Entscheidungsstichwort (Thema)

Eintritt des Erben oder des besonderen Bezugsberechtigten

 

Leitsatz (amtlich)

Der Anspruch auf Witwenrentenabfindung (RVO § 1302 Abs 1 der nicht zu Lebzeiten der Witwe erhoben ist, ist nicht vererblich.

 

Leitsatz (redaktionell)

bloß in solche Leistungsrechte ein, die der Versicherte oder Hinterbliebene bei Lebzeiten abgerufen hatte. Die Abfindung ist nur äußerlich als ein selbständiges Recht ausgestattet; sie ist gedanklich von der Institution der Rente abgeleitet und von ihr nach Voraussetzungen und Maß abhängig.

 

Normenkette

RVO § 1302 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1288 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Sprungrevision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts in Hamburg vom 30. September 1960 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Die Frau des Klägers hatte aus der Invalidenversicherung ihres ersten Ehemannes, des kriegsverschollenen Arbeiters W... H..., die Witwenrente bezogen. Am 6. Mai 1960 war sie die zweite Ehe mit dem Kläger eingegangen, verstarb aber bereits wenige Tage später am 9. Mai 1960. Die Abfindung ihrer Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes hatte sie nicht mehr beantragt. Diesen Antrag stellte indessen am 12. Mai 1960 der Kläger. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 11. Juli 1960 die Leistungsbewilligung ab, weil es keine gesetzliche Bestimmung gebe, die den Kläger ermächtige, die Abfindung zu begehren und die Zahlung in Empfang zu nehmen.

Demgegenüber hielt sich der Kläger für berechtigt, als Erbe die Abfindung zu fordern. Seine vor dem Sozialgericht (SG) Hamburg erhobene Klage wurde durch Urteil vom 30. September 1960 abgewiesen. Das SG nahm an, der Kläger habe lediglich einen "potentiellen Anspruch" auf Witwenrentenabfindung geerbt; die Erfüllung dieses Anspruchs setze aber einen Antrag voraus und diesen Antrag vermöge der Kläger nicht wirksam zu stellen, da die Befugnis hierzu ein höchst persönliches, an die Person der Witwe gebundenes, nicht übertragbares und nicht vererbliches Recht darstelle.

Das ihm am 13. Oktober 1960 zugestellte Urteil hat der Kläger am 5. November 1960 mit der Revision unmittelbar an das Bundessozialgericht (BSG) angefochten. Gleichzeitig hat er die schriftliche Einwilligung der Beklagten damit vorgelegt. Das Rechtsmittel hat er am 12. November 1960 wie folgt begründet: Das SG sei zu Unrecht von der Notwendigkeit eines Antrags auf Abfindung ausgegangen. Unter Berufung auf eine Stelle in dem Kommentar des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger zum 4. und 5. Buch der Reichsversicherungsordnung (RVO), 5. Auflage Anm. 6 zu § 1287 (S. 225), führt er aus, die Versicherungsträger seien im Stande, die Witwenrenten auch ohne förmliches Gesuch abzufinden. Das Fehlen einer derartigen förmlichen Voraussetzung könne also ernstlich kein Leistungshindernis sein. Wenn sich der Versicherungsträger hier trotzdem darauf beziehe, daß der Anspruch nicht von der Witwe selbst zu Lebzeiten geltend gemacht worden sei, dann überschreite er die Grenzen, die seinem Ermessen durch eine Selbstbindung der Verwaltung infolge ständig gleichmäßiger Verwaltungspraxis gezogen worden sei. Als Folge einer stetigen Verwaltungsübung sei die Beklagte auch jetzt verpflichtet, ihre Entschließung ohne Mitwirkung der unmittelbar berechtigten Witwe in einem von dem Kläger gewünschten Sinne zu treffen.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und des Bescheides der Beklagten vom 11. Juli 1960 die Beklagte zu verurteilen, ihm die Abfindung gemäß § 1302 RVO (nF) zu zahlen;

hilfsweise,

die Witwenabfindung an die Erben seiner Ehefrau zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen einer Sprungrevision sind gegeben (§ 161 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - in Verbindung mit § 144 Abs. 1 Nr. 1 und § 150 Nr. 1 SGG). Das Rechtsmittel ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). In der Sache selbst muß ihm jedoch der Erfolg versagt bleiben. Der Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig und deshalb die Revision gegen die im Ergebnis zutreffende Vorentscheidung zurückzuweisen.

Für den Ausgang dieses Rechtsstreits fällt es nicht ins Gewicht, ob der Kläger Inhaber des von ihm behaupteten Anspruchs ist, oder ob er mit oder ohne Zustimmung der Erben oder Miterben den Anspruch geltend machen kann. Selbst wenn die Aktivlegitimation des Klägers unterstellt wird, kann die Revision nicht durchdringen, weil es an einem übertragbaren Recht auf Witwenrentenabfindung, das auf die Erben der verstorbenen Ehefrau des Klägers hätte übergehen können, überhaupt fehlt.

Das Verlangen des Klägers scheitert zwar nicht daran, daß es aus öffentlich-rechtlichen Rechtsbeziehungen hergeleitet wird; können doch die in öffentlich-rechtlichen Verhältnissen wurzelnden Vermögensrechte durchaus zu dem Vermögen gerechnet werden, das im Erbfalle auf eine oder mehrere Personen übergeht (§ 1922 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -). Was von dem Anspruch als solchem gilt, trifft im Grunde genommen auch auf die Antragsbefugnis zu. Denn zusammen mit dem Hauptrecht wird in der Regel auch das Hilfsrecht zu seiner Verwirklichung, also die Rechtsmacht vererbt, eine von dem Verpflichteten anzuerkennende Wirkung zu begründen. Dem Leistungsbegehren des Klägers steht indessen ein anderer Gesichtspunkt entgegen.

Der Anspruch auf Witwenrentenabfindung ist, wenn er nicht durch die unmittelbar Berechtigte oder durch deren Beauftragten noch zu ihren Lebzeiten erhoben worden ist, nicht vererblich. Dies folgt aus § 1288 Abs. 2 RVO -, sei es nun, daß man diese Bestimmung - wie hier - unmittelbar anwendet, oder sei es, daß man aus ihrem Tatbestand einen allgemeinen, die Vererblichkeit von Leistungsansprüchen einschränkenden Grundgedanken ableitet. Das Gesetz läßt eine Rechtsnachfolge nur dann eintreten, wenn der Versicherte oder Hinterbliebene vorher "seinen Anspruch erhoben hatte". Ohne die rechtsvermehrende oder rechtsstärkende Wirkung des Antrags besteht wohl eine begründete Aussicht, ein Anrecht, aber noch nicht ein vererbbares Vollrecht auf die Leistung aus der Rentenversicherung. Solange der Erblasser nicht durch sein Gesuch kundgetan hat, daß er von dem Versicherungsträger die Zahlung fordere, verbleibt der Anspruch ausschließlich in seiner Hand. Erklärt der Berechtigte nicht zu Lebzeiten seine Aufforderung zur Leistung, so geht das entwicklungsfähige Recht mit seinem Tode unter.

