Entscheidungsstichwort (Thema)

Kriegsopferversorgung. Zusammenhangsbeurteilung. freie Beweiswürdigung. Sachaufklärungspflicht. wesentlicher Verfahrensmangel

 

Orientierungssatz

Das Gericht verletzt den Grundsatz der Sachaufklärungspflicht und überschreitet sein Recht auf eine freie Beweiswürdigung, wenn es bei der Feststellung der Voraussetzungen für die Anerkennung eines Versorgungsleidens schädigende Einflüsse während des Krieges nur im Sinne der Leidensverschlimmerung und nicht der Leidensentstehung wertet, ohne auch die Bedingungen zu prüfen, die sich aus der physischen und psychischen Anlage eines Menschen ergeben und die wie die sonstigen Bedingungen auf ihre Bedeutung für den "Erfolg", also den Leidenszustand, zu prüfen sind.

 

Normenkette

BVG § 1; SGG §§ 103, 128 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Bremen (Entscheidung vom 18.07.1967)

SG Bremen (Entscheidung vom 23.05.1962)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 18. Juli 1967 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger begehrt wegen Bronchitis als Folge des Rußlandfeldzuges und wegen einer Verletzung am Kopf, die er sich im Mai 1944 zugezogen habe, Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Er hatte bei der Verwaltung keinen Erfolg (Bescheid vom 20. Oktober 1959; Widerspruchsbescheid vom 24. März 1960).

Das Sozialgericht (SG) Bremen hat die Klage mit Urteil vom 23. Mai 1962 abgewiesen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG, den Widerspruchsbescheid ganz sowie den Bescheid vom 20. Oktober 1959 teilweise aufgehoben und die Beklagte verurteilt, beim Kläger als weitere Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung "chronische Bronchitis vom 1. Oktober 1958 an" - neben den anerkannten Narben am linken Scheitelbein - anzuerkennen; die weitergehende Berufung hat es als unbegründet zurückgewiesen. Der Kläger habe erstmals im Jahre 1942 während des Wehrdienstes eine Mandel- und Lungenentzündung - mit fast dreimonatiger Lazarettbehandlung - durchgemacht und habe während der Internierung mehrfach an Bronchitiden gelitten. Diese Vorgänge hätten sich auf die jetzt bestehende Bronchitis verschlimmernd ausgewirkt. Durch die sonach (im Sinne der Verschlimmerung) als Schädigungsfolge anzuerkennende chronische Bronchitis werde beim Kläger allerdings eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) im Mindestgrade von 25 v. H. nicht erreicht, weil höchstens die Hälfte der Gesamt-MdE (30 bzw. 40 v. H.) zu Lasten des Wehrdienstes und der Internierung gehe.

Mit der nicht zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung der §§ 128 Abs. 1, 103 und 106 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und trägt vor, das LSG, das dem Gutachten des Dr. P vom 21. November 1966 "im vollen Umfange" habe folgen wollen, hätte dann zu einer Anerkennung der chronischen Bronchitis im Sinne der Entstehung und zu einer Rentengewährung kommen müssen. Da die Anlage noch kein krankhaftes Geschehen im Körper hervorgerufen habe und das krankhafte Geschehen erst durch Ereignisse im Sinne des § 1 BVG ausgelöst worden sei, stünden als Bedingungen die Anlage und das schädigende Ereignis (§ 1 BVG) nebeneinander; das bedeute, daß versorgungsrechtlich die durch das schädigende Ereignis im Sinne des § 1 BVG gesetzte Bedingung die wesentliche und damit Ursache im Rechtssinne für eine Anerkennung im Sinne der Entstehung sei. Das LSG sei nicht sachverständig genug, das Ergebnis des Gutachtens des Dr. P einfach in zwei Teile zu trennen. Zumindest aber hätte das Berufungsgericht dem Gutachter noch eine Zusatzfrage vorlegen müssen, um aus ihrer Beantwortung die Entscheidung zur Frage der Höhe der schädigungsbedingten MdE rechtfertigen zu können. Eine solche gezielte Zusatzfrage hätte aber Dr. P mit Sicherheit dahin beantwortet, daß die Anerkennung der chronischen Bronchitis im Sinne der Verursachung gerechtfertigt sei; damit entfalle auch die Möglichkeit, die auf die Bronchitis entfallende MdE zu halbieren.

Der Kläger beantragt,

die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils vom 18. Juli 1967 zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das LSG Bremen zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§ 124 Abs. 2 SGG).

Der Kläger hat die Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet (§§ 164, 166 SGG). Da das LSG die Revision nicht zugelassen hat, ist diese nur statthaft, wenn der Kläger mit Erfolg rügt, daß ein wesentlicher Mangel des Verfahrens vorliege (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150) oder das LSG bei Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des BVG das Gesetz verletzt habe (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG).

In der vorgebrachten Verletzung der §§ 103 und 128 Abs. 1 SGG sieht der Kläger wesentliche Verfahrensverstöße im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; sein Vorbringen, das Berufungsgericht habe zu Unrecht die schädigenden Einflüsse des Wehrdienstes, der Kriegsgefangenschaft und der Internierung nicht als wesentliche Bedingung für die Entstehung seiner chronischen Bronchitis angesehen und damit die für das Gebiet der Kriegsopferversorgung (KOV) geltende Kausalitätsnorm verletzt, enthält auch die Rüge der Verletzung des Gesetzes bei Beurteilung der Zusammenhangsfrage im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG. Diese Rügen greifen durch.

Nach den Feststellungen des LSG leidet der Kläger an einer chronischen Bronchitis; das Leiden sei durch schädigende Einflüsse im Sinne des § 1 BVG jedoch nicht hervorgerufen, sondern lediglich verschlimmert worden. Diese Feststellung ist, wie der Kläger zutreffend vorträgt, in verfahrensrechtlich nicht einwandfreier Weise und unter Verkennung der für das Gebiet der KOV geltenden Kausalitätsnorm zustande gekommen.

Dem Berufungsgericht ist zuzugeben, daß der Gutachter Dr. P "eine endogene Konstitution bei dem asthenischen Habitus" des Klägers angenommen und auch ausgeführt hat, "zumindest müsse eine richtunggebende Verschlimmerung eines anlagebedingten Leidens angenommen werden". Es hat sich zumindest nicht ausreichend damit auseinandergesetzt, daß der Gutachter in erster Linie die Auffassung vertreten hat, ... "alle diese Einflüsse seien als auslösende Ursachen für die jetzt vorliegende chronische Bronchitis anzusehen, ... das Leiden sei mit großer Wahrscheinlichkeit durch den Wehrdienst bzw. Gefangenschaft und Internierungszeit ausgelöst worden". Diese Ausführungen lassen nicht ohne weiteres den vom LSG gezogenen Schluß zu, Dr. P sei in seinem Gutachten zu der Auffassung gelangt, daß die "auf den Wehrdienst zurückzuführenden Einflüsse sich auf die jetzt beim Kläger vorliegende Bronchitis (nur) verschlimmernd ausgewirkt haben". Schon diese mangelhafte Auseinandersetzung mit der von Dr. P dargelegten medizinisch-wissenschaftlichen Auffassung über die nach seiner Ansicht schädigenden Einflüsse von Wehrdienst, Kriegsgefangenschaft un-d Internierung "als auslösende Ursachen" für die chronische Bronchitis stellen einen Verstoß gegen die Regeln der Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 SGG) dar. Das LSG hätte prüfen müssen, ob der gegebene medizinische Sachverhalt geeignet ist, trotz der anlagemäßigen Komponente die Anerkennung der chronischen Bronchitis im Sinne der Entstehung in Erwägung zu ziehen. Das LSG hat daher die Beweisunterlagen - hier das Gutachten des Dr. P mit dem gegebenen medizinischen Sachverhalt - nicht erschöpfend gewürdigt und damit gegen § 128 Abs. 1 SGG verstoßen, weil es nur die erst in zweiter Linie vertretene Auffassung verfolgt hat, daß "zumindest eine richtunggebende Verschlimmerung eines anlagebedingten Leidens angenommen werden müsse". Der Senat hatte auf die Rüge des Klägers auch zu prüfen, ob das Berufungsgericht die im Versorgungsrecht geltende Kausalitätsnorm richtig angewandt hat, wenn es - wie aus seinem Urteil erkennbar - davon ausgegangen ist, ein bestehendes Leiden sei nur dann als durch schädigende Einflüsse im Sinne des § 1 BVG hervorgerufen und als Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung anzuerkennen, wenn solche Einflüsse die alleinige Ursache für die Entstehung des Leidens gewesen seien. Es liegt nämlich eine Verkennung des Begriffes der Leidensverschlimmerung im versorgungsrechtlichen Sinne vor, wenn ein Gericht - wie vorliegend das LSG - allein deshalb, weil auch "endogene Faktoren" von Bedeutung für ein Leiden gewesen seien, in jedem Falle nur eine Verschlimmerung glaubt feststellen zu können.

