Leitsatz (amtlich)

Das Gericht darf seine Überzeugung von dem Beweiswert der Zeugenaussagen nicht auf den Inhalt eines zu den Akten gelangten Privatbriefs stützen, wenn es die Möglichkeit hat, den Briefschreiber als Zeugen zur Sache zu hören.

 

Normenkette

SGG § 103 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 19. Dezember 1962 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Klägerin beantragte im Jahre 1957, ihr das Altersruhegeld aus der Rentenversicherung der Angestellten (AnV) zu gewähren. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil die für diese Rente erforderliche Wartezeit von 180 Versicherungsmonaten nicht erreicht sei. Im Verlaufe des hierwegen anhängig gewordenen Rechtsstreits gewährte sie der Klägerin die Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Januar 1960 an. Die Klägerin verfolgte den Antrag auf das Altersruhegeld (an Stelle der BU-Rente) weiter; hilfsweise begehrte sie die Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) schon vom 1. März 1957 an.

Nach der Meinung der Klägerin ist die Wartezeit für das Altersruhegeld erfüllt, weil sie außer den von der Beklagten und der Beigeladenen anerkannten Versicherungszeiten (169 Monate) auch in den Jahren von 1924 bis 1930 Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet habe. Damals sei sie als Heimarbeiterin für ein Bekleidungsunternehmen versicherungspflichtig tätig gewesen. Das Sozialgericht (SG) hörte dazu mehrere Zeugen, u. a. den ehemaligen Betriebsleiter des Unternehmens, S. Dieser hatte sich vor der Vernehmung zur Auffrischung seines Gedächtnisses schriftlich an die in Ludwigsburg wohnende Frau N, eine Schwester der Klägerin, gewandt. Er hatte von ihr ein Antwortschreiben erhalten, das auf erhebliche Unstimmigkeiten zwischen der Klägerin und ihrer Schwester hinwies und in dem es hieß, die Klägerin habe ab Dezember 1924 (an anderer Stelle: ab Mai 1928) "bestimmt nicht mehr gearbeitet". Der Zeuge gab bei seiner Vernehmung diesen Brief zu den Gerichtsakten.

Die Klage und die Berufung der Klägerin waren ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) begründete sein Urteil damit, die vom SG gehörten Zeugen hätten so unklare und teilweise widersprechende Angaben gemacht, daß damit insbesondere unter Berücksichtigung des Briefes der Frau N an den Zeugen S die von der Klägerin behauptete Versicherungszeit nicht überwiegend wahrscheinlich gemacht sei. Mit den nachgewiesenen 169 Kalendermonaten Versicherungszeit sei aber die Wartezeit für das Altersruhegeld nicht erfüllt. Die Klägerin sei auch vor 1960 noch nicht berufsunfähig gewesen (Urteil vom 19. Dezember 1962).

Mit der - vom LSG nicht zugelassenen - Revision beantragte die Klägerin, das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Sie rügte eine Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Das LSG hätte sich nicht damit begnügen dürfen, den Brief der Schwester der Klägerin an den Zeugen S für die Bewertung der Zeugenaussagen heranzuziehen, zumal es die in dem Brief zum Ausdruck gekommene Gehässigkeit gegenüber der Klägerin erkannt habe. Auch sei der Zeuge S bei seiner Anhörung durch die Angaben der - sich angeblich besser erinnernden - Schwester beeinflußt gewesen. Das LSG hätte sich gedrängt fühlen müssen, die Schwester der Klägerin als Zeugin zu vernehmen und evtl. danach den Zeugen S nochmals zur Sache zu hören.

Die Beklagte stellte in der mündlichen Verhandlung keinen Antrag; die Beigeladene beantragte, die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, weil die Klägerin tatsächlich vorliegende wesentliche Mängel des Berufungsverfahrens gerügt hat: das LSG hat sich seine Überzeugung unter Verletzung von § 128 SGG gebildet und ist seiner Verpflichtung, von Amts wegen den Sachverhalt zu erforschen (§ 103 SGG), nicht ausreichend nachgekommen.

