Entscheidungsstichwort (Thema)

Herabsetzung der allgemeinen Bemessungsgrundlage verfassungsgemäß

 

Orientierungssatz

1. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Herabsetzung der allgemeinen Bemessungsgrundlage vom 1.7.1978 an (AnVNG Art 2 § 11 Abs 4 = ArVNG Art 2 § 11 Abs 3) bestehen nicht. Die Gesetzesänderung hält sich im Rahmen der Befugnis des Gesetzgebers, nach Art 14 Abs 1 S 2 GG Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen.

2. Einer Übergangsregelung für Personen, die vor dem 1.7.1978 den Rentenantrag schon gestellt hatten, bedurfte es nicht, weil für die Altersruhegeldregelung nicht die Antragstellung sondern der Eintritt des Versicherungsfalles wesentlich ist.

 

Normenkette

AVG § 25 Abs 1; AVG § 25 Abs 4; RVO § 1248 Abs 1; RVO § 1248 Abs 4; AnVNG Art 2 § 11 Abs 4 Fassung: 1978-07-25; ArVNG Art 2 § 11 Abs 3 Fassung: 1978-07-25; GG Art 3 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; GG Art 14 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; GG Art 14 Abs 2 Fassung: 1949-05-23; GG Art 20 Abs 3 Fassung: 1949-05-23

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 16.03.1982; Aktenzeichen L 11 An 52/81)

SG München (Entscheidung vom 18.11.1980; Aktenzeichen S 12 An 471/79)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten, ob das Altersruhegeld des Klägers nach einer höheren allgemeinen Bemessungsgrundlage zu berechnen ist.

Der am 25. Juni 1915 geborene Kläger begehrte mit dem am 12. Juni 1978 bei der Beklagten eingegangenen Antrag vom 6. Juni 1978 Altersruhegeld wegen Vollendung des 63. Lebensjahres nach § 25 Abs 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Im Antrag gab er an, er werde die Beschäftigung gegen Entgelt am 31. August 1978 aufgeben; die Frage 4.5, ob das Altersruhegeld zu einem späteren Zeitpunkt als mit Ablauf des Monats beginnen solle, in dem das für die beantragte Leistung erforderliche Lebensjahr vollendet werde, beantwortete er mit "ja, am 31.8.1978". Im Bescheid vom 15. August 1978 stellte die Beklagte fest, daß der Versicherungsfall am 31. August 1978 eingetreten sei und die Rente am 1. September 1978 beginne; der Berechnung legte sie die gemäß Art 2 § 11 Abs 4 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) idF des Art 2 § 5 Nr 2 des 21. Rentenanpassungsgesetzes (RAG) vom 25. Juli 1978 (BGBl I 1089) ab 1. Juli 1978 (bis zum 31. Dezember 1979) von 21.608,-- DM auf 21.068,-- DM abgesenkte allgemeine Bemessungsgrundlage zugrunde. Der Kläger verlangt die höhere allgemeine Bemessungsgrundlage von 21.608,-- DM, wie sie bis zum 21. RAG aufgrund von §§ 32 Abs 2, 33 Abs 1 Buchst a AVG iVm § 2 der Rentenversicherungs-Bezugsgrößenverordnung für 1978 (RV-BezugsgrößenVO 1978) vom 16. Dezember 1977 (BGBl I 2581) für die im Jahre 1978 in der Angestelltenversicherung eintretenden Versicherungsfälle festgelegt war.

Widerspruch, Klage und Berufung blieben erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) meint, die Beklagte habe bei einem Eintritt des Versicherungsfalles am 31. August 1978 zu Recht die niedere allgemeine Bemessungsgrundlage angesetzt. Das Inkrafttreten von Art 2 § 5 Nr 2 des 21. RAG rückwirkend zum 1. Juli 1978 verstoße nicht gegen verfassungsrechtliche Normen. Gehe man davon aus, das rückwirkende Inkrafttreten habe den Kläger belastet, weil er den Rentenantrag vor der Beschlußfassung des Bundestages über das 21. RAG abgesandt und nach der Bekanntgabe des Beschlusses sein Beschäftigungsverhältnis nicht mehr vor dem 1. Juli 1978 habe beenden können, so seien die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes gleichwohl nicht verletzt. Der Gesetzgeber habe mit dem 21. RAG die finanziellen Grundlagen der Rentenversicherung im Gesamtinteresse der Allgemeinheit konsolidieren müssen; diesem Interesse sei gegenüber dem Einzelinteresse des Rentenantragstellers der Vorrang einzuräumen. Auch gegen Art 3 und 14 des Grundgesetzes (GG) verstoße die Herabsetzung der allgemeinen Bemessungsgrundlage nicht; das habe das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt der Kläger, die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihrer Bescheide zu verurteilen, ihm ab 1. September 1978 ein höheres Altersruhegeld unter Zugrundelegung einer allgemeinen Bemessungsgrundlage von 21.608,-- DM zu gewähren, hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Er rügt eine Verletzung von Art 2 § 11 Abs 4 AnVNG idF des 21. RAG und der Art 3, 14 und 20 GG. Nach § 33 Abs 1 Buchst a AVG bestimme die Bundesregierung die allgemeine Bemessungsgrundlage jeweils für das gesamte Kalenderjahr; hierauf habe er vertrauen dürfen. In die Rechtsposition, wie sie seinem vor der Beschlußfassung des Bundestages über das 21. RAG zur Post gegebenen Rentenantrag zugrundeliege, könne aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes nicht eingegriffen werden. Auch hätten übergeordnete Gründe einer Rentenkonsolidierung nicht vorgelegen; in jedem Falle hätte der Gesetzgeber aber die Lasten gleichmäßig verteilen müssen und von den Neurentnern des zweiten Halbjahres 1978 kein spezielles Sonderopfer verlangen dürfen. Die Eigentumsgarantie verbiete es, bereits erworbene Rentenanwartschaftsrechte zu schmälern.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers kann keinen Erfolg haben; ein höheres - vorzeitiges - Altersruhegeld steht ihm nicht zu.

Der zugrunde liegende Versicherungsfall des Alters unter den qualifizierten Voraussetzungen, wie sie für das sog "flexible Altersruhegeld ab der Vollendung des 63. Lebensjahres in § 25 Abs 1 und 4 Satz 1 AVG (= § 1248 Abs 1 und 4 der Reichsversicherungsordnung) vorgesehen sind, ist am 31. August 1978 eingetreten. Zu diesem Zeitpunkt hat der Kläger, der am 25. Juni 1978 63 Jahre alt geworden ist, die von ihm ausgeübte Beschäftigung gegen Entgelt aufgegeben; seine dahingehende Absicht hatte er im Rentenantrag vom 6. Juni 1978 bereits angekündigt und seinen Willen dokumentiert, den Versicherungsfall bis dahin zu verschieben.

Beim Eintritt des Versicherungsfalles galt bereits der Abs 4 von Art 2 § 11 AnVNG, der durch das 21. RAG vom 25. Juli 1978 mit Wirkung vom 1. Juli 1978 angefügt worden ist (Art 2 § 5 Nr 2, Art 4 § 3 des 21. RAG). Danach ist abweichend von § 32 Abs 2 AVG für die Berechnung der Rente die allgemeine Bemessungsgrundlage vom 1. Juli 1978 an (bis zum 31. Dezember 1979) auf 21.068,-- DM festgesetzt worden anstelle einer allgemeinen Bemessungsgrundlage von 21.608,-- DM, wie sie für die Versicherungsfälle des - gesamten - Jahres 1978 in den Rentenversicherungen der Arbeiter und der Angestellten in § 2 RV-BezugsgrößenVO 1978 vorgesehen gewesen war. Entsprechend der neuen Regelung hat die Beklagte bei der Berechnung des Altersruhegeldes des Klägers die allgemeine Bemessungsgrundlage nur mit 21.068,-- DM angesetzt. Dieses Verfahren ist im Einklang mit dem zur Zeit der Berechnung geltenden Recht erfolgt und darum nicht zu beanstanden (so auch der 1. Senat in BSGE 53, 86, 88 = SozR 5121 Art 1 § 4 Nr 1).

Die verfassungsrechtlichen Bedenken des Klägers greifen nicht durch. Was den aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art 20 Abs 3 GG) folgenden Grundsatz des Vertrauensschutzes angeht, den der Kläger in mehrfacher Hinsicht für verletzt hält, kommt ihm aufgrund der neuen Rechtsprechung des BVerfG eine Bedeutung weder in der angenommenen Weise noch in dem Umfang zu. Denn das BVerfG hat, worauf der 1. Senat des BSG aaO bereits im einzelnen hingewiesen hat, inzwischen mehrfach ausgesprochen, der rechtsstaatliche Grundsatz des Vertrauensschutzes habe für vermögenswerte Güter - zu denen das Verfassungsgericht im Grundsatz auch Rentenanwartschaften zählt - im Eigentumsgrundrecht eine eigene Ausprägung und verfassungsrechtliche Ordnung erfahren (vgl BVerfGE 45, 142, 168; 53, 257, 309; 58, 81; Beschluß vom 10. Mai 1983 - 1 BvR 820/79); die Eigentumsgarantie erfülle daher für die durch sie geschützten rentenversicherungsrechtlichen Positionen die Funktion des Vertrauensschutzes gegenüber Eingriffsakten (BVerfGE 53 aaO = SozR 7610 § 1587 Nr 1; SozR 2200 § 1255a Nr 7). Daher ist vorliegend anhand des Art 14 Abs 1 Satz 1 GG zu prüfen und nicht nach den Maßstäben, die das BVerfG für jene Fälle entwickelt hat, in denen eine Norm auf gegenwärtig noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft einwirkt und damit die Rechtsposition nachträglich entwertet (sog unechte Rückwirkung, vgl BVerfGE 51, 356, 362), ob Art 2 § 5 Nr 2 des 21. RAG = Art 2 § 11 Abs 4 AnVNG mit dem GG vereinbar ist.

Dies ist, wie der 1. Senat aaO schon festgestellt hat, zu bejahen. Selbst wenn vorliegend ohne jeden Zweifel davon ausgegangen werden könnte, daß der Kläger vor dem 1. Juli 1978, dem Tage des Inkrafttretens von Art 2 § 5 Nr 2 des 21. RAG, bereits eine Anwartschaft auf vorzeitiges Altersruhegeld mit der Aussicht auf dessen Berechnung auf der Grundlage von 21.608,-- DM für die allgemeine Bemessung erworben habe, so daß die Herabsetzung der allgemeinen Bemessungsgrundlage zu einem Eingriff in seine Rentenanwartschaft führt, würde der Eingriff die Eigentumsgarantie nicht verletzen. Die Gesetzesänderung ab 1. Juli 1978 durfte sich vollziehen, weil für sie Gründe maßgebend waren, die einen konkreten Eingriff in eine dem Eigentumsschutz unterfallende rentenversicherungsrechtliche Position legitimieren. Die legitimierenden Gründe hierfür lagen insbesondere darin, daß die Regelung, den Anpassungssatz schon für die zweite Hälfte des Jahres 1978 und dann noch für ein weiteres Jahr auf 4,5 vH sowie anschließend auf 4 vH herabzusetzen, dazu dienen sollte, die Funktions- und Leistungsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung im Interesse aller zu erhalten, zu verbessern und den veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen (s hierzu BVerfGE 53, 257, 293); das ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift und des 21. RAG insgesamt, auf die der 1. Senat des BSG aaO des näheren eingegangen ist. Die Bestimmungen, die die Anpassungssätze ab 1. Juli 1978 festgeschrieben und den Anpassungszeitpunkt hinausgeschoben haben, waren, so das BVerfG im Beschluß vom 10. Mai 1983 - 1 BvR 820/79 -, mit Abstand die wichtigsten Normen des 21. RAG. Ohne diese Regelungen würde nach dem BVerfG aaO das Ziel des Gesetzes, die 1981 mit 21 Milliarden DM, für 1982 mit 32 Milliarden DM geschätzten Finanzlücken in der gesetzlichen Rentenversicherung auszugleichen, nicht annähernd erreicht worden sein. Unter solchen Umständen entsprach es dem öffentlichen Interesse in hohem Maße, den Ausgleich zwischen Ausgaben und Einnahmen in der Rentenversicherung sicherzustellen; das Interesse des einzelnen Renten- bzw Anwartschaftsberechtigten hat ihm gegenüber zurückzutreten. Art 2 § 5 Nr 2 des 21. RAG hält sich hiernach im Rahmen der Befugnis des Gesetzgebers, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen (Art 14 Abs 2 Satz 2 GG). Der dadurch bewirkte Eingriff in eine bestehende Rentenanwartschaft ist nicht unverhältnismäßig, denn gegenüber der allgemeinen Bemessungsgrundlage des Jahres 1977 ist die Bemessungsgrundlage ab 1. Juli 1978 immer noch um 4,5 vH höher, gegenüber derjenigen des ersten Halbjahres 1978 dagegen nur um 2,5 vH geringer.

Soweit der Kläger eine angemessene Übergangsregelung für Personen vermißt, die vor dem 1. Juli 1978 den Rentenantrag schon gestellt oder - wie er selbst - vor dem Beschluß des Bundestages zur Post gegeben hatten und darin eine spezielle Verletzung des Vertrauens erblickt, vermag er unter keinem verfassungsrechtlichen Aspekt durchzudringen. Für eine Übergangsnorm, die Antragstellern Sonderrechte einräumt, besteht deswegen kein Bedürfnis, weil dem Antrag im Rahmen des § 25 AVG eine materiell-rechtliche Bedeutung nicht zukommt und er darum schon einen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand nicht auszulösen vermag. Wesentlich nach dem Gesetz ist der Eintritt des Versicherungsfalles; der jeweilige Zeitpunkt hierfür ist indes mit einer - generalisierenden - Übergangsregelung nicht zu erfassen. Was eine Ungleichbehandlung infolge des Stichtages angeht, aufgrund dessen die Neurentner des Jahres 1978 mit Versicherungsfall ab dem 1. Juli 1978 im Vergleich zu denjenigen mit Versicherungsfall bis zum 30. Juni 1978 niedere Bemessungswerte angerechnet bekamen, ist sie hinzunehmen; die Einführung eines Stichtages war hier erforderlich und die Wahl des Zeitpunktes am gegebenen Sachverhalt orientiert und damit sachlich vertretbar (BVerfG EuGRZ 1981, 532, 538; BSGE 53, 86, 92). Im übrigen war die Besserstellung der Neurentner des ersten Halbjahres nur vorübergehender Art, denn ab 1981 wird ihr Rentenvorsprung stufenweise abgeschmolzen (s auch hierzu BSGE 53, 86, 93).

Nach alledem war die Revision mit der Kostenfolge aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660775

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