Leitsatz (amtlich)

Wird ein Auszubildender aus erzieherischen Gründen in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichwertigen Einrichtung der Jugend- oder Sozialhilfe untergebracht, so sind die Mehrkosten dieser Unterbringung bei der Berechnung des Lebensunterhaltsbedarfs iS des AA AFR § 11 (ANBA 1970, 213) vom 1969-10-31 - und der Richtlinien des Verwaltungsrates der BA für die Gewährung von Berufsausbildungsbeihilfe nach AVAVG § 131 vom 1968-07-18 - Ausbildungsrichtlinien - (ANBA 1968, 791) nicht zu berücksichtigen.

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Rechtsmittelfähigkeit eines Anspruchs richtet sich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels.

 

Orientierungssatz

Eine spätere Verringerung der Beschwer hat für die Berufung in der Regel - von Ausnahmefällen abgesehen - keine Bedeutung.

 

Normenkette

AFG § 39 S. 1 Fassung: 1969-06-25; AVAVG § 131 Fassung: 1968-07-18; AusbFöAnO § 11 Fassung: 1969-10-31

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. August 1972 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der 1954 geborene Kläger ist seit 1958 in Heimen untergebracht. Seinen - geschiedenen - Eltern ist das Personensorgerecht entzogen und dem Jugendamt in R als Pfleger übertragen worden. Am 15. Juli 1969 begann der Kläger eine dreijährige Lehre als Autolackierer. Er wohnte im Lehrlingsheim des Jugenddorfzentrums H. Dieses Heim ist für die Durchführung der öffentlichen Erziehung vom Landesjugendamt H bestimmt, nimmt aber auch wie ein normales Heim auswärtige Jugendliche auf.

Am 13. August 1969 beantragte der Kläger, ihm Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) gemäß § 40 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) in Verbindung mit den Richtlinien des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit für die Gewährung von BAB nach § 131 des Gesetzes über die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) vom 18. Juli 1968 - Ausbildungs-RL - (ANBA 1968, 791) zu gewähren. Das Arbeitsamt (ArbA) H lehnte mit Bescheid vom 24. März 1970 den Antrag mit der Begründung ab, der Kläger sei in einem vom Landesjugendamt besonders für die öffentliche Erziehung ausgewählten Heim untergebracht; eine Förderung nach den Ausbildungs-RL müsse daher entfallen. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 10. August 1970).

Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Hannover durch Urteil vom 13. Juli 1971 die Beklagte verurteilt, dem Kläger BAB unter Einschluß des Bedarfs für den Lebensunterhalt für die Zeit der Unterbringung im Jugenddorfzentrum H zu zahlen. Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. Während des Berufungsverfahrens hat sie unter Bezugnahme auf den Runderlaß des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit (BA) Nr. 381/71.2.4 vom 12. Oktober 1971 (Dienstbl. A der BA 1971, 1000) ein vom Kläger angenommenes Teilanerkenntnis abgegeben und dem Grunde nach BAB seit dem 15. Juli 1969 (Beginn der Lehre) bewilligt. Durch einen während des Berufungsverfahrens am 9. Juni 1972 ergangenen Bescheid hat die Beklagte die Höhe der BAB festgestellt. Den Bedarf für den Lebensunterhalt hat sie so bemessen, als ob der Kläger bei seinen Eltern untergebracht wäre. Die Kosten für die Heimunterbringung hat sie nicht berücksichtigt. Die Beklagte hat dies für unzulässig gehalten, weil der Kläger "aus erzieherischen Gründen" im Heim untergebracht sei. Der Rechtsstreit wird nur noch hinsichtlich der Berücksichtigung der Mehrkosten für die Heimunterbringung fortgeführt.

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat durch Urteil vom 22. August 1972 das Urteil des SG insoweit aufgehoben, als es die Beklagte über das Teilanerkenntnis im Bescheid vom 9. Juni 1972 hinaus zur Leistung - der vollen Heimunterbringungskosten - verurteilt hat; insoweit hat das LSG die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Die Berufung sei zulässig. Obwohl es nur noch um die Höhe der BAB gehe, liege kein Streit über die Höhe des Anspruchs im Sinne des § 147 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vor. Die Beschränkung der Berufung auf einen Beschwerdegegenstand, der grundsätzlich nach § 147 SGG vom Berufungsausschluß erfaßt werde, berühre in diesem Fall die Berufungsfähigkeit des streitiger Anspruchs nicht. Maßgebend für die Beurteilung, ob ein mit der Kläger geltend gemachter Anspruch rechtsmittelfähig sei, sei grundsätzlich der Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels (BSG 16, 134, 135). Ein Ausnahmefall, in dem auch eine spätere Verringerung der Beschwer für die Zulässigkeit der Berufung Bedeutung haben könne, wenn sie auf einer willkürlichen Beschränkung des Rechtsmittels beruhe (vgl. RGZ 168, 355; BGH NJW 1951, 274; BSG SozR Nr. 9 zu § 146 SGG), sei nicht gegeben. Die nach der Berufungseinlegung vorgebrachte neue Rechtsauffassung der Beklagten sei nicht so zwingend, daß sie für den objektiven Betrachter auch schon ohne weiteres vor der Berufungseinlegung die Beklagte zu einer Klaglosstellung des Klägers hätte drängen müssen. Es bestehe kein Verdacht, daß die Beklagte absichtlich den Berufungsausschluß habe umgehen wollen. Die beschränkte Berufung sei auch begründet. Die Beklagte sei unter Bezugnahme auf das Schreiben des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit vom 26. November 1970 betreffend das dem Gesetz für Jugendwohlfahrt (JWG) in der Fassung vom 6. August 1970 (BGBl I 1197) vorrangige AFG und auf die Stellungnahme der Bundesregierung im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zu dem ab 27. August 1971 geltenden Bundesausbildungsförderungsgesetz - BAföG - (Bundestags-Drucks. VI/1975) zu Recht davon ausgegangen, daß das Jugendamt die Mehrkosten wegen einer Unterbringung aus "erzieherischen Gründen" zu tragen habe. Es bestehe kein zwingender Grund dafür, die Fälle des § 5 Abs. 1 Nr. 7 JWG (Erziehungshilfen während der Berufsvorbereitung usw.) anders zu behandeln als die der freiwilligen Erziehungshilfe (§§ 4 Nr. 3; 62 JWG) und der Fürsorgeerziehung (§§ 4 Nr. 3; 64 JWG). In diesen Fällen seien die Jugendwohlfahrtsbehörden verpflichtet, aus "erzieherischen Gründen" eine Unterbringung des Jugendlichen zu veranlassen und die Kosten - einschließlich der Mehraufwendungen - zu tragen. Die Beklagte sei dagegen kraft Gesetzes nicht verpflichtet, im Rahmen der Berufsausbildung Kosten der Allgemeinerziehung zu berücksichtigen. Dabei sei es rechtlich unbeachtlich, ob die Initiative zur Heimunterbringung von der Berufsberatung des ArbA im Zusammenwirken mit dem Pflegeheim ausgehe und das Jugendamt im Hintergrund bleibe. Zu Recht habe die Beklagte darauf abgestellt, ob die Ausbildung auch ohne "erzieherische Gründe" mit einer Unterbringung außerhalb des Elternhauses erforderlich wäre, weil keine der Neigung und Eignung des Jugendlichen entsprechende Ausbildungsmöglichkeit am Wohnort der Eltern oder in erreichbarer Nähe vorhanden sei.

Gegen das Urteil des LSG hat der Kläger - die zugelassene - Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung sachlichen Recht- und führt dazu aus: Das LSG gehe zu Unrecht davon aus, daß Erziehungshilfen während der Berufsausbildung einschließlich der Unterbringung als Verpflichtung des Jugendamtes (§ 5 Abs. 1 Nr. 7 i. V. m. § 6 Abs. 2 JWG) der Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung von BAB gemäß § 40 AFG vorgehe. § 6 Abs. 3 JWG bestimme, daß die Leistungspflicht des Jugendamtes zurücktrete, wenn ein anderer Sozialhilfeträger für einen speziellen Fall - wie § 40 AFG - zuständig sei. § 6 Abs. 3 JWG erfasse auch die Fälle der Heimunterbringung nach § 5 Abs. 1 in Verbindung mit § 6 Abs. 2 JWG, so daß die Beklagte auch die Mehrkosten einer Heimunterbringung zu tragen habe. Selbst wenn man aber der Ansicht des LSG folge, dann sei dennoch ein Anspruch auf die vollen Heimunterbringungskosten gegeben, weil der Kläger nicht aus "erzieherischen Gründen" untergebracht sei. Jeder Jugendliche bedürfe einer gewissen Erziehung. Während aber bei den §§ 62 und 64 JWG die Gründe für das Eingreifen des Jugendamtes eindeutig in der Person des Jugendlichen lägen, müsse im Falle des Eingreifens nach den §§ 5 und 6 JWG unterschieden werden, ob der Anlaß in der Person des Jugendlichen liege, bei den Eltern oder bei beiden. Eine generelle Gleichstellung der Fälle der §§ 62, 64 mit denen des § 5 Abs. 1 Nr. 7 JWG sei daher unzulässig. Es könne nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen, daß Jugendliche, deren Eltern das Sorgerecht entzogen worden sei, anders behandelt würden als solche Jugendliche, deren Eltern verstorben, unbekannten Aufenthalts seien oder sich in Heilanstalten befänden, obwohl die Jugendlichen in dem einen wie dem anderen Fall keinen Anlaß zu besonderen Erziehungsmaßnahmen gäben.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.