Diese Rechtswirkung ist - wie gesagt - dem § 1288 Abs. 2 RVO zu entnehmen, obgleich diese Vorschrift nicht eigentlich über die allgemeine Erbfolge handelt, sondern einige von dem allgemeinen Erbrecht abweichende und dieses verdrängende Bezugsberechtigungen aufstellt. Daß das Gesetz eine allgemeine Erbfolge im Rahmen von § 1288 Abs. 2 RVO aber überhaupt nur in dem Umfange zulassen will, in dem es derartige Bezugsrechte anführt, läßt sich unschwer erkennen. Denn andernfalls wäre die gesetzliche Regelung kaum verständlich. Es wäre nicht einzusehen, warum der Kreis der Begünstigten nur unter der im Gesetz mitgeteilten Bedingung (nämlich der Geltendmachung der Leistung zu Lebzeiten des Versicherten oder der Hinterbliebenen) und nicht auch sonst den Erben vorgehen solle. Daß das Leistungsrecht, solange es noch nicht ausgeübt ist, nicht in den Nachlaß fällt, hat freilich - worauf noch zurückzukommen ist - seinen inneren Grund in der höchstpersönlichen Struktur dieses Anspruchs. Auf dieser Erkenntnis beruht § 1288 Abs. 2 RVO. - Vorerst bleibt zweierlei festzuhalten: Einmal, daß das Erbrecht des BGB nur ergänzend in der Rang- und Reihenfolge nach den Bezugsrechten der RVO anzuwenden ist, und zweitens, daß ein vererbliches Vermögensrecht nicht entstanden ist, wenn der Rentenberechtigte starb, bevor der Anspruch angemeldet war. Die Richtigkeit dieser Regel wird zusätzlich durch den Umkehrschluß aus § 1537 RVO bestätigt; dort ist - was sonst überflüssig gewesen wäre - das Gegenteil zugunsten der Gemeinden und Fürsorgeträger ausdrücklich angeordnet.

Der Wortlaut des § 1288 Abs. 2 RVO erlaubt kaum einen Zweifel darüber, daß von dem Tatbestand des Gesetzes nicht nur Ansprüche auf wiederkehrende Bezüge, sondern auch solche auf einmalige Leistungen erfaßt werden. Das Reichsversicherungsamt (RVA) hat in der Revisionsentscheidung vom 13. Juli 1940 (Entscheidungen und Mitteilungen des RVA Band 46, 426) darauf hingewiesen, daß das Gesetz sich allgemein des Ausdrucks "ein Versicherter" bediene und mit diesem Ausdruck die Worte "nachdem er seinen Anspruch erhoben hatte" verbinde. Es hat daraus den Schluß gezogen, daß die Vorschrift nicht bloß Rentenforderungen betreffe, sondern sogar den Fall einer Rechtsnachfolge in das Recht auf Beitragserstattung einbeziehe. In diesem Zusammenhang - wenn auch um anderer Belange willen - will es recht passend erscheinen, daß das Verbot der Abtretung (§ 119 RVO) und der Schutz vor Aufrechnung (§ 1299 RVO) ganz allgemein auf Leistungsansprüche ausgedehnt sind. Auf diesen weitergehenden Fragenkreis braucht hier aber nicht eingegangen zu werden. Auch wenn man die Folgerungen jener Entscheidung des RVA nicht restlos gutheißen will, vermag man die gegenwärtige Sache dem § 1288 Abs. 2 RVO unterzuordnen; dies deshalb, weil die gesetzgeberischen Erwägungen, die dieser Vorschrift zugrunde liegen, auf den Fall der Witwenrentenabfindung nicht weniger als auf den der Versicherten- oder Hinterbliebenenrente zutreffen. Dazu ist zu bemerken: Die Eigenart der gesetzlichen Ordnung, die es dem Erben verwehrt, ein Recht durchzusetzen, dessen Verwirklichung der Erblasser zu Lebzeiten nicht mehr gefordert hatte, beruht auf der Lehre von der höchstpersönlichen Rechtsnatur des Anspruchs. Der Anspruch entsteht nach dieser Lehre lediglich in der Person des Berechtigten. Der Berechtigte allein kann die materiellen und formellen Anspruchsvoraussetzungen erfüllen, also auch den gemäß § 1545 Abs. 1 Nr. 2 RVO erforderlichen Antrag stellen. Der Anspruch ist entsprechend ähnlichen Vorbildern des bürgerlichen Rechts, nämlich dem Anspruch auf Zahlung einer Leibrente (§ 759 BGB) oder der Forderung auf Unterhaltsleistung der Verwandten, des Ehegatten und des Vaters eines unehelichen Kindes (§§ 1615, 1360 a Abs. 3, 1713 BGB) von der Person des Berechtigten untrennbar und folglich auch im Wege des Erbgangs nicht übertragbar. Auf die Erben kann lediglich die Forderung auf fällige Rentenbezüge übergehen, weil alsdann aus dem rein persönlichen Recht noch zu Lebzeiten des Berechtigten Folgen entstanden sind, die ein nach Geld zu schätzendes Interesse begründen. Dieses Interesse fällt allerdings in den Nachlaß. - Der Gedanke, daß ein Rentenrecht aus der gesetzlichen Rentenversicherung nur vererblich sei, wenn es noch vor dem Tode des Berechtigten angemeldet worden war, ist von dem RVA bereits früh entwickelt worden (Revisionsentscheidungen Nrn. 230 und 289, Amtliche Nachrichten 1893, 73 und 142). Das Gesetz hat diese Idee aufgegriffen und zugleich den Kreis der Rechtsnachfolger oder besser: der Bezugsberechtigten abgegrenzt (§ 41 Abs. 4 des Invalidenversicherungsgesetzes vom 13. Juli 1899, § 1303 der RVO in der ursprünglichen Fassung und § 1288 Abs. 2 RVO in der heutigen Fassung). In der Rechtsprechung des RVA zur Theorie von der höchstpersönlichen Natur des Rentenrechts ist es betont als allgemein gültiges Prinzip formuliert worden, daß der Erbe oder der besondere Bezugsberechtigte bloß in solche Leistungsrechte eintritt, die der Versicherte oder Hinterbliebene bei Lebzeiten abgerufen hatte (Revisionsentscheidung des RVA Nr. 1895 AN 1914, 694 und Nr. 2177 AN 1916, 425).

Dieses in die Bestimmung des § 1288 Abs. 2 RVO eingegangene Prinzip gibt im vorliegenden Falle den Ausschlag. Daß es für die volle Entfaltung des Rechts ausschließlich auf den Willen des unmittelbar Begünstigten ankommen solle, ist - vom Standpunkt des Gesetzes aus - in bezug auf die Witwenrentenabfindung ebenso wie hinsichtlich der Witwenrente selbst anzunehmen. Bei beiden wird der Anspruchscharakter gleichermaßen von Faktoren bestimmt, die allein in der Person der Witwe begründet erscheinen. Die Interessenlagen, denen das Gesetz mit beiden Rechtseinrichtungen begegnen will, sind verwandt und die Zielsetzungen stimmen weitgehend überein. Jedesmal soll aus dem Versicherungsverhältnis des verstorbenen Ehemannes die gegenwärtige und künftige wirtschaftliche Lebensstellung der Witwe gesichert werden. Dieser Sicherung dient die Abfindung - als eine Art Kapitalisierung der wiederkehrenden Witwenbezüge -, indem sie die Errichtung und Aufrechterhaltung eines neuen Hausstandes ermöglichen oder wenigstens erleichtern soll. Doch ist dieser Zweck nur zu erreichen, wenn die Abfindung auch wirklich der wiederverheirateten Witwe zugute kommt. Hingegen fällt der Grund für das Leistungsversprechen des Gesetzes mit dem Tode der Witwe weg, so, wie das Gesetz auch das bloße Rentenversprechen nach dem Tode des Versicherten nicht mehr eingelöst wissen will. - Hinzu kommt, daß die Rente das rechtliche Fundament der Abfindung ist. Die Abfindung ist nur äußerlich als ein selbständiges Recht ausgestaltet; sie ist gedanklich von der Institution der Rente abgeleitet und von ihr nach Voraussetzungen und Maß abhängig. Diese Gegebenheiten erlauben nicht nur den angestellten Vergleich, sondern gebieten sogar die Gegenüberstellung im Rahmen von § 1288 Abs. 2 RVO.

Ist deshalb § 1288 Abs. 2 RVO anzuwenden und ist davon auszugehen, daß das Anrecht auf Witwenrentenabfindung untergegangen ist, weil die Witwe den Anspruch nicht mehr zu ihren Lebzeiten erhoben hatte, dann scheidet auch jede Möglichkeit einer dem Kläger in der Sache günstigen Entscheidung aus. Aus diesen Gründen ist das Urteil des SG gerechtfertigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 674142

BSGE, 157

NJW 1962, 886

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