Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz eines Schülers beim Spielen mit einem Sprengkörper

 

Orientierungssatz

Der Versicherungsschutz ist nicht wegen einer selbstgeschaffenen Gefahr ausgeschlossen, wenn der Schüler keine unmittelbaren Vorstellungen von den ihm aus seiner Handlungsweise drohenden Gefahren hatte.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b Fassung: 1971-03-18, § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-07-30

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 27.07.1977; Aktenzeichen L 3 U 86/76)

SG Speyer (Entscheidung vom 23.09.1974; Aktenzeichen S 6 U 106/73)

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 27. Juli 1977 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger wegen der Folgen der am 19. Mai 1972 nach Schulschluß erlittenen Sprengkörperverletzung der rechten Hand Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu beanspruchen hat.

Der Sachverhalt ergibt sich für die Zeit bis zur Zurückverweisung aus dem Urteil des erkennenden Senats vom 20. Mai 1976 (BSGE 42, 42 = SozR 2200 § 550 Nr 14). Dieser hat auf die Revision des Klägers das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Rheinland-Pfalz vom 25. Juni 1975 aufgehoben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Das LSG hat nach Vernehmung mehrerer Zeugen und eines Sprengstoffsachverständigen das Urteil des Sozialgerichts (SG) Speyer vom 23. September 1974 abgeändert, den Bescheid des Beklagten vom 23. Februar 1973 aufgehoben und ihn verurteilt, dem Kläger wegen des Schulunfalls Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 27. Juli 1977).

Der Beklagte hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Er bezweifelt die Anwendbarkeit des § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b) der Reichsversicherungsordnung (RVO), rügt einen Verstoß des LSG gegen § 128 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und meint, der erkennende Senat sei durch § 170 Abs 5 SGG an einer schärferen Präzisierung der im Urteil vom 20. Mai 1976 gegebenen allgemeinen Richtlinien nicht gehindert.

Der Beklagte beantragt (sinngemäß),

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

sie zurückzuweisen.

Der Beigeladene ist nicht vertreten.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen.

Nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b) iVm § 550 Abs 1 RVO steht seit 1. April 1971 (§ 2 Nr 1 Gesetz über Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18. März 1971 - BGBl I, 237 -) ein Schüler auf dem Weg nach und von der Schule unter Unfallversicherungsschutz, wenn der Schulbesuch eine wesentliche Bedingung für die Herbeiführung des Unfalls gewesen ist (vgl BSGE 12, 242, 245; 13, 9, 11; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band II, 1.-8. Aufl, S 480 q II - 48. Nachtrag - August 1977 - mit weiteren Nachweisen). Dabei muß die ursächliche Verknüpfung zwischen dem Unfall und der versicherten Tätigkeit so eng sein, daß daneben andere, mit der versicherten Tätigkeit nicht zusammenhängende Umstände in den Hintergrund treten und deshalb als rechtlich unwesentlich erscheinen. Der Unfall des Klägers ist beim Spielen mit einem Sprengkörper geschehen. Der erkennende Senat hat in seinem in dieser Sache ergangenen Zurückverweisungsurteil vom 20. Mai 1976 (BSGE 42, 42 = SozR 2200 § 550 Nr 14) unter Hinweis auf Rechtsprechung und Schrifttum dargelegt, daß auch Versicherungsschutz besteht, wenn sich die spielerische Betätigung eines Schülers noch im Rahmen dessen gehalten hat, was nach den Umständen des Falles nicht als völlig unverständig oder vernunftwidrig zu erachten ist, mag es vielleicht auch unbesonnen oder leichtsinnig gewesen sein. Es müsse vor allem die Tatsache gewürdigt werden, daß der Kläger sogenannter Fahrschüler gewesen sei; den hiermit zusammenhängenden Umständen müsse eine ausreichende Bedeutung beigemessen werden, vor allem, wenn zwischen Schulende und Abfahrt des Verkehrsmittels ein längerer Zeitraum gelegen habe. Handlungen des Schülers während der Wartezeit könnten nur dann den Versicherungsschutz entziehen, wenn das eigenverantwortliche Tun des Geschädigten derart im Vordergrund stehe, daß die versicherte Tätigkeit für den Kausalverlauf nicht mehr als wesentlich angesehen werden könne.