II

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Ihm steht ein Anspruch auf eine höhere BAB, bei der auch die durch die Heimunterbringung verursachten Mehrkosten zu berücksichtigen sind, nicht zu.

Mit Recht hat das LSG die Berufung der Beklagten für zulässig gehalten. Sie war nicht gemäß § 147 SGG ausgeschlossen. Die Rechtsmittelfähigkeit eines Anspruchs richtet sich nämlich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels (BSG 16, 134, 135). Eine spätere Verringerung der Beschwer hat für die Berufung in der Regel - von hier nicht vorliegenden Ausnahmefällen abgesehen (vgl. RGZ aaO; BGH aaO; BSG SozR Nr. 9 zu § 146 SGG) - keine Bedeutung.

Zutreffend hat das Berufungsgericht angenommen, daß die Beklagte bei der Feststellung des Bedarfs für den Lebensunterhalt zur Berechnung der BAB nicht verpflichtet ist, die Mehrkosten für die Heimunterbringung des Klägers zu berücksichtigen. Rechtsgrundlage für die Bewilligung der BAB ist für die Zeit vom 15. Juli bis 30. Oktober 1969 § 40 AFG in Verbindung mit den Ausbildungs-RL zu § 131 AVAVG, die gemäß § 242 Abs. 10 Nr. 5 AFG bis zum Inkrafttreten der gemäß § 39 AFG erlassenen Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit über die individuelle Förderung der beruflichen Ausbildung - AA - (ANBA 1970, 213) am 31. Oktober 1969 (§ 23 AA) weitergegolten haben. Ab 31. Oktober 1969 ist der Anspruch des Klägers nach § 40 AFG in Verbindung mit den Vorschriften der AA zu beurteilen. Die BAB bemißt sich gemäß Nr. 8 Ausbildungs-RL u. a. nach dem Bedarf für den Lebensunterhalt (Nr. 10 Ausbildungs-RL). Die vollen Heimunterbringungskosten sind bei diesem Bedarf zugunsten des Klägers nur dann zu berücksichtigen, wenn eine Unterbringung im Sinne der Nr. 10 Abs. 1 Buchst. b Ausbildungs-RL vorliegt. Eine Heimunterbringung im Sinne dieser Vorschrift ist nur gegeben, wenn die Unterbringung durch die Berufsausbildung selbst verursacht wird. Sind für die Unterbringung in erster Linie erzieherische Gründe maßgebend, so ist die Beklagte nicht verpflichtet, diese zu berücksichtigen. Das folgt aus den Nrn. 1 Abs. 4 Buchst. und 5 Abs. 4 Ausbildungs-RL, die die Heimunterbringung aus erzieherischen Gründen besonders regeln und deshalb der Nr. 10 Abs. 1 Buchst. b Ausbildungs-RL als die speziellere Vorschriften vorgehen.

Nach der Nr. 1 Abs. 4 Buchst. b Ausbildungs-RL wird BAB einem Auszubildenden nicht gewährt, wenn er wegen "Erziehungsschwierigkeiten oder aus ähnlichen Gründen in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichwertigen Einrichtung der Erziehungshilfe untergebracht" ist. In Nr. 5 Abs. 4 Ausbildungs-RL wird weiter bestimmt, daß "Mehrkosten, die dadurch entstehen, daß bei der Unterbringung von Auszubildenden außerhalb von Anstalten, Heimen oder gleichwertigen Einrichtungen in erster Linie erzieherische Gesichtspunkte maßgebend sind, die von Trägern der öffentlichen Jugendhilfe oder Sozialhilfe zu vertreten sind", nicht berücksichtigt werden können.

