheren Schule von 1938 bis 1945 Wehr- und Kriegsdienst geleistet. Von 1945 bis 1953 studierte er Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. Er legte die beiden juristischen Staatsprüfungen und die Diplom-Prüfung ab. Vom 15. September 1953 an war er bei der Westfalenbank AG in Bochum beschäftigt. Sein Gehalt betrug im September 1953 300,- DM nebst einer Sonderzahlung von 300,- DM, im Oktober 1953 600,- DM nebst 37,- DM, im November 1953 600,- DM nebst 150,- DM, im Dezember 1953 600,- DM nebst 300,- DM und 150,- DM sowie in den Monaten Januar bis März 1954 je 600,- DM. Die Arbeitgeberin nahm an, daß er wegen Überschreitens der damaligen Jahresarbeitsverdienstgrenze von 9.000,- DM nicht versicherungspflichtig sei. Am 15. September 1953 wurde für den Kläger die Versicherungskarte Nr. 1 der Angestelltenversicherung ausgestellt. Darin sind ua. für 1953 zwei Beiträge und für 1954 sechs Beiträge der Klasse XI verwendet. Auch für die Folgezeit sind freiwillige Beiträge entrichtet. Ab 1. Januar 1968 werden Pflichtbeiträge abgeführt.

Durch Bescheid vom 26. Februar 1964 stellte die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) B auf Antrag der Beklagten fest, daß der Kläger in der Zeit vom 15. September 1953 bis 30. April 1954 mit seinem Gehalt von damals 600,- DM monatlich trotz der gewährten Zulagen die Jahresarbeitsverdienstgrenze nicht überschritten hatte und deshalb angestellten- und arbeitslosenversicherungspflichtig gewesen war, ab 1. Mai 1954 jedoch nicht mehr, weil nunmehr die Jahresarbeitsverdienstgrenze nach Erhöhung des Gehalts auf 750,- DM monatlich unter Berücksichtigung der tariflichen und freiwilligen Zulagen überschritten war. Beiträge forderte die AOK Bochum wegen Verjährung nicht mehr nach.

Wiederholte Anträge des Klägers, die für 1953 und 1954 entrichteten, als freiwillige bezeichneten Beiträge in Pflichtbeiträge umzuwandeln oder ihm nachträglich die Entrichtung von Pflichtbeiträgen zu gestatten, waren erfolglos. Die Beklagte vertrat die Auffassung, nach Ablauf der Fristen des § 29 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und des § 140 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) gebe es keine Möglichkeit zur Bereinigung der Beitragsleistung mehr. Insbesondere lägen die Voraussetzungen für eine nachträgliche Zulassung einer Nachentrichtung nach § 140 Abs. 3 AVG nicht vor. Das Fehlen der Pflichtbeiträge stelle für den Kläger keine besondere Härte dar, weil er zu Recht die Selbstversicherung in der Angestelltenversicherung begonnen habe und berechtigt sei, weitere freiwillige Beiträge zu entrichten. Er könne daher die Wartezeit für das Altersruhegeld erfüllen. Daß er wegen Fehlens einer Pflichtversicherung Nachteile bei der Anrechnung von Ersatz- und Ausfallzeiten habe, rechtfertige eine Zulassung der Nachentrichtung nicht. Außerdem habe der Kläger es an der nach den Umständen des Falles gebotenen Sorgfalt fehlen lassen.

Daraufhin erhob der Kläger schließlich Klage mit dem Antrag,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 9. April 1964 in der Form des Widerspruchsbescheides vom 2. August 1965 zu verurteilen, die in der Zeit vom 15. September 1953 bis 30. April 1954 entrichteten freiwilligen Beiträge als Pflichtbeiträge anzuerkennen,

hilfsweise,

ihm zu gestatten, für diese Zeit Pflichtbeiträge nachzuentrichten.

Mit diesen Anträgen hatte der Kläger beim Sozialgericht (SG) Duisburg keinen Erfolg. Dagegen gab das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen dem Hauptantrage statt; es hob durch Urteil vom 21. März 1967 die Bescheide der Beklagten auf, änderte das Urteil des SG vom 26. Juli 1966 und stellte fest, daß die für Oktober und Dezember 1953 sowie für Februar und April 1954 entrichteten Beiträge Pflichtbeiträge seien.

Durch Urteil vom 17. Oktober 1968 (1 RA 177/67 - SozR Nr. 1 zu § 1446 RVO aF = Breithaupt 1969, 584) hob der Senat auf die Revision der Beklagten das Urteil des LSG vom 21. März 1967 auf. Er entschied, daß eine Umwandlung oder Umdeutung der erwähnten freiwilligen Beiträge in Pflichtbeiträge nicht möglich sei. Demgemäß wurde die Klage auf Feststellung, daß die für Oktober und Dezember 1953 sowie für Februar und April 1954 entrichteten Beiträge Pflichtversicherungsbeiträge seien, abgewiesen. Im übrigen wurde die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung über den erhobenen Hilfsanspruch auf Gestattung der Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen nach § 140 Abs. 3 AVG an das LSG zurückverwiesen.

Der Kläger hat nunmehr vor dem LSG beantragt,

die Bescheide der Beklagten vom 9. April und 28. September 1964 sowie den Widerspruchsbescheid vom 2. August 1965 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, über die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 140 Abs. 3 AVG einen neuen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erteilen.