Für die Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch auf das Altersruhegeld kommt es - wovon das LSG zutreffend ausgegangen ist - darauf an, ob die Klägerin über die von ihr nachgewiesene Versicherungszeit von 169 Kalendermonaten hinaus noch weitere Beitragszeiten glaubhaft machen kann, bei deren Hinzurechnung die Wartezeit von 180 Versicherungsmonaten (§ 25 Abs. 4 Angestelltenversicherungsgesetz - AVG -) erfüllt ist; insbesondere ob es glaubhaft ist, daß die Klägerin in den Jahren 1924 bis 1930 - wie sie behauptet - eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt und Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet hat (§ 1 Abs. 1 Satz 1 und § 10 der Verordnung vom 3. März 1960 - BGBl I 137 -). Von dieser Rechtsauffassung aus reichte es aber nicht aus, daß das LSG sich mit den Aussagen der im Klageverfahren gehörten Zeugen begnügt und für die Bewertung dieser Aussagen den Brief der Schwester der Klägerin an den Zeugen S herangezogen hat. Insbesondere durfte das LSG den Inhalt dieses Briefes nicht - wie geschehen - zum Nachteil der Klägerin verwerten, ohne zuvor die Briefschreiberin selbst als Auskunftsperson zur Sache zu hören. Zwar enthält weder das SGG noch die Zivilprozeßordnung (ZPO), deren Vorschriften im sozialgerichtlichen Verfahren hilfsweise entsprechend anzuwenden sind (§ 202 SGG), eine Vorschrift des Inhalts, daß - wie es z. B. § 250 der Strafprozeßordnung vorschreibt - der Beweis von Tatsachen, die auf der Wahrnehmung einer Person beruhen, regelmäßig durch deren gerichtliche Vernehmung als Zeuge zu erbringen ist. Das SGG läßt vielmehr - ebenso die ZPO - für diesen Fall auch anderen Beweiseinzug zu, so z. B. nach § 106 Abs. 3 die Beiziehung von medizinischen Unterlagen und die Einholung von Auskünften aller Art (vgl. auch § 377 Abs. 3 und 4 ZPO in Verbindung mit § 118 Abs. 1 SGG). Diese Beweismittel können aber als solche, wie bereits im Urteil vom 25. Oktober 1956 - 6 RKa 2/56 - (BSG 4, 60) gesagt ist, zur Urteilsfindung nur verwertet werden, wenn sie nach den Umständen des Falles ein geeignetes Mittel zur Erforschung des Sachverhalts sind. Das Gericht darf sich in dem vom Amtsermittlungsgrundsatz beherrschten Verfahren mit der Erklärung oder Auskunft einer Privatperson, die nicht unter der Voraussetzung des § 377 Abs. 3 und 4 ZPO (in Verbindung mit § 118 Abs. 1 SGG) und unter eidesstattlicher Versicherung ihrer Richtigkeit eingereicht ist, nicht begnügen, wenn es die Möglichkeit hat, den Urheber der Erklärung als Zeugen vor Gericht zu vernehmen. Was aber in der genannten Entscheidung für den Fall gesagt ist, daß das Gericht von sich aus zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung eine schriftliche Auskunft einholt, muß ebenso gelten, wenn es sich um eine auf andere Weise an das Gericht gelangte schriftliche Erklärung einer Privatperson handelt, wie bei dem an den Zeugen S gerichteten und von diesem dem Gericht überlassenen Brief der Schwester der Klägerin.

Zwar hat das LSG aus diesem Brief nicht ausdrücklich Tatsachen entnommen und im Urteil als solche festgestellt; es hat sich jedoch ersichtlich von dem ungünstigen Eindruck, den es von dem Inhalt des Briefes hinsichtlich der von der Klägerin behaupteten Beitragsleistung empfangen hatte, bei der Bewertung der Zeugenaussagen leiten lassen und diese vor allem deshalb nicht als ausreichenden Nachweis für die behauptete Beitragsleistung angesehen. Es hat damit den der Klägerin nachteiligen Briefinhalt bei der Bildung seiner Überzeugung verwertet und die Entscheidung mit auf ein Beweismittel gestützt, das als solches gegenüber der Zeugenvernehmung den geringeren Wert besitzt. Denn für die Ermittlung der Wahrheit bedeuten der persönliche Eindruck, den der Zeuge bei seiner Vernehmung macht, die Anwesenheit der Beteiligten im Termin (§ 111 Abs. 2 SGG), das ihnen zustehende Fragerecht (§ 116 Satz 2 SGG) und die Möglichkeit der Gegenüberstellung mit anderen Zeugen eine weit bessere Gewähr als die bloße Verlesung einer privatschriftlichen Aufzeichnung. In der Rechtsprechung wird deshalb der höhere Wert des Zeugenbeweises gegenüber dem Urkundenbeweis auch allgemein anerkannt (vgl. BGHZ 7, 121; NJW 1955, 671; RGZ 46, 412 und 105, 221). Das Gericht hat aber, um der ihm aus § 103 SGG obliegenden Verpflichtung zu genügen, den jeweils besseren Beweis zu erheben (vgl. BSG im SozR zu § 128 SGG Bl. Da 24 Nr. 59 und Beschluß vom 8. November 1965 - 10 RV 498/65 -). Bei dem Brief der Schwester der Klägerin an den Zeugen S kommt noch hinzu die darin enthaltene außergewöhnlich feindselige und gehässige Einstellung der Briefschreiberin, die auch dem LSG nicht verborgen geblieben ist, sowie der teilweise widersprüchliche Inhalt ihrer Angaben. Unter allen diesen Umständen bildete der Brief kein geeignetes Beweismittel für die Erforschung des Sachverhalts. Er hätte daher der Entscheidung des Rechtsstreits nicht zu Grunde gelegt werden dürfen. Das LSG hätte sich vielmehr, wie die Klägerin mit Recht geltend macht, gerade auch durch den Inhalt des Briefes veranlaßt sehen müssen, die Schwester der Klägerin als Zeugin zu dem Beweisthema zu vernehmen oder vernehmen zu lassen.

Zwar hat die Klägerin weder beim SG noch beim LSG sich auf das Zeugnis ihrer Schwester berufen, was doch nach allem, was sie jetzt in der Revision über die Erheblichkeit dieser Zeugenaussage vorträgt, nahegelegen hätte. Aus dem angefochtenen Urteil ergibt sich aber nicht, daß sie schon im Verfahren vor dem SG oder dem LSG gewußt hat, daß ihre Schwester sich in dem Brief an den Zeugen S über ihre - der Klägerin - frühere berufliche Tätigkeit ausführlich geäußert hatte. Es besteht deshalb kein Anhaltspunkt für die Annahme, daß sie die Unterlassung der Zeugenvernehmung als Verfahrensmangel schon vor dem Berufungsgericht hätte rügen können. Im übrigen kann ein Rügeverlust der Klägerin nach § 295 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 202 SGG auch deshalb nicht eingetreten sein, weil ein Beteiligter auf die Befolgung des in § 103 SGG enthaltenen Grundsatzes durch das Gericht nicht wirksam verzichten kann (vgl. § 295 Abs. 2 ZPO; BSG im SozR SGG § 103 Bl. Da 11 Nr. 31). Vielmehr besteht die Verpflichtung des Gerichts, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, ohne Rücksicht auf die Erklärungen und das prozessuale Verhalten der Beteiligten.

Das angefochtene Urteil läßt nicht erkennen, warum das LSG von der Vernehmung der Schwester der Klägerin als Zeugin abgesehen hat, obwohl es von dem Vorhandensein dieser Auskunftsperson und von deren Wissen um die für das Beweisthema erheblichen Tatsachen gewußt hat. Das LSG konnte nur dann auf die Anhörung verzichten, wenn jede Möglichkeit, daß die Beweisaufnahme Sachdienliches ergeben werde, ausgeschlossen war, wenn insbesondere von vornherein der völlige Unwert des Beweismittels feststand (vgl. BGH in NJW 1951, 481). Hierüber gibt aber das angefochtene Urteil keinen Aufschluß. Möglicherweise hat das LSG - ohne dies allerdings zu sagen - aus der Feindschaft zwischen der Klägerin und ihrer Schwester, wie sie sich aus dem Brief an den Zeugen S ergab, auf die Wertlosigkeit des Zeugnisses der Schwester der Klägerin geschlossen und deshalb von der Anhörung abgesehen. Dieser Sachverhalt allein reicht aber noch nicht aus, um einer vor Gericht bekundeten Aussage der Zeugin von vornherein jede Bedeutung abzusprechen. Wie die Revision mit Recht vorträgt, wäre die Zeugin bei einer richterlichen Vernehmung auf ihre Wahrheitspflicht unter Androhung der Straffolgen hingewiesen worden. Es stand auch nicht von vornherein fest, daß die Zeugin bei einer richterlichen Vernehmung von ihrem Recht, als Schwester der Klägerin das Zeugnis zu verweigern (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. § 383 Abs. 1 Nr. 3 ZPO) Gebrauch gemacht hätte. Im übrigen könnten auch aus einer solchen Weigerung Schlüsse auf den Wahrheitsgehalt der klägerischen Behauptung gezogen werden. Sonstige Gründe, die von vornherein auf eine völlige Ungeeignetheit des Beweismittels schließen ließen, sind aber nicht ersichtlich.

Hätte das LSG demnach seine Überzeugung nicht mit auf den Brief der Schwester der Klägerin an den Zeugen S stützen dürfen, hätte es jene vielmehr darüber hören müssen, ob und wann die Klägerin in dem fraglichen Zeitraum (1924 - 1930) versicherungspflichtig beschäftigt war und Beiträge geleistet hat, so verletzt sein Verfahren § 128 Abs. 1 SGG und bedeutet das Unterlassen der Beweisaufnahme einen Verstoß gegen die dem Gericht obliegende Pflicht zu erschöpfender Sachaufklärung (§ 103 SGG). Die Klägerin hat diese Verstöße unter Angabe der Tatsachen und Beweismittel ordnungsgemäß gerügt (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Ihre Rüge macht die Revision statthaft.

Die Revision ist auch begründet.

Es ist nicht völlig ausgeschlossen, daß das Berufungsgericht bei einer Vernehmung der Zeugin auf Grund von deren Aussagen zu einer anderen Beurteilung des Sachverhalts gekommen wäre. Wie sich aus dem Brief an den Zeugen S ergibt, bezieht sich die Schwester der Klägerin auf Familienereignisse als Gedächtnisstütze. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, daß ihre Aussage und eine evtl. nochmalige Anhörung des Zeugen S dazu geführt hätten, daß die Entscheidung des Gerichts anders ausgefallen wäre.

Das Urteil des LSG und die ihm zugrunde liegenden Feststellungen sind deshalb aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. Dieses wird nunmehr die Schwester der Klägerin zur Sache hören müssen und je nach dem Inhalt ihrer Bekundungen nochmals den Zeugen S. Bei der Bedeutung, die diesen Aussagen für den Ausgang des Rechtsstreits zukommt, wird das Berufungsgericht erwägen müssen, ob es angezeigt ist, daß es die Zeugen selbst oder durch den Berichterstatter als beauftragten Richter hört.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2374866

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