Geht man vom Wortlaut der Nr. 1 Abs. 4 Buchst. b Ausbildungs-RL aus, würde ein aus erzieherischen Gründen im Heim untergebrachter Jugendlicher überhaupt keine BAB erhalten können. Eine solche allein am Wortlaut orientierte Auslegung dieser Vorschrift würde allerdings höherrangiges Recht, nämlich § 40 AFG, verletzen. Danach hat - im Gegensatz zur gesetzlichen Grundlage der Ausbildungs-RL vor dem 1. Juli 1969 in § 131 AVAVG - jeder Jugendliche bei Erfüllung der Voraussetzungen einen Anspruch auf BAB. Die gemäß § 242 Abs. 10 Nr. 5 AFG bis zum 30. Oktober 1969 weiter in Kraft gebliebenen Ausbildungs-RL können daher im Hinblick auf den vom Gesetzgeber des AFG eingeräumten Anspruch eines jeden Jugendlichen auf berufliche Ausbildung (§ 40 AFG) aus erzieherischen Gründen in Heimen untergebrachte Auszubildende nicht generell von der Gewährung der BAB ausschließen.

Vom Zweck des AFG, nämlich die berufliche Ausbildung zu fördern (§ 33 AFG), ist es aber gerechtfertigt, wenn die Beklagte nur diejenigen Kosten des Bedarfs für den Lebensunterhalt zu tragen hat, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der beruflichen Ausbildung stehen und nicht unabhängig davon durch allgemeine oder besondere erzieherische Maßnahmen veranlaßt worden sind. Im Hinblick auf die Veränderung der beruflichen Ausbildungsförderung von einer Ermessensleistung (§ 131 AVAVG) zu einer Pflichtleistung (§ 40 AFG) kann Nr. 1 Abs. 4 Buchst. b Ausbildungs-RL ab 1. Juli 1969 nur dahin verstanden werden, daß die Mehrkosten für eine Unterbringung in Heimen der Jugend- und Sozialhilfe, die in erster Linie aus erzieherischen Gründen erfolgt ist, von der Beklagten nicht zu tragen sind. Der Inhalt der Nr. 1 Abs. 4 Buchst. b Ausbildungs-RL ist durch das AFG entsprechend der Regelung für die Nichtanrechnung von Mehrkosten bei Unterbringung des Auszubildenden aus erzieherischen Gründen außerhalb von Anstalten, Heimen oder gleichwertigen Einrichtungen der Jugend- und Sozialhilfe (Nr. 5 Abs. 4 Ausbildungs-RL) eingeschränkt worden. Die Beklagte war deshalb berechtigt, bei der Bemessung des Bedarfs des Klägers für den Lebensunterhalt die Mehrkosten für die Heimunterbringung nicht zu berücksichtigen, sofern dafür erzieherische Gründe maßgebend waren, die von den Trägern der Jugendhilfe "zu vertreten sind" (vgl. Nr. 5 Abs. 4 Ausbildungs-RL). Das ist hier der Fall.

Der Kläger ist seit seinem vierten Lebensjahr (1958) in Heimen der Jugendhilfe nur deshalb untergebracht worden, weil andernfalls sein Recht "auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit" (§ 1 Abs. 1 JWG) nicht hätte sichergestellt werden können. Nach den unangefochtenen Feststellungen (§ 163 SGG) des Berufungsgerichts waren nämlich die Eltern des Klägers geschieden, das Sorgerecht ihnen entzogen und auf das Jugendamt als Pfleger übertragen worden. Die Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe ist dann aber "aus erzieherischen Gründen" erfolgt und vom Jugendamt "zu vertreten", wenn die Unterbringung aufgrund der Verpflichtung des Jugendamtes gemäß § 1 Abs. 3 in Verbindung mit den §§ 3 bis 5 JWG geschieht, weil - wie hier - die Familie erzieherische Maßnahmen zum Wohle des Kindes nicht veranlaßt, also versagt. Dabei ist es im Gegensatz zur Auffassung der Revision unerheblich, ob auch in der Person des Jugendlichen erzieherische Schwierigkeiten- unabhängig vom Versagen des Elternhauses - begründet sind. Entscheidend für das Vorliegen erzieherischer Gründe, die die Jugendhilfe zu vertreten hat, ist allein das Bestehen eines Zustandes, der die Sozialisation des Jugendlichen im Hinblick auf die Erziehungsziele des § 1 Abs. 1 JWG gefährdet. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, bei Jugendlichen in der Berufsausbildung entfalle die aus § 6 Abs. 2 JWG sich ergebende Verpflichtung des Jugendamtes, den Lebensunterhalt sicherzustellen, also auch die Mehrkosten für die Heimunterbringung zu tragen, weil § 6 Abs. 3 JWG ausdrücklich anordne, daß § 6 Abs. 2 JWG "nicht für die Gewährung von Ausbildungsbeihilfen" gelte. Dabei wird übersehen, daß § 6 Abs. 3 JWG auf die Ausbildungsbeihilfen insgesamt abstellt und sein Zweck nur darin besteht klarzustellen, daß bei Erfüllung der Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine Ausbildungsbeihilfe, die den notwendigen Bedarf für den Lebensunterhalt abdeckt, die Verpflichtung des Jugendamtes zur Leistung des Unterhalts gemäß § 6 Abs. 2 JWG entfällt. Soweit aber der vom Jugendamt nach den genannten Vorschriften abzudeckende Bedarf nach den anderweit gesetzlich bestimmten Voraussetzungen durch die zu gewährende Ausbildungsbeihilfe nicht - oder nicht voll - abgedeckt wird, bleibt die Verpflichtung des Jugendamtes nach § 6 Abs. 2 JWG bestehen. Die Beklagte durfte deshalb bei der Berechnung des Bedarfs für den Lebens unterhalt im Rahmen der Nr. 10 Abs. 1 Ausbildungs-RL die Mehrkosten für die Heimunterbringung des Klägers unberücksichtigt lassen.

