Leitsatz (amtlich)

RVO § 183 Abs 3 S 2 und 3 idF des ÄndG ArbKrankhG ist entsprechend anzuwenden, wenn während des Bezuges von Erwerbsunfähigkeitsrente oder Altersruhegeld Krankengeld gewährt wird (RVO § 183 Abs 4).

Diese Regelung gilt auch für Versicherungsfälle (Krankheit), die vor dem Inkrafttreten des ÄndG ArbKrankhG - 1961-08-01 - eingetreten, aber noch nicht abgeschlossen sind.

Die hierin liegende "unechte" Rückwirkung der Neuregelung verstößt nicht gegen das Grundgesetz (GG Art 14, 20).

 

Normenkette

RVO § 183 Abs. 4 Fassung: 1961-07-12, Abs. 3 S. 2 Fassung: 1961-07-12, S. 3 Fassung: 1961-07-12; GG Art. 20 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 14 Fassung: 1949-05-23; ArbKrankhGÄndG Art. 6 Abs. 3 Fassung: 1961-07-12

 

Tenor

Auf die Revision der beklagten Betriebskrankenkasse werden das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. September 1963 ganz und das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 18. Dezember 1962 insoweit aufgehoben, als der Klage stattgegeben ist.

Die Klage wird in vollem Umfang abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger war bei der beklagten Betriebskrankenkasse (BKK) als Beschäftigter pflichtversichert. Seit 5. Juni 1961 war er wegen Krankheit arbeitsunfähig und erhielt von der BKK Krankengeld bis 30. Dezember 1961.

Im August 1961 beantragte der Kläger bei der beigeladenen Landesversicherungsanstalt (LVA) Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU). Die LVA bewilligte ihm die Rente mit Bescheid vom 28. Dezember 1961 für die Zeit vom 1. Juni 1961 an. Die BKK machte gegenüber der LVA eine "Ersatzforderung nach § 183 Abs. 3 ... RVO aus dem Rentenanspruch" für die Zeit vom 1. August bis 30. Dezember 1961 geltend. Die LVA überwies daraufhin die Rentennachzahlung für diese Zeit in Höhe von 1.279,90 DM an die BKK. Der Kläger hat den Rentenbescheid nicht angefochten, aber von der BKK die Auszahlung der Rentennachzahlung verlangt. Die BKK hat dies mit Bescheid vom 5. Juni 1962 mit der Begründung abgelehnt, § 183 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei auch bei den vor dem 1. August 1961 eingetretenen Versicherungsfällen anzuwenden. Der Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 1962).

Das Sozialgericht (SG) Köln hat die BKK verurteilt, dem Kläger 1.056,56 DM - die Nachzahlung für die Zeit vom 1. August bis 4. Dezember 1961 - zu zahlen (Urteil vom 18. Dezember 1962). Es war der Auffassung, der alte Versicherungsfall des Klägers sei nach dem alten Recht abzuwickeln. Der Kläger habe danach Anspruch auf Krankengeld für 26 Wochen, das ist bis 4. Dezember 1961. Die BKK habe somit für die Zeit vom 1. August bis 4. Dezember 1961 keinen Ersatzanspruch gegen die LVA gehabt; sie habe nur für die Zeit vom 5. bis 30. Dezember 1961 das Krankengeld zu Unrecht gezahlt und habe dafür Ersatz von der LVA beanspruchen können. Die Berufung wurde zugelassen.

Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung der BKK mit Urteil vom 3. September 1963 zurückgewiesen. Es hat u. a. ausgeführt, das mit Eintritt des Versicherungsfalles entstehende und den Anspruch in seiner Gesamtheit umfassende Stammrecht werde von späteren Rechtsänderungen vorbehaltlich gegenteiliger gesetzlicher Regelung, nicht erfaßt. Zum Stammrecht gehöre die Bezugsdauer des Krankengeldes. Auf sie beziehe sich § 183 Abs. 3 und 4 RVO. Da im Gesetz vom 12. Juli 1961 nichts Gegenteiliges bestimmt sei, sei § 183 Abs. 3 und 4 RVO auf Ansprüche aus Versicherungsfällen vor dem 1. August 1961 nicht anzuwenden.

Die BKK hat Revision eingelegt und beantragt, das Urteil des LSG sowie das Urteil des SG im Umfang ihrer Verurteilung aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie führt zur Begründung u. a. aus, nach Art. 6 Abs. 3 des Gesetzes vom 12. Juli 1961 sei davon auszugehen, daß sich die Bezugsdauer grundsätzlich nach neuem Recht richte. Eine Einschränkung, daß die Übergangsvorschrift nur die Erweiterung der Bezugsdauer auf 78 Wochen umfasse, gehe aus dem Wortlaut nicht hervor. Es entspreche der Gleichbehandlung, wenn alte und neue Versicherungsfälle in gleicher Weise den neuen Vorschriften über Höhe und Dauer der Leistungen unterworfen würden.

