Leitsatz (redaktionell)

1. Fachärzte haben sich grundsätzlich auf ihr ärztliches Fachwissen zu beschränken. Die in GG Art 12 verankerte Freiheit der Berufsausübung wird dadurch nicht verletzt.

Fachärzte dürfen den KK für die Behandlung von Krankenkassenpatienten keine Kosten für ärztliche Leistungen in Rechnung stellen, die nicht ihrem Fachgebiet entsprechen.

2. Ist auf lebenswichtigen Gebieten ein Rechtszustand eingetreten, der nach neueren Erkenntnissen der BVerfG mit dem GG nicht voll vereinbar ist, so muß er für eine Übergangszeit als rechtswirksam hingenommen werden, bis der Gesetzgeber die aus gewandelter Sicht erkannte Regelungslücke verfassungsgemäß geschlossen hat; dies hat aus Gründen des Gemeinwohl auch für formell-rechtlich fehlerhafte Bestimmungen der Berufsordnung der Ärzte zu gelten, da ohne sie eine Gefährdung der ärztlichen Versorgung der Bevölkerung eintreten könnte.

3. Die den Fachärzten in einer Berufsordnung auferlegte Pflicht, ihre Tätigkeit auf das jeweilige Fachgebiet zu beschränken, ist bei Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit dem GG Art 12 Abs 1 S 1 materiell-rechtlich vereinbar, wie auch gegen die Umschreibung des Fachgebietes des Radiologen als "Anwendung ionisierender Strahlen einschließlich derjenigen von radioaktiven Stoffen zu diagnostischen  und therapeutischen Zwecken" keine inhaltlichen Bedenken bestehen. Aus dem Fehlen einer derartigen Beschreibung in früheren Fassungen der Berufsordnung folgt nicht, daß das Fachgebiet damals einen anderen Umfang gehabt hätte.

4. Die Ärzte können die Ausführung und Auswertung von Elektrokardiogrammen nur in dem Umfang als kassenärztliche oder vertragsärztliche Leistungen abrechnen, in dem sie zur Ausübung dieser Leistungen nach ärztlichem Berufsrecht berechtigt sind. Da bei einem Radiologen elektrokardiographische Leistungen nicht in das ärztliche Fachgebiet gehören und er sie folglich nicht fortdauernd und systematisch ausführen darf, kann der Radiologe für sie eine Vergütung nur insoweit verlangen, als er die Elektrokardiogramme zur medizinisch sachgemäßen Ausführung von Röntgenleistungen benötigt.

 

Orientierungssatz

Für eine Regelung der Berufsausübung der Fachärzte (hier: Facharzt für Röntgenologie und Strahlenheilkunde) in der Weise, daß sie sich grundsätzlich auf ihr Fachgebiet zu beschränken haben, sprechen gewichtige Gründe des Gemeinwohls.

 

Normenkette

GG Art. 12 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1968-06-24; ÄBerufsO NR § 37 Abs. 1; GG Art. 12 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1968-06-24; ÄBerufsO NR § 31 Abs. 1 Nr. 19 Fassung: 1971-11-06, § 32 Abs. 5 Fassung: 1971-11-06

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. Mai 1972 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Streitig ist, ob dem Kläger, der als Facharzt für Röntgenologie und Strahlenheilkunde an der kassen- bzw. vertragsärztlichen Versorgung mitwirkt, elektrokardiographische - EKG - Leistungen von der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) uneingeschränkt zu honorieren sind.

Mit Schreiben vom 19. April und 20. Mai 1966 teilte die Beklagte dem Kläger mit, sie werde ihm EKG-Leistungen nach Ablauf einer bis zum 31. Dezember 1969 eingeräumten - später bis zum 31. Dezember 1972 verlängerten - Übergangsfrist nicht mehr vergüten, da sie für ihn fachfremd und deshalb nicht abrechnungsfähig seien. Der Widerspruch des Klägers vom 17. Mai 1966 blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 18. Juli 1966), ebenso die Klage vom 8. August 1966 beim Sozialgericht (SG) Düsseldorf (Urteil vom 8. Dezember 1967, dem Kläger zugestellt am 8. Februar 1968).

Die Berufung vom 26. Februar 1968 hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen zurückgewiesen (Urteil vom 24. Mai 1972): Nach ärztlichem Berufsrecht dem Kläger nicht gestattete EKG-Leistungen brauche die Beklagte nicht zu vergüten. Die Elektrokardiographie gehöre gemäß § 32 Abs. 5 Nr. 19 der Berufsordnung für Ärzte in Nordrhein (BO NR) nicht in das dort umschriebene Fachgebiet des Klägers, auf das er sich nach § 37 Abs. 1 BO NR grundsätzlich zu beschränken habe. Zu EKG-Leistungen und ihrer Abrechnung bei der Beklagten sei der Kläger nur ausnahmsweise berechtigt, wenn er zur sachgemäßen Ausführung seiner röntgenologischen Leistung des EKG's bedürfe, nicht aber - wie streitig sei - systematisch. Daß andere Fachärzte Röntgenleistungen ausführen dürften, berechtige den Kläger nicht, die Grenzen seines Fachgebietes zu überschreiten. Unter dem Gesichtspunkt des Besitz-, Eigentums- oder Vertrauensschutzes könne der Kläger die angestrebte Honorierung ebenfalls nicht verlangen, zumal die Beklagte ihm zum Ausgleich seiner Aufwendungen eine annähernd siebenjährige Übergangsregelung eingeräumt habe.

