Entscheidungsstichwort (Thema)

Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente nach § 587 Abs 1 RVO

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Berufung betrifft nur dann die Neufeststellung einer Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse iS von § 145 Nr 4 SGG, wenn die Verhältnisse, deren Änderung zum Anlaß der Neufeststellung genommen wird, zuvor bereits Grundlage der Erstfeststellung gewesen sind (Verdeutlichung zu BSG 1969-08-27 2 RU 84/68 = SozR Nr 18 zu § 145 SGG).

2. Zur Anwendung des § 587 RVO (Anschluß an BSG 1969-08-27 2 RU 195/66 = BSGE 30, 64).

 

Orientierungssatz

1. Einem Verletzten steht die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente nach § 587 Abs 1 RVO nur zu, wenn nach den Umständen des Einzelfalles die Aussicht besteht, daß er in absehbarer Zeit trotz seiner Unfallfolgen wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen wird (vgl BSG 1969-08-27 2 RU 195/66 = BSGE 30, 64).

2. Ist der Verletzte bereits seit mehr als 3 Jahren ohne Arbeitseinkommen und sind keine Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, daß er in absehbarer Zeit wieder in das Arbeitsleben zurückkehren wird, dann ist dieser Zustand nicht als ein nur vorübergehender anzusehen, für den die Erhöhung der Teilrente nach § 587 RVO auf die Vollrente allein bestimmt ist.

 

Normenkette

SGG § 145 Nr 4 Fassung: 1958-06-25; RVO § 587 Abs 1 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 25.02.1980; Aktenzeichen L 3 U 728/79)

SG Fulda (Entscheidung vom 10.04.1979; Aktenzeichen S 3b U 31/78)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Erhöhung seiner Teilrente gem § 587 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auf die Vollrente.

Er erlitt als Facharbeiter bei einem Straßenbauunternehmen am 29. April 1975 einen Arbeitsunfall. Die Folgen des Unfalls stellte die Beklagte fest und gewährte dem Kläger eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um zunächst 50 vH und ab 8. September 1976 um 40 vH (Bescheid vom 8. Dezember 1976). Durch Bescheid vom 14. April 1977 setzte sie die Rente ah 1. Juni als Dauerrente nach einer MdE um 30 vH fest. Der Widerspruch gegen diese Bescheide blieb erfolglos (Bescheid vom 21. Juli 1977). Während des Klageverfahrens lehnte die Beklagte die Erhöhung der Teilrente gem § 587 RVO auf die Vollrente mit Bescheid vom 23. Februar 1978 ab, weil nicht absehbar sei, ob und wann der Kläger noch einmal in das Berufsleben eingegliedert werden könne.

Das Sozialgericht (SG) Fulda hat mit Urteil vom 10. April 1979 die Klage abgewiesen, soweit der Kläger die Vollrente wegen weiterer Unfallfolgen begehrte, zugleich aber die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Vollrente nach § 587 RVO ab 23. August 1976 zu zahlen.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 25. Februar 1980 in Abänderung des Urteils des SG die Klage abgewiesen.

Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 145 Nr 3 und 150 Nr 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Zu Unrecht habe das LSG die Berufung der Beklagten für zulässig erachtet. Es habe nämlich nicht feststellen dürfen, daß das SG als Tatbestandsmerkmal des § 587 RVO einen "vorübergehenden Zustand" der Arbeitseinkommenslosigkeit angesehen habe. Dafür biete weder der in den Entscheidungsgründen wiedergegebene Gesetzestext: ... solange der Verletzte infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen ist", noch die hierauf bezügliche Feststellung des LSG: "Diese Voraussetzung liegt beim Kläger vor" einen Anhalt. Soweit das SG die Voraussetzung der vorübergehenden Arbeitseinkommenslosigkeit erwähne, gebe es nur die Auffassung der Beklagten wieder. Auf die Auslegung des § 587 Abs 1 RVO durch das SG komme es für die Zulässigkeit der Berufung nicht an; sie werde aber vorsorglich zum Gegenstand der Revision gemacht.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts

vom 25. Februar 1980 aufzuheben und die Berufung

gegen das Urteil des Sozialgerichts Fulda

vom 10. April 1979 als unzulässig zu verwerfen;

hilfsweise,

die Berufung unter Aufhebung des angefochtenen

Urteils als unbegründet zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet, soweit sie die Zeit vom 12. Juli 1976 bis zum 31. Mai 1977 (vorläufige Rente) betrifft. Im übrigen ist sie unbegründet und insoweit zurückzuweisen.

Zur vorläufigen Rente des Klägers war die Berufung grundsätzlich durch § 145 Nr 3 SGG ausgeschlossen. Dessenungeachtet wäre sie nur unter den in § 150 SGG bezeichneten Voraussetzungen zulässig gewesen. Diese haben entgegen der Auffassung des LSG jedoch nicht vorgelegen. Die Zulässigkeit der Berufung ergibt sich insbesondere nicht aus der Rüge eines wesentlichen Mangels im Verfahren des SG.

Zutreffend ist das LSG in der Frage, ob das Verfahren des SG an einem wesentlichen Mangel leidet, von der Materiell-rechtlichen Auffassung des SG ausgegangen (BSGE 2, 84; SozR Nrn 7 und 40 zu § 103 SGG). Dieses war der Auffassung, § 587 Abs 1 RVO setze zunächst voraus, daß der Kläger infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen sei. Diese Voraussetzung hat das SG nämlich als Grundlage seines Urteils ausdrücklich bejaht. Sodann hat es die Rechtsauffassung der Beklagten wiedergegeben, § 587 RVO sei unanwendbar, wenn der Verletzte nicht nur vorübergehend ohne Arbeitseinkommen sei. Hierzu hat es nach Hinweis auf die vergeblichen Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes B H seit August 1976 gemeint, eine Prognose, daß der Kläger auf absehbare Zeit nicht mehr vermittelt werden könne, sei deshalb nicht zulässig, weil jede Veränderung der Arbeitsmarktlage, insbesondere die Einrichtung von Schwerbehindertenarbeitsplätzen, ihm die Rückkehr in das Arbeitsleben ermöglichen würde. Ergänzend hierzu hat das SG schließlich noch darauf hingewiesen, daß aus dem Rentenantrag bei der Landesversicherungsanstalt nicht geschlossen werden könne, daß der Kläger nicht mehr ins Erwerbsleben zurückkehren wolle. Die materiell-rechtliche Auffassung des SG geht also dahin, daß der Anspruch aus § 587 RVO nur dem Versicherten zusteht, der in das Erwerbsleben zurückkehren will, daß von einem solchen Willen aber - unbeschadet eines Rentenantrags - auch dann noch auszugehen ist, wenn trotz erheblicher Vermittlungsschwierigkeiten die Möglichkeit der Rückkehr in das Arbeitsleben - sei es nach Veränderung der Arbeitsmarktlage, sei es nach Einrichtung von Schwerbehindertenarbeitsplätzen - noch in Betracht kommt.

Vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des SG aus kam es somit nicht auf die Dauer der Arbeitseinkommenslosigkeit des Klägers, auf sein Lebensalter, auf die Arbeitsmarktlage in seinem Wohnbereich und auf die seine vollschichtige Verwendung nicht verhindernden, sondern nur belastungsmäßig einschränkenden Gesundheitsschäden an. Es mußte ihnen deshalb entgegen der Auffassung des LSG weder entscheidende Bedeutung beimessen, noch hierzu aufklären, welche Veränderungen der Arbeitsmarktlage, insbesondere in bezug auf Schwerbehindertenarbeitsplätze, sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung anbahnten. Greifen aber die Verfahrensrügen der Beklagten zu den §§ 103 und 128 SGG entgegen der Auffassung des LSG nicht durch, so verbleibt es hinsichtlich der vorläufigen Rente beim Berufungsausschluß nach § 145 Nr 3 SGG.

Zur Dauerrente hat das LSG die Berufung deshalb als durch § 145 Nr 4 SGG ausgeschlossen erachtet, weil es sich um die Neufeststellung einer Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse handele. Hierzu hat es auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. August 1969 - 2 RU 84/68 - (SozR Nr 18 zu § 145 SGG) verwiesen. Auch insoweit vermag der Senat jedoch dem LSG nicht zu folgen. Einzuräumen ist ihm allerdings, daß der Leitsatz des zitierten Urteils seine Auffassung zu stützen scheint. Wie das BSG aber in den Gründen hierzu übereinstimmend mit der Rechtsauffassung des erkennenden Senats ausgeführt hat, haben Änderungen in den Verhältnissen, welche der Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente nach § 587 RVO zugrunde liegen, eine Neufeststellung der Rente zur Folge. Gerade an dieser Voraussetzung fehlt es aber in dem hier zu beurteilenden Fall. Denn streitig ist hier nicht die Änderung der bereits gem § 587 RVO auf die Vollrente erhöhten Teilrente; streitig sind vielmehr - erstmals - die Voraussetzungen dieser Erhöhung überhaupt. Im angefochtenen Bescheid vom 23. Februar 1978 hat sie die Beklagte verneint und somit unter dem Gesichtspunkt des § 587 RVO keine Neufeststellung, sondern eine Erstfeststellung getroffen. Diese fällt jedoch nicht unter § 145 Nr 4 SGG.

Nach § 145 Nr 4 SGG wäre die Berufung allerdings auch dann ausgeschlossen, wenn sie den Grad der MdE beträfe, es sei denn, daß die Schwerbeschädigteneigenschaft (vgl hierzu BSG in SozR Nr 5 zu § 145 SGG) davon abhinge. Insoweit bedarf es jedoch keiner Entscheidung des Senats, denn wie immer man die Frage beurteilt, versagt der Berufungsausschluß durch § 145 Nr 4 SGG. Verneint man bei der auf § 587 RVO gestützten Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente einen Einfluß auf die Höhe der MdE, greift § 145 Nr 4 SGG schon aus diesem Grunde nicht ein. Bejaht man aber den Einfluß auf die Höhe der MdE, bedeutet die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente nach § 587 RVO auch den Eintritt der Schwerbeschädigteneigenschaft, so daß § 145 Nr 4 SGG deshalb die Berufung nicht ausschließt.

Entgegen der Auffassung des LSG war somit hinsichtlich des Anspruchs auf Dauerrente die Berufung der Beklagten nicht durch § 145 SGG ausgeschlossen; auf die Voraussetzungen des § 150 SGG kam es insoweit nicht mehr an.

Über den Anspruch auf Dauerrente - ab 1. Juni 1977 - und über die im Berufungsverfahren allein noch streitige Frage, ob diese Rente gem § 587 RVO auf die Vollrente zu erhöhen ist, hat das LSG sachlich befinden dürfen. Es hat hierüber im Ergebnis auch zutreffend entschieden.

Wie der 2. Senat des BSG bereits im Urteil vom 27. August 1969 - 2 RU 195/66 - (BSGE 30, 64) entschieden hat, steht einem Verletzten die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente nach § 587 Abs 1 RVO nur zu, wenn nach den Umständen des Einzelfalles die Aussicht besteht, daß er in absehbarer Zeit trotz seiner Unfallfolgen wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen wird. Dieser insbesondere mit dem Hinweis auf die Rechtsentwicklung, auf die Notwendigkeit der Differenzierung zwischen Vollrenten nach § 581 und § 587 RVO und auf die Regelung des § 582 RVO überzeugend begründeten Entscheidung ist der erkennende Senat bereits in zwei Entscheidungen grundsätzlich gefolgt (SozR Nr 9 zu § 587 RVO und SozR 2200 § 587 Nr 2). Es besteht kein Anlaß, hierzu erneut Stellung zu nehmen.

Nach den von der Revision nicht angegriffenen und somit gem § 163 SGG für den Senat bindenden Feststellungen des LSG vermochte der Kläger seit Beginn seiner Arbeitslosigkeit täglich noch acht Stunden lang leichte körperliche Arbeiten zu ebener Erde abwechselnd im Stehen, Sitzen und Umhergehen ohne Belastung durch schweres Heben, Tragen oder Ziehen zu verrichten. Dabei ergeben sich die Einschränkungen seiner Belastbarkeit, sowohl aus den Unfallfolgen, als auch aus den unabhängig davon bei ihm bestehenden Gesundheitsstörungen. Wegen seiner körperlichen Beeinträchtigung, seiner auf etwa 30 km im Umkreis um seinen Wohnort beschränkten Mobilität und der ungünstigen Bedingungen des Arbeitsmarktes im Zonenrandgebiet für Arbeitnehmer des Jahrganges 1924, nicht zuletzt aber auch wegen der vom Kläger unter Bezugnahme auf seinen behandelnden Arzt angegebenen Unmöglichkeit, sich einer Umschulung auf andere angelernte Tätigkeiten zu unterziehen, ist der Kläger seit seiner Arbeitslosmeldung am 23. August 1976 ohne Arbeitseinkommen. Im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 23. Februar 1978, mit dem die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente abgelehnt wurde, war er bereits seit 1 1/2 Jahren und im Zeitpunkt der Entscheidung des LSG bereits seit mehr als drei Jahren ohne Arbeitseinkommen. Dieser Zustand ist nicht als ein nur vorübergehender anzusehen, für den die Erhöhung der Teilrente nach § 587 RVO auf die Vollrente allein bestimmt ist. Denn weder bei Erlaß des angefochtenen Bescheides noch am Ende des Berufungsverfahrens waren nach den Feststellungen des LSG Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, daß der Kläger in absehbarer Zeit wieder in das Arbeitsleben zurückkehren werde. Die Voraussetzungen hierfür waren und blieben vielmehr "nicht sehr günstig" und damit ungewiß. Anders als in den vom erkennenden Senat bereits entschiedenen und oben erwähnten Fällen, bot hier der Kläger keine Anhaltspunkte dafür, daß er in absehbarer Zeit trotz seiner Unfallfolgen, der darüber hinaus bei ihm vorliegenden erheblichen Behinderungen unfallunabhängiger Art und ungeachtet seines Alters sowie der Arbeitsmarktprobleme im Zonenrandgebiet wieder am Arbeitsleben teilnehmen werde. Er war somit nicht vorübergehend ohne Arbeitseinkünfte. Deshalb ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn das LSG, soweit es zur Sache entscheiden durfte, die Voraussetzungen des § 587 RVO verneint hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666357

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