Aufgrund dieser Rechtsauffassung, der das LSG uneingeschränkt gefolgt ist (§ 170 Abs 5 SGG), hat der erkennende Senat dem LSG aufgegeben, festzustellen, ob das Aufsuchen des Lutherplatzes einen Abweg vom Weg von der Schule zum Bahnhof darstelle, ob der Kläger die von dem Sprengkörper ausgehende Gefahr gekannt, ob er insbesondere gewußt habe, daß dieser schon in der Hand explodieren werde, oder ob er angenommen habe, daß die Explosion erst durch das Aufprallen am Boden ausgelöst werde, und ob ein Gespräch zwischen dem Beigeladenen und dem Kläger stattgefunden habe, das sich konkret auf die Gefährlichkeit des von dem Beigeladenen angefertigten Sprengkörpers bezogen habe.

Nach den Feststellungen des LSG lag der Lutherplatz in Worms zwar nicht auf dem direkten Weg von der Schule zum Bahnhof; er war aber ein allgemeiner Schülertreffpunkt, von dem aus der Bahnhof in drei Gehminuten zu erreichen war. Der Weg war vor allem für einen Fahrschüler kein Umweg, der den Versicherungsschutz beseitigte. Der Kläger konnte nicht damit rechnen, daß der von dem Beigeladenen angefertigte Sprengkörper bereits in seiner Hand explodieren werde. Er hat nur allgemein etwas über die Gefährlichkeit von Explosivkörpern gewußt, aber angenommen, daß diese erst beim Aufprall auf den Erdboden explodieren würden. Die Gespräche mit dem Beigeladenen - einige Monate vorher und unmittelbar vor dem Unfall - haben sich nur allgemein auf das "Hobby" des Beigeladenen bezogen. Der Kläger ist über die Gefährlichkeit des ihm vom Beigeladenen, in Stanniolpapier gewickelten Gegenstandes konkret nicht aufgeklärt worden. Wie der Sprengstoffsachverständige bekundet hat, kann der Sprengstoff nicht durch den mit dem Ausholen der Hand zum Wurf ausgeübten Schwung zur Detonation gebracht werden; zu denken ist aber an die Reibung der einzelnen Kristalle untereinander und am Stanniolpapier oder an den mit der Hand ausgeübten Druck.

Diese Feststellungen des LSG hat der Beklagte nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffen, so daß sie für den erkennenden Senat nach § 163 SGG bindend sind. Wenn der Beklagte darauf abhebt, der Kläger sei kein hilfloses, unverständiges Kind unter 18 Jahren und in seiner Entwicklung schon ausgereift gewesen, so würdigt er nur bekannte Tatsachen, mit denen sich das LSG auseinandergesetzt hat, anders, ohne jedoch darzutun, daß seine Auffassung die allein mögliche ist. Dies genügt einer formgerechten, auf § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützten Revisionsrüge nicht, weil damit nicht im einzelnen schlüssig dargetan wird, inwiefern das LSG gegen Erfahrungssätze oder gegen die Denkgesetze verstoßen haben soll (BSG SozR Nr 47 zu § 164 SGG). Außerdem bleibt unbeachtet, daß das LSG dem Lebensalter des Klägers nicht die allein ausschlaggebende Bedeutung beigemessen hat, wobei es sich im Einklang mit Rechtsprechung und Lehre befindet, die für den Ausschluß des Versicherungsschutzes keine feste Altersgrenze annehmen (vgl BSGE 42, 42, 46, 47; Brackmann, aaO, S 484 u). Soweit der Beklagte daraus Mängel in der Beweiswürdigung des LSG herleiten will, daß der Kläger - wie das LSG festgestellt hat - bereits Monate vor dem Unfall mit dem Beigeladenen über dessen Sprengstoffexperimente gesprochen und von diesem kurz vor dem Unfall Hinweise hinsichtlich des Haltens des Sprengkörpers in der hohlen Hand und der Art des Werfens erhalten hat, scheitert er auch mit diesem Vorbringen. Es entspricht nämlich nicht der Formvorschrift des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG, wonach bei der Rüge von Verfahrensmängeln die Revision im einzelnen und genau die Tatsachen zu bezeichnen hat, die den behaupteten Mangel ergeben. Das ist nicht geschehen. In Wahrheit möchte der Beklagte seine - ihm genehme - Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des LSG setzen. Das ist aber mit einer unzureichenden Verfahrensrüge nicht zu bewirken.

Soweit der Beklagte meint, der erneut mit der Sache befaßte erkennende Senat sei durch § 170 Abs 5 SGG an einer schärferen Präzisierung der im Urteil vom 20. Mai 1976 gegebenen allgemeinen Richtlinien nicht gehindert, besteht hierfür schon deshalb kein Anlaß, weil sich das Berufungsgericht an die Rechtsauffassung im ersten Revisionsurteil gehalten hat und seine Tatbestandsfeststellungen auch ausreichen, um den Fall des Klägers zu entscheiden.

Das angefochtene Urteil ist auch sonst nicht rechtsfehlerhaft. Der Versicherungsschutz ist nicht deswegen ausgeschlossen, weil - dieser Meinung scheint der Beklagte zu sein - der Kläger eine Gefahr selbst geschaffen hat. Er verkennt, daß der Kläger keine unmittelbaren Vorstellungen von den ihm aus seiner Handlungsweise drohenden Gefahren hatte. Daher treffen auf ihn auch nicht die ohnehin nur vorsichtig anzuwendenden (vgl BSG SozR Nr 77 zu § 542 RVO aF; Brackmann, aaO, S 484 f) Rechtsgrundsätze bei einem Unfall in einer selbstgeschaffenen Gefahr zu (vgl BSG SozR Nr 55 zu § 542 RVO aF).

Diese Auffassung widerspricht nicht der bisherigen Rechtsprechung. Der vorliegende Fall ist nicht dem vom 2. Senat am 25. November 1977 - 2 RU 75/77 - (SozSich 1978, 116) entschiedenen vergleichbar, weil der dortige Kläger durch das Aufsuchen der Wohnung eines Schulkameraden seinen Heimweg von der Schule nicht nur geringfügig unterbrochen hatte. Auch soweit bisher Urteile über Unfälle ergangen sind, die sich bei Spielereien mit Sprengstoff ereigneten, stehen sie der hier gewonnenen Erkenntnis nicht entgegen. Das Schleswig-Holsteinische LSG hat allerdings in einem Urteil vom 10. März 1976 (vgl Lauterbach-Kartei Nr 9932 zu § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO) dem bei einer Explosion verletzten Schüler keinen Versicherungsschutz zugesprochen. Der dort entschiedene Fall lag aber anders: Der Schüler hatte die Chemikalien, die zur Detonation führten, von zu Hause mitgebracht, sie selbst gemischt und dann außerhalb des Rahmens des ordnungsmäßigen Schulbesuches zur Explosion gebracht.

Auch das Urteil des 2. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25. Januar 1977 (BSGE 43, 113 = SozR 2200 § 550 Nr 26) betrifft einen mit dem hier entschiedenen nicht vergleichbaren Sachverhalt. Daß der dortige Kläger mit 14 1/2 Jahren erheblich jünger war als der Kläger des vorliegenden Rechtsstreits (17 Jahre und 3 Monate), ist nicht entscheidend. Das Lebensalter eines Schülers allein ist nicht maßgebend. In dem vom 2. Senat entschiedenen Fall war der Kläger kein sogenannter Fahrschüler; er mußte also keine Wartezeit bis zur Abfahrt seines Zuges überbrücken. Er hatte bereits früher mit den zur Explosion führenden Stoffen experimentiert und dann das Gemisch ohne Beisein anderer Schüler zusammengestellt. Außerdem hatte er die Stoffe von zu Hause mitgebracht und beabsichtigt, das Gemisch später abseits des Schulweges zur Explosion zu bringen. Diese Handlungsweise war ohne enge Verknüpfung mit der Schule geplant und auf eine längere Dauer ausgerichtet, während der Kläger sich hier nach den Feststellungen des LSG nur kurzfristig und zur Überbrückung der Wartezeit an den Spielereien anderer auf dem Lutherplatz in Worms beteiligt hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655871

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