Gegen das ihm am 14. Juli 1972 zugestellte Urteil hat der Kläger am 14. August 1972 die zugelassene Revision eingelegt: Zu Unrecht habe das LSG aus der Fachgebietsdefinition in § 32 Abs. 5 Nr. 19 BO NR gefolgert, EKG-Leistungen seien für Röntgenologen fachfremd. Auf die Wortbedeutung der Definition könne es nicht entscheidend ankommen; ausschlaggebend sei vielmehr, daß Röntgenbild und EKG sich bei der Untersuchung des Herzens in so hervorragender Weise ergänzten, daß diese diagnostischen Methoden nicht willkürlich getrennt werden dürften und der Röntgenarzt nicht darauf verzichten könne, das Hilfsmittel des EKG in seine Röntgenpraxis zu integrieren. Dies zu verbieten, verstoße gegen Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG): Es stelle eine über das notwendige und zumutbare Maß hinausgehende Einschränkung der freien Berufstätigkeit dar, für die nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 9. Mai 1972 eine formalrechtliche Grundlage fehle. Wenn nach der Rechtsauffassung des BVerfG zwei vollständige Fachbereiche nebeneinander geführt werden dürften, so müsse um so mehr erlaubt sein, sich gegenseitig integrierende Diagnosemethoden in einem Fachbereich zu verbinden.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen vom 24. Mai 1972 und des SG Düsseldorf vom 8. Dezember 1968 sowie den Bescheid vom 19. April/20. Mai 1966 idF des Widerspruchsbescheides vom 18. Juli 1966 aufzuheben und die Beklagte für verpflichtet zu erklären, dem Kläger über den 31. Dezember 1972 hinaus von ihm erbrachte EKG-Leistungen als abrechnungsfähig anzuerkennen.

Die Beigeladenen zu 1) und 3) beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für richtig. Die übrigen Beteiligten haben Anträge nicht gestellt.

Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 1. August 1973 erklärt, eine strikte Beschränkung auf das Fachgebiet werde nicht mehr gefordert; bedürfe der Röntgenarzt zur medizinisch sachgemäßen Ausführung seiner Röntgenleistung eines EKG's, so sei die Abrechnung insoweit nicht zu beanstanden. Eine entsprechende Erklärung hat die Beklagte auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat abgegeben und weiter erklärt, in diesem Umfange erkenne sie das Klagebegehren an. Der Kläger hat dieses Anerkenntnis angenommen.

II

Die Revision ist unbegründet, soweit der Kläger sie - über das angenommene Teilanerkenntnis der Beklagten hinaus - noch weiterverfolgt.

Das angefochtene Urteil ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß die Beklagte dem Kläger die Anfertigung und Auswertung von Elektrokardiogrammen als kassen- bzw. vertragsgemäße Leistung nur in dem Umfange zu vergüten hat, in dem der Kläger diese Leistungen nach ärztlichem Berufsrecht ausüben darf (BSG 23, 97 f, 103). Im Ergebnis richtig ist auch die von der Revision angegriffene Auffassung des LSG, der Kläger dürfe nach § 37 Abs. 1 der BO NR vom 29. Dezember 1956 (MBl NW 1957, 726 ff - BO NR 1956) idF der Weiterbildungsordnung vom 14. Februar 1970, zuletzt geändert am 6. November 1971 (MBl NW 1970, 1839 ff bzw. 1971, 2173 - BO NR), grundsätzlich nur im Fachgebiet Röntgenologie und Strahlenheilkunde (jetzt: Radiologie, § 31 Abs. 1 Nr. 19 BO NR, vgl. § 31 Abs. 1 Nr. 13 BO NR 1956 i. V. m. § 38 Abs. 1 BO NR) tätig werden; EKG-Leistungen gehörten gemäß § 32 Abs. 5 Nr. 19 BO NR nicht in dieses Gebiet und der Kläger sei demzufolge berufsrechtlich nicht befugt, sie fortdauernd und systematisch auszuführen.

Entgegen der Auffassung des Klägers muß er mit seiner Klage nicht schon Erfolg haben, weil eine formalrechtliche Grundlage für die genannten Satzungsvorschriften nicht vorhanden ist. Wie der Senat im Anschluß an die Rechtsprechung des BVerfG zur ärztlich-berufsständischen Satzungsautonomie und deren Grenzen (Beschluß vom 9. Mai 1972, BVerfGE 33, 125, 160 ff) bereits - abweichend von seiner im Urteil vom 28. Mai 1965 (BSG 23, 97 ff) vertretenen Auffassung, der das LSG gefolgt ist - entschieden hat (Urteil vom 18. September 1973 zum Az.: 6 RKa 14/72), bedürfen die in §§ 31 Abs. 1, 32 Abs. 5 und 37 Abs. 1 BO NR enthaltenen statusbildenden bzw. Umfang und Inhalt der fachärztlichen Berufstätigkeit wesentlich prägenden Regelungen wegen ihrer Bedeutung für die betroffenen Ärzte und die Gesundheitspflege der Bevölkerung gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 GG einer Normsetzung durch den von der Allgemeinheit legitimierten Gesetzgeber, an der es fehlt. Genügen mithin die §§ 31 Abs. 1, 32 Abs. 5, 37 Abs. 1 BO NR als Satzungsrecht nicht den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG, so müssen sie - wie der Senat ebenfalls entschieden hat (aaO) - gleichwohl für eine zur notwendigen gesetzlichen (Neu-) Regelung des Facharztwesens ausreichende Übergangszeit formell-rechtlich noch hingenommen werden: Ohne sie wäre ein für die Gesundheitspflege wichtiger Bereich - das Facharztwesen - im wesentlichen ungeregelt; ein solcher regelloser, die ärztliche Versorgung der Bevölkerung gefährdender Zustand stünde der verfassungsgemäßen Ordnung noch ferner als der jetzt satzungsrechtlich normierte (vgl. BVerfGE 33, 1, 13; 303, 347 f; BVerwG, Sammlung Buchholz, Nr. 20 zu 418.00 - Ärzte -, S. 44).

Die den Fachärzten mit § 37 Abs. 1 BO NR auferlegte Pflicht, grundsätzlich nur in ihrem Fachgebiet tätig zu werden, ist bei Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes materiell-rechtlich mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar (BVerfGE 33, 167 f; BSG 23, 97, 99 f, 102). Gegen die Einteilung der Fachgebiete in § 31 Abs. 1 BO NR und die Umschreibung des radiologischen Fachgebietes in § 32 Abs. 5 Nr. 19 BO NR bestehen ebenfalls keine inhaltlichen Bedenken (vgl. BVerfG aaO). Die Ansicht des LSG, die Elektrokardiographie gehöre nicht in das Fachgebiet des Radiologen, stimmt mit der im Urteil des erkennenden Senats vom 28. Mai 1965 ausführlich begründeten Auffassung des Senats überein (BSG 23, 97, 101 f). Abgesehen davon, daß nach der Stellungnahme der Bundesärztekammer vom 28. Mai 1973 inzwischen auch die deutsche Röntgengesellschaft die Anfertigung und Auswertung von Elektrokardiogrammen nicht zum Fachgebiet des Radiologen zählt, sieht der Senat in den vom Kläger erhobenen Einwänden keinen Grund, hiervon abzugehen.

Der Kläger verkennt, daß es dem Röntgenologen auch nach der Fachgebietsbestimmung des LSG und des Senats durchaus nicht willkürlich verwehrt ist, die Elektrokardiographie im Rahmen seiner röntgendiagnostischen Tätigkeit zu nutzen: Erfordern bestimmte Untersuchungen medizinisch-diagnostisch eine Verbindung röntgenologischer und elektrokardiographischer Mittel, so darf der Radiologe EKG-Leistungen als Ausnahme von der allgemeinen Richtlinie des § 37 Abs. 1 BO NR ausführen (vgl. schon BSG 23, 97, 102). Die Befürchtung des Klägers, er könne durch die Begrenzung seines Fachgebiets zum Nachteil der Patienten gezwungen sein, bei seiner Fachtätigkeit auf eine zusätzlich notwendige diagnostische Klärung zu verzichten, ist somit nicht begründet. Die im Einzelfall gebotene Verbindung der Untersuchungsmethoden stellt danach keinen Grund dar, EKG-Leistungen in das Fachgebiet der Radiologen "zu integrieren" und Ärzte dieser Fachrichtung zu berechtigen, sie nicht fachgebunden systematisch auszuführen.

Schließlich hat das Berufungsgericht zutreffend entschieden, daß der Kläger nach einer Übergangsfrist von nahezu 7 Jahren die Vergütung von EKG-Leistungen über den 31. Dezember 1972 hinaus nicht unter dem Gesichtspunkt des Besitz-, Eigentums- oder Vertrauensschutzes beanspruchen kann. Dies entspricht der im Urteil vom 28. Mai 1965 begründeten Rechtsauffassung des Senats (BSG 23, 97, 103 ff), von der abzuweichen kein Anlaß besteht. Gesichtspunkte hierfür hat auch der Kläger mit der Revision nicht vorgetragen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670185

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