Auch nach dem Erlaß der AA, die die Ausbildungs-RL für die Zeit ab 31. Oktober 1969 abgelöst hat, ist von der Beklagten die Berücksichtigung der Mehrkosten für die Heimunterbringung des Klägers zu Recht abgelehnt worden.

Nach § 11 Abs. 2 AA hat der Auszubildende ebenso wie nach Nr. 10 Abs. 1 Buchst. b Ausbildungs-RL einen Anspruch auf die höheren Lebensunterhaltskosten, wenn er in einem Wohnheim oder Internat untergebracht ist. Im Gegensatz zu den Ausbildungs-RL findet sich in der AA aber keine den § 11 Abs. 2 AA vorgehende Sonderbestimmung mehr, daß Mehrkosten, die wegen einer Unterbringung aus erzieherischen Gesichtspunkten entstehen, nicht zu berücksichtigen sind. Aus dem Sinn und Zweck der beruflichen Ausbildungsförderung nach dem AFG ergibt sich jedoch, daß sich gegenüber den Ausbildungs-RL insoweit nichts ändern und die Heimunterbringung aus erzieherischen Gründen weiterhin unberücksichtigt bleiben sollte.

Den §§ 9 und 11 AA ist der Grundsatz zu entnehmen, daß dem Auszubildenden der Bedarf für den Lebensunterhalt sichergestellt werden soll. Aus dem Wortlaut dieser Vorschriften ergibt sich noch nicht, ob der gesamte Lebensunterhaltsbedarf, der, gleich aus welchen Gründen auch immer, für den Auszubildenden notwendig ist, von der Beklagten zu berücksichtigen ist. In § 14 AA, der die Übernahme anderer Kosten als die in den §§ 11 bis 13 AA erfaßten Kosten regelt, heißt es ausdrücklich, daß die anderen Kosten durch die Berufsausbildung oder Teilnahme an einer berufsvorbereitenden Maßnahme unvermeidbar entstanden sein müssen. In § 11 AA ist von einem solchen unmittelbaren Zusammenhang ausdrücklich nichts gesagt. Die Beklagte soll nach § 33 AFG in Verbindung mit § 1 AA mit ihren Leistungen die berufliche Ausbildung sicherstellen und nur im Hinblick darauf die Mittel aufwenden, die aus den Beiträgen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber stammen. Daraus folgt aber, daß es dem Sinn der Regelung des AFG ebenfalls nur entspricht, auch bei den Kosten für den Lebensunterhalt und die Ausbildung im Sinne der §§ 11 und 12 AA - insbesondere bei Heimunterbringungskosten - nur diejenigen zu berücksichtigen, die durch die Berufsausbildung verursacht sind, so daß die Beklagte einen Unterhaltsbedarf, der aus erzieherischen Gründen entsteht, nicht zu tragen hat. Die Heimunterbringungskosten sind daher im Fall des § 11 Abs. 2 AA nur dann durch die Berufsausbildung entstanden und hängen unmittelbar mit ihr zusammen, wenn die Berufsausbildung nicht am Wohnort der Eltern oder in zumutbarer Nähe möglich ist oder überhaupt kein Elternhaus besteht. Aus dem Aufbau und dem Unterscheidungsmerkmal zwischen § 11 Abs. 1 AA und § 11 Abs. 2 bis 5 AA ist zu entnehmen, daß Mehrkosten aus einer Heimunterbringung nicht durch die Berufsausbildung verursacht werden und nach § 11 Abs. 2 AA zu berücksichtigen sind, wenn ein Elternhaus besteht und der Auszubildende während der Ausbildung dort wohnen könnte. Besteht das Elternhaus und ist der Auszubildende aus erzieherischen Gründen von dort entfernt und in einem Heim untergebracht, liegt kein Fall des § 11 Abs. 2 AA vor, so daß die Mehrkosten aus der Unterbringung mangels eines unmittelbaren Zusammenhangs mit der Berufsausbildung nicht berücksichtigt werden können.

Die hier getroffene Auslegung des § 11 Abs. 2 AA wird auch durch die Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des BAföG bestätigt. Dabei handelt es sich allerdings um ein anderes Gesetz. Doch wird im BAföG (§§ 11, 12) fast die gleiche Lebenssituation geregelt, nur daß hier Ausgangspunkt die allgemeine Bildung ist. Es ist daher gerechtfertigt, die Regierungsbegründung zum BAföG auch für die Kontrolle des im vorliegenden Fall gewonnenen Ergebnisses aus dem AFG in Verbindung mit der AA heranzuziehen. Aus § 12 Abs. 5 BAföG ergibt sich, daß nur die Aufwendungen ersetzt werden, die unmittelbar mit der Ausbildung in Zusammenhang stehen. Wird die Ausbildung aus anderen Gründen, die höhere Aufwendungen verursachen - z. B. Erziehungsschwierigkeiten-, erschwert, dann stehen diese Kosten nicht unmittelbar mit der Ausbildung im Zusammenhang (Rothe/Blanke, BAföG, § 12 Anm. 24). Auf diesen unmittelbaren Zusammenhang ist im Regierungsentwurf zum BAföG (Bundestags-Drucks. VI/1975 S. 27 - zu § 12 Abs. 2) hingewiesen worden. Die Bundesregierung ist auch auf die Anregung des Bundesrates (vgl. Stellungnahme des Bundesrates Nr. 10 zu § 12 BAföG - Bundestags-Drucks. VI/1975 S. 47) nicht bereit gewesen, Kosten wegen auswärtiger Unterbringung aus erzieherischen Gesichtspunkten als unmittelbare Kosten der Ausbildung anzuerkennen (vgl. Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrats zu Nr. 10 - § 12 - Bundestags-Drucks. zu Drucks VI/1975).

Im Hinblick auf § 33 AFG, wonach die Beklagte die Berufsausbildung fördert und die durch diese entstehenden Kosten aufbringen soll, verstößt die einschränkende Auslegung des § 11 AA auch nicht gegen § 39 AFG, sondern liegt im Rahmen der dort gegebenen gesetzlichen Ermächtigung an die Beklagte, den Umfang der BAB durch Anordnungen festzulegen. Durch die hier getroffene einschränkende Auslegung der Vorschriften der Ausbildungs-RL und des § 11 AA und der daraus folgenden Differenzierung zwischen Jugendlichen, die aus nicht in ihrer Person liegenden erzieherischen Gründen im Heim untergebracht sind und nicht die vollen Heimkosten erhalten, und solchen Jugendlichen, die aus anderen nicht in ihrer Person liegenden Gründen im Heim leben, aber bei denen die vollen Kosten in Anrechnung gebracht werden- z. B. bei Waisen-, liegt kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 des Grundgesetzes (GG) vor. Da es nach § 33 AFG nicht Aufgabe der Beklagten ist, Mittel für Kosten, die aus allgemeinen erzieherischen Gründen entstehen, aufzubringen und allgemeine Erziehungsaufgaben wahrzunehmen, sondern allein die berufliche Ausbildung durch Aufbringen der Mittel für die daraus entstehenden Kosten zu sicher, ist für die getroffene Unterscheidung ein sachlicher Grund gegeben. Der Gleichheitssatz ist daher nicht verletzt.

Nach allem ist somit die Beklagte nicht verpflichtet, bei der Berechnung des Lebensbedarfs für die Höhe der dem Kläger zu gewährenden BAB die Mehrkosten für die Heimunterbringung zu berücksichtigen. Die Revision des Klägers muß deshalb zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 64

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