Zu der Frage der Bedeutung der Bedingungen, die sich aus der physischen und psychischen "Anlage" eines Menschen ergeben, hat der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in dem Urteil vom 14. Dezember 1961 - 11 RV 40/60 - ausgeführt:

"Nach der für das Gebiet der KOV geltenden Theorie der "wesentlichen Bedingung" ist Ursache diejenige Bedingung, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat; haben mehrere Bedingungen zu dem Erfolg wesentlich (gleichwertig) beigetragen, so sind sie auch rechtlich nebeneinanderstehende Mitursachen; jede von ihnen ist also Ursache im Sinne des Versorgungsrechts; kommt jedoch einer Bedingung gegenüber den anderen Bedingungen überwiegende Bedeutung zu, so ist diese Bedingung rechtlich die alleinige Ursache (vgl. auch BSG 1, 150, 157). Auf die zeitliche Folge der Bedingungen und ihre Voraussehbarkeit kommt es dabei nicht an. Auch die Bedingungen, die sich aus der physischen und psychischen "Anlage" eines Menschen ergeben, sind wie die sonstigen Bedingungen auf ihre Bedeutung für den "Erfolg", also den Leidenszustand, zu prüfen; es ist zu klären, ob es sich nach der Beurteilung durch die med. Sachverständigen um eine "Anlage" handelt, die ohne eine auslösende Ursache zunächst kein krankhaftes Geschehn im Körper hervorruft ("ruhende Anlage"), oder ob bereits ein krankhaftes physisches oder psychisches Geschehen vorliegt, auch ohne daß physische oder psychische Veränderungen bei Eintritt der weiteren "von außen" hinzutretenden Bedingungen bereits erkennbar gewesen sind; nur im zweiten Fall kann es sein, daß das "anlagebedingte" Leiden durch die von außen hinzukommende weitere Bedingung, etwa schädigende Vorgänge i. S. des BVG, "verschlimmert" worden ist. Beruht danach das Leiden auf einer "Anlage", die körperliche oder psychische Veränderungen hervorzurufen pflegt, und haben sich solche Veränderungen bereits entwickelt, auch ohne daß sie sofort bemerkt worden sind, so handelt es sich versorgungsrechtlich um eine Verschlimmerung, wenn die äußere Einwirkung (der schädigende Vorgang i. S. des § 1 BVG) entweder den Zeitpunkt vorverlegt hat, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden schwerer auftreten läßt, als es sonst zu erwarten gewesen wäre. Beruht das Leiden dagegen auf einer "Anlage", die bisher kein krankhaftes Geschehen hervorgerufen hat, und wird das krankhafte Geschehen erst durch einen schädigenden Vorgang i. S. des § 1 BVG "ausgelöst", so stehen als Bedingungen sowohl die Anlage als auch der schädigende Vorgang nebeneinander; in diesem Falle ist versorgungsrechtlich die durch den schädigenden Vorgang gesetzte Bedingung auch dann eine wesentliche Bedingung und damit Ursache im Rechtssinne für die Entstehung des Leidens, wenn sich Anlage und schädigender Vorgang "gleichwertig" gegenüberstehen; in diesem Falle muß das Leiden deshalb als durch den Wehrdienst hervorgerufen festgestellt (anerkannt) werden."

Der Senat tritt diesen Ausführungen voll bei und macht sie sich zu eigen. Danach beruht das Urteil des LSG in seinem entscheidenden Teil, die chronische Bronchitis des Klägers sei Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung, neben der bereits aufgezeigten unzutreffenden rechtlichen Würdigung des Gutachtens des Dr. P auch auf einer Verkennung der für das Gebiet der KOV geltenden Kausalitätsnorm. Denn auf keinen Fall läßt das Gutachten des Dr. P den Schluß zu, daß beim Kläger schon vor Eintritt der schädigenden Einflüsse im Sinne des § 1 BVG bereits ein krankhaftes Geschehen, sei es schon erkennbar oder noch nicht erkennbar, vorhanden gewesen ist; allein der Hinweis des Gutachters, "eine endogene Konstitution könne bei dem asthenischen Habitus angenommen werden", besagt jedenfalls noch nicht, daß beim Kläger schon vor den Belastungen des Wehrdienstes, der Kriegsgefangenschaft und der Internierung erkennbar oder auch noch nicht erkennbar körperliche Veränderungen von Krankheitswert vorgelegen haben. Insoweit schließlich hat das LSG auch keine Feststellungen getroffen, aus denen sich ergeben könnte, daß die chronische Bronchitis des Klägers zu Recht als durch Wehrdienst, Kriegsgefangenschaft und Internierung nur verschlimmert festgestellt worden ist. Das Berufungsgericht hätte deshalb, wenn es dem Gutachter Dr. P "alle diese Einflüsse seien als auslösende Ursachen für die jetzt vorliegende chronische Bronchitis anzusehen", nicht folgen wollte, nach § 103 SGG zumindest diesen - oder auch einen anderen ärztlichen Sachverständigen - noch befragen müssen, ob nach dessen medizinisch-wissenschaftlicher Auffassung die schädigenden Einflüsse des Wehrdienstes, der Kriegsgefangenschaft und der Internierung eine "ruhende Anlage" beim Kläger getroffen haben, oder ob schon beim Eintritt dieser Schädigungen bereits ein krankhaftes Geschehen (aus der Anlage) vorgelegen hat. Erst nach Beantwortung dieser Frage hätte das LSG darüber entscheiden können, ob es sich bei der beim Kläger bestehenden chronischen Bronchitis um eine solche im Sinne der Verschlimmerung oder aber um eine solche im Sinne der Entstehung handelt. Erst dann wäre eine Entscheidung über die Höhe der schädigungsbedingten MdE des Klägers möglich gewesen; denn falls es sich bei der chronischen Bronchitis um eine Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung gehandelt hätte, wäre die Feststellung der Höhe der MdE anders und für den Kläger günstiger ausgefallen als im angefochtenen Urteil.

Hiernach ist die Revision des Klägers statthaft. Sie ist auch begründet, denn es ist möglich, daß das LSG bei voller Beachtung seiner Amtsermittlungspflicht, bei gesetzmäßiger Würdigung des Gutachtens des Dr. P und bei richtiger Anwendung der Kausalitätsnorm zu einem anderen und für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre. Das angefochtene Urteil mußte deshalb aufgehoben werden. Der erkennende Senat konnte jedoch nicht selbst entscheiden, da noch tatsächliche Feststellungen fehlen, die zu treffen dem Revisionsgericht verwehrt sind. Die Sache war nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Vordergericht zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2297108

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