Das LSG hat diese Klage durch Urteil vom 20. Juni 1969 (ZfS 1970, 24; Breithaupt 1970, 79) abgewiesen, indem es die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Duisburg vom 26. Juli 1966 zurückwies. Es ist der Auffassung, der Kläger könne die begehrte Gestattung der Nachentrichtung schon deswegen nicht beanspruchen, weil es an der Voraussetzung fehle, daß er trotz Beobachtung jeder nach den Umständen des Falles gebotenen Sorgfalt das Unterlassen der Beitragsentrichtung nicht habe verhindern können. Damit bedürfe es keiner Entscheidung der Frage mehr, ob überhaupt ein Fall besonderer Härte vorliege, wie er in § 140 Abs. 3 AVG verlangt werde.

Das LSG hat in seinem Urteil die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen. Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt mit dem Antrage,

das angefochtene Urteil aufzuheben und entsprechend seinen letzten Anträgen vor dem LSG zu erkennen.

Gerügt wird unrichtige Anwendung des § 140 Abs. 3 AVG. Die Beklagte habe das ihr dort eingeräumte Ermessen fehlerhaft ausgeübt.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

da das LSG zu Recht davon ausgegangen sei, daß der Kläger nicht jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet habe.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II.

Die Revision ist nicht begründet.

Auszugehen ist von § 140 AVF idF des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG). Denn da die Nachentrichtung erst jetzt erfolgen soll, kann sich ihre Zulässigkeit und Wirksamkeit nur nach neuem Recht richten. Das wird durch Art. 2 § 49 AnVNG bestätigt. Danach können Beiträge für die Zeit vor dem Inkrafttreten des AnVNG nach dem 31. Dezember 1956 innerhalb der Fristen des § 140 AVG noch in den an diesem Tage maßgebenden Beitragsklassen entrichtet werden. Für die Nachentrichtung wird also ausdrücklich bereits auf das neue Recht, nämlich auf § 140 AVG nF Bezug genommen.

Nach § 140 Abs. 1 AVG müssen Pflichtbeiträge und freiwillige Beiträge ebenso wie nach früherem Recht grundsätzlich innerhalb von zwei Jahren nach Schluß des Kalenderjahres entrichtet werden, für das sie gelten sollen. Über diese Zeit hinaus hat der Versicherungsträger die Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen binnen zwei weiteren Jahren zuzulassen, wenn sie ohne Verschulden des Versicherten nicht rechtzeitig entrichtet worden sind (Abs. 2). In Fällen besonderer Härte kann die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte die Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen auch nach Ablauf der in Absatz 2 bezeichneten Frist zulassen und hierfür eine Frist bestimmen, wenn der Versicherte trotz Beobachtung jeder nach den Umständen des Falles gebotenen Sorgfalt das Unterlassen der Beitragsentrichtung nicht verhindern konnte (Abs. 3).

Die hier allein in Betracht kommende Gestattung der Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen nach § 140 Abs. 3 AVG ist eine Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers, die von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nur dann beanstandet werden darf, wenn dieser die gesetzlichen Grenzen seines Ermessens überschritten oder von ihm in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat, § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG. Zutreffend hat das LSG ausgeführt, daß der Kläger nicht "jede" nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet hat. Es genügt nach dem Gesetz nicht, daß der Versicherte trotz Beobachtung einer oder "der" nach den Umständen des Falles gebotenen Sorgfalt das Unterlassen der Beitragszahlung nicht verhindern konnte und ihn kein Verschulden trifft. Wie sich aus dem Gesetzeswortlaut und einem Vergleich der Vorschrift des § 140 Abs. 3 mit der Bestimmung des § 140 Abs. 2 AVG ergibt, muß der Versicherte vielmehr einer gesteigerten Sorgfalt genügt haben, um die Voraussetzungen der Vergünstigung zu erfüllen, die in § 140 Abs. 3 AVG für besonders gelagerte Ausnahmefälle über die Vorschriften des § 140 Abs. 1 und 2 AVG hinaus geschaffen ist. Eine solche gesteigerte Sorgfalt hat der Kläger aber gerade nicht beobachtet.

Nach den nicht angegriffenen und damit für den Senat bindenden Feststellungen des LSG hat er darauf vertraut, daß seine Arbeitgeberin die Frage seiner Versicherungspflicht richtig beurteilt habe. Er hat damit im Grunde genommen überhaupt nichts dazu getan, um das Unterlassen der Beitragsentrichtung zu verhindern. Hätte er zB. eine Entscheidung der zuständigen Einzugsstelle über seine Versicherungspflicht oder Versicherungsfreiheit herbeigeführt, so hätte, selbst wenn ihm dann eine falsche Auskunft erteilt worden wäre und er deshalb nicht auf einer Entrichtung von Pflichtbeiträgen bestanden hätte, davon gesprochen werden können, daß er jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet hatte. Das gleiche hätte möglicherweise zu gelten, wenn er die Rechtslage wenigstens selbst nachgeprüft hätte und dabei einem Rechtsirrtum erlegen wäre. Das behauptet der Kläger jedoch selbst nicht, er macht auch in der Revisionsbegründung nur wieder geltend, daß es für ihn vollkommen fraglos gewesen sei, daß die Personalabteilung einer großen Bank schon richtig handeln werde. Ein solches Verhalten stellt jedenfalls keine Beobachtung jeder nach den Umständen des Falles gebotenen Sorgfall im Sinne des § 140 Abs. 3 AVG dar.

Damit läßt die Beurteilung des LSG keinen Rechtsirrtum erkennen. Die Revision ist daher als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669891

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