Entscheidungsstichwort (Thema)

Abgrenzung zwischen Arbeitern und Angestellten

 

Leitsatz (redaktionell)

Zur Abgrenzung zwischen Arbeitern und Angestellten:

1. Bei einem Versicherten, der gleichzeitig verschiedenartige Tätigkeiten ausübt, wie teils kaufmännische teils gewerbliche Leistungen, ist für die Beurteilung der Gesamttätigkeit grundsätzlich die Tätigkeit entscheidend, die wegen ihrer qualitativen Bedeutung der Gesamttätigkeit das Gepräge gibt.

2. Hat sich eine bundeseinheitliche Verkehrsanschauung über die Zuordnung eines Arbeitnehmers zu den Arbeitern oder zu den Angestellten noch nicht bildet, so richtet sich die Versicherungszugehörigkeit danach, ob eine überwiegend körperliche oder eine überwiegend geistige Beschäftigung ausgeübt wird.

 

Orientierungssatz

Zur Frage der Versicherungszugehörigkeit eines Eintrittskartenverkäufers (hier: beim Berliner zoologischen Garten).

 

Normenkette

RVO § 1227 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 2 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 165b Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1945-03-17

 

Tenor

Auf die Revision der beigeladenen Landesversicherungsanstalt wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 14. April 1965 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Kläger ist seit dem 1. April 1924 bei dem beigeladenen Aktienverein des Zoologischen Gartens zu Berlin (Aktienverein) beschäftigt. In den ersten Jahren war er als Kontrolleur eingesetzt und während dieser Zeit invalidenversicherungspflichtig. Am 1. Januar 1935 wurde er als "Kassierer" in das Angestelltenverhältnis übernommen Zu Beginn seiner Beschäftigung wurde ihm mit dieser Berufsbezeichnung am 22. Dezember 1934 eine Versicherungskarte Nr. 1 der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte ausgestellt. Seitdem entrichtet sein Arbeitgeber Beiträge zur Angestelltenversicherung (AV). Nach dem Kriege arbeitete der Kläger vorübergehend im Kontroll- und Wächterdienst und vom 1. April 1949 an wieder als "Kassierer". Als in Berlin zum 1. September 1952 die bis dahin einheitliche Rentenversicherung in die beiden Versicherungszweige getrennt wurde, führte der Arbeitgeber die Beiträge für ihn und alle anderen im Kassendienst eingesetzten Beschäftigten zur AV ab. Nachdem am 21. Juni 1961 bei dem Aktienverein eine Betriebsprüfung stattgefunden hatte, erklärte die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) durch Bescheid vom 29. Januar 1962, der Kläger unterliege als Kartenverkäufer der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung der Arbeiter.

Der Widerspruch blieb erfolglos. Daraufhin erhob der Kläger Klage vor dem Sozialgericht (SG) Berlin. Sie wurde durch Urteil vom 20. März 1963 abgewiesen.

Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin durch Urteil vom 14. April 1965 festgestellt, der Kläger sei während seiner Tätigkeit als "Kassierer" bei dem Aktienverein auch über den 31. Dezember 1956 hinaus in der AV pflichtversichert. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt: In erster Linie sei die Verkehrsanschauung zu ermitteln. Lasse sich diese feststellen, so sei sie allein dafür entscheidend, ob der Arbeitnehmer Angestellter oder Arbeiter sei. Erst dann; wenn diese Verkehrsanschauung nicht bestehe, sei die Gesamttätigkeit im einzelnen zu überprüfen und festzustellen, ob die geistige gegenüber der körperlich-mechanischen Leistung überwiege. Für die Verkehrsanschauung habe das Berufsgruppenverzeichnis der AV vom 28. März 1924 idF der Verordnung vom 4. Februar 1924 und 15. Juli 1927 (RGBl 1924 I 274 und 410; 1927 I 58, 222) eine besondere Bedeutung. Der Übergang zwischen den einzelnen Versicherungsarten sei fließend. Eine wirklichkeitsnahe Abgrenzung ließe sich nur finden, wenn zuerst einmal festgestellt werde, welche Anschauung die beteiligten Berufskreise von der zu beurteilenden Tätigkeit des Kassierers hätten. Die Verkehrsanschauung schlage sich in den tariflichen Regelungen nieder, daneben im Berufsgruppenverzeichnis. Für die Kassierer beim Aktienverein seien die tariflichen Regelungen seit Jahrzehnten eindeutig. Sie seien schon bevor der Kläger mit seiner Beschäftigung am 1. Januar 1935 begonnen habe, tariflich als Angestellte eingestuft worden. Nach dem Kriege sei diese Auffassung in der jetzt gültigen Lohntarifvereinbarung vom 9. Oktober 1950 aufrechterhalten. Demnach würden die Kassierer mit den Merkmalen der Tätigkeit, die der Kläger seit dem 1. Januar 1935 ausübe, von den beteiligten Berufskreisen schon mehrere Jahrzehnte für Angestellte und nicht für Arbeiter gehalten.

Gegen dieses Urteil hat die beigeladene Landesversicherungsanstalt (LVA) Berlin Revision eingelegt mit dem Anträge,

das Urteil des LSG Berlin vom 14. April 1965 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Berlin vom 20. März 1963 zurückzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Berlin zurückzuverweisen.

Sie rügt Verletzung des § 1227 der Reichsversicherungsordnung, der §§ 2 und 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) sowie des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG): Das LSG sei unter Außerachtlassung der tatsächlichen Tätigkeitsmerkmale bei der Beurteilung der Versicherungszugehörigkeit zu Unrecht ausschließlich davon ausgegangen, daß der Kläger seit Jahrzehnten tariflich als Angestellter eingestuft worden sei, so daß nur diese Tatsache als Verkehrsanschauung zu werten und für die Versicherungszugehörigkeit maßgebend sei; denn daraus, ob ein Arbeitnehmer tarifrechtlich als Angestellter bezahlt werde, könne nicht auf die Versicherungszugehörigkeit geschlossen werden. Maßgebend sei vielmehr, ob die betreffenden Arbeitnehmer unter die Vorschrift der §§ 2 und 3 AVG fielen. Dafür sei entscheidend, ob sie überwiegend geistige oder körperliche Beschäftigungen ausübten. Die dafür maßgebenden Tätigkeitsmerkmale habe das LSG aber nicht aufgeklärt. Dadurch habe es gegen den § 103 SGG verstoßen.

Der Kläger beantragt,

die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Auch er ist der Meinung, daß durch Tarifvertrag keine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Zweig der Rentenversicherung vereinbart werden könne, es komme auf das Gesamtgepräge an.

Die beigeladene Bundesversicherungsanstalt für Angestellte schließt sich der Auffassung der beigeladenen LVA an. Sie hat jedoch keine Anträge gestellt. Der ebenfalls beigeladene Aktienverein war im Verfahren nicht vertreten, ebenso nicht die beklagte AOK.

II

Die Revision der beigeladenen LVA ist begründet.

Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, der Angestelltenbegriff sei durch Auslegung unter Berücksichtigung der jeweils herrschenden Verkehrsauffassung zu bestimmen. Nach dieser Verkehrsanschauung hänge die Zugehörigkeit zu der Rentenversicherung der Arbeiter oder der Angestellten davon ab, ob der Betreffende überwiegend geistige Beschäftigung verrichte oder als Handarbeiter vorwiegend körperlich tätig sei (vgl. BSG 10, 82, 83 mit weiteren Nachweisen; 16, 98, 105; SozR AVG § 3 Nrn. 5, 7). Von diesen Grundsätzen ist auch im vorliegenden Fall auszugehen, allerdings mit der vom Senat in seinem Urteil vom 25. April 1962 - 3 RK 12/65 (SozR AVG § 307) zum Ausdruck gebrachten Verdeutlichung, daß in erster Linie die Verkehrsauffassung über die Zugehörigkeit des Arbeitnehmers zur Angestelltengruppe entscheide, in Ermangelung einer festen Verkehrsanschauung aber maßgebend bleibe, ob der Arbeitnehmer eine überwiegend geistige Beschäftigung verrichte oder ob er vorwiegend körperlich tätig sei.

Zu Unrecht hat das LSG eine feste Verkehrsauffassung für Arbeitnehmer, die eine Tätigkeit wie der Kläger verrichten - soweit sie vom LSG festgestellt worden ist -, schon daraus entnommen, daß diese bereits seit Jahrzehnten tarifrechtlich als Angestellte behandelt und demgemäß als angestelltenversicherungspflichtig angesehen werden. Die vom LSG als Beweis für die Überzeugung der Tarifpartner, daß die Tätigkeit des Klägers angestelltenversicherungspflichtig sei, angeführte Lohntarifvereinbarung vom 9. Oktober 1950 reicht einmal deswegen nicht aus, weil es nicht darauf ankommt, wie der Kläger tarifvertraglich von seinem Arbeitgeber behandelt wird (BSG SozR AVG § 3 Nr. 10 Bl. Aa 10 R); zum anderen ist die Einreihung des Klägers als Gehaltsempfängers kein stichhaltige Grund, ihn als Angestellten anzusehen. Bereits das Reichsarbeitsgericht hat betont, daß für die Angestellteneigenschaft eines Arbeitnehmers nicht seine Behandlung, Entlohnung oder Bezeichnung entscheidend sei, sondern die Art sei Tätigkeit (ARS Bd. 7, 108, 111). Diese Auffassung wird vom Bundesarbeitsgericht geteilt (BAG 5, 98, 102). Auch Arbeitnehmern, die ohne Zweifel nicht unter den Begriff der Angestellten fallen, wie z. B. Hausgehilfinnen, Boten, Heizer usw., werden Monatsgehälter gezahlt (vgl. LAG Frankfurt a. F. A. P. Nr. 2 zu § 622 BGB), aber auch vielfach gewerblichen Arbeitnehmern, die wegen ihrer Betriebstreue kraft Betriebsvereinbarung die Arbeitsbedingungen eines Angestellten erhalten.

Der bundesrechtliche Angestelltenbegriff kann nur durch eine feste Verkehrsanschauung auf Bundesebene konkretisiert werden (BSG SozR AVG § 3 Nr. 12). Die genannte regionale arbeitsrechtliche Regelung ist jedoch noch kein Beleg dafür, daß sich eine gefestigte Verkehrsanschauung auf Bundesebene über die versicherungsrechtliche Angestellteneigenschaft solcher Kartenverkäufer gebildet hat. Sie stellt lediglich ein Indiz für die hier zur Entscheidung stehende Frage dar; sie entbindet aber das LSG nicht von der letztlich ausschlaggebenden Prüfung, ob der Kläger vorwiegend körperlich tätig ist (vgl. BSG 21, 176, 178). Dabei wird allerdings nicht nur auf das Ausmaß rein manueller Betätigung abzustellen sein, sondern darauf, ob die Tätigkeit einfacher, gleichbleibender und ständig wiederkehrender Art ist, bei der der Denkprozeß nur eine untergeordnete Rolle spielt und auch nicht eine Angestelltentätigkeit "kraft Überlieferung" vorliegt wie z. B. bei einer Stenotypistin.

Wie die beigeladene LVA zu Recht gerügt hat, fehlt es mangels diesbezüglicher Sachaufklärung an den entsprechenden Feststellungen in dem Urteil des LSG. Nach den bisherigen Feststellungen des LSG steht fest, daß der Kläger gleichzeitig verschiedenartige Tätigkeiten ausübt, die teilweise kaufmännische Dienste, teils gewerbliche Leistungen sind. Entscheidend für die Beurteilung der Gesamttätigkeit ist aber grundsätzlich die Tätigkeit, die wegen ihrer qualitativen Bedeutung der Gesamttätigkeit das Gepräge gibt (BSG SozR AVG § 3 Nr. 7 im Anschluß an RVA GE 4174; AN 1931, 372; vgl. auch BSG 10, 82, 83). Da der Senat diese Feststellung nicht selber treffen kann, war das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses zurückzuverweisen. Es wird u. a. zu prüfen haben, ob der Kläger tatsächlich Kassierer im Sinne des Berufsgruppenverzeichnisses vom 8. März 1924 (RGBl I 274 B Nr. 3) ist - also bei seiner Tätigkeit schriftliche Arbeiten in größerem Umfang zu verrichten hat - oder lediglich Kartenverkäufer.

Dem LSG bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens überlassen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324519

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