Der Kläger hält die Revision im Hinblick auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) in der Entsch. Samml. Bd. 16, 177 und Bd. 20, 135 für unbegründet. Er beantragt, die Revision zurückzuweisen. Die beigeladene LVA meint ebenfalls, ein Ersatzanspruch der BKK auf die Rentennachzahlung ab 1. August 1961 bestehe nicht, und beruft sich gleichfalls auf BSG 20, 135.

Die Revision ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die beklagte BKK auf Zahlung eines Betrages in Höhe der von dieser empfangenen Rentennachzahlung. Die beklagte BKK hat die Rentennachzahlung zu Recht empfangen; denn der Rentenanspruch des Klägers ist für die Zeit vom 1. August 1961 an auf sie übergegangen. § 183 Abs. 4 i. V. m. Abs. 3 Satz 2 und 3 RVO idF des Leistungsverbesserungsgesetzes vom 12. Juli 1961 ist auch anzuwenden, wenn der Versicherungsfall vor dem Inkrafttreten des Leistungsverbesserungsgesetzes - dem 1. August 1961 - eingetreten und bis dahin noch nicht beendet ist.

Bei dieser Rechtslage kann offen bleiben, ob ein Versicherter überhaupt einen Anspruch gegen eine Krankenkasse, an die ein Rentenversicherungsträger aufgrund des von ihm angenommenen Forderungsübergangs (§ 183 Abs. 3 Satz 2 RVO) Rente gezahlt hat, auf Herausgabe des Empfangenen, etwa unter dem Gesichtspunkt der ungerechtfertigten Bereicherung, geltend machen kann oder ob ihm in einem solchen Falle nur ein Anspruch gegen den Rentenversicherungsträger auf Zahlung des ihm vorenthaltenen Rentenbetrages zusteht. Das LSG beruft sich zu Unrecht für seine Annahme, daß beide Ansprüche gegeben seien, auf BSG 2, 23. Dort ist nur entschieden, daß für den behaupteten Anspruch eines Versorgungsberechtigten gegen einen Landesfürsorgeverband, an den das Versorgungsamt eine Rentennachzahlung überwiesen hatte, jedenfalls nicht der Sozialrechtsweg gegeben sei.

§ 183 Abs. 4 RVO beschränkt den Krankengeldanspruch auf die Dauer von höchstens sechs Wochen, wenn Krankengeld während des Bezuges von EU-Rente gewährt wird. Er erfaßt somit den vorliegenden Sachverhalt; denn der Kläger "bezieht" im Sinne dieser Vorschrift (vgl. BSG 19, 28, 32) EU-Rente seit 1. Juni 1961, während das Krankengeld erst ab 5. Juni 1961 gewährt wurde. § 183 Abs. 3 RVO, der den Anspruch auf Krankengeld in den Fällen abgrenzt, in denen Krankengeld zu einem vor dem Bezug der EU-Rente liegenden Zeitpunkt beginnt, regelt in Satz 2 und 3 den Ausgleich von zuviel gezahltem Krankengeld durch Forderungsübergang. § 183 Abs. 4 RVO enthält keine entsprechende ausdrückliche Vorschrift. Doch ist auch in diesen Fällen § 183 Abs. 3 Satz 2 und 3 RVO anzuwenden; denn § 183 Abs. 3 und 4 RVO stehen in engem sachlichen Zusammenhang. § 183 Abs. 4 RVO ergänzt § 183 Abs. 3 RVO (vgl. BSG 19, 28, 32). Die Krankenkasse ist mit den sich aus § 183 Abs. 2 RVO ergebenden Beschränkungen bis zum Erlaß des Rentenbescheides zu laufender Auszahlung des Krankengeldes (§ 210 RVO) verpflichtet. Erst die nachträgliche Entscheidung über den Rentenantrag mit Bewilligung der EU-Rente von einem vor dem Einsetzen des Krankengeldes liegenden Zeitpunkt an klärt, daß der Fall des § 183 Abs. 4 RVO vorliegt und Anspruch auf Krankengeld nur für höchstens sechs Wochen besteht. Da der Zweck des Leistungsverbesserungsgesetzes, Doppelleistungen zu verhindern, und die Interessenlage der Krankenkasse bei § 183 Abs. 3 und 4 RVO die gleichen sind, muß der in § 183 Abs. 3 RVO ausdrücklich geregelte Forderungsübergang auch in den Fällen des § 183 Abs. 4 RVO Platz greifen.

Dies gilt auch für Versicherungsfälle, die vor dem 1. August 1961 eingetreten sind, wenn die den Versicherungsfall begründende behandlungsbedürftige Krankheit über den 1. August 1961 hinaus besteht.

Der Senat hat bereits in seiner Entscheidung vom 13. Februar 1962 (BSG 16, 177, 181) aus den Übergangsvorschriften des Art. 6 des Leistungsverbesserungsgesetzes den Schluß gezogen, daß der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, daß vom Inkrafttreten des Gesetzes an die "materiellen" Neuregelungen, nämlich die Vorschriften über Höhe und Dauer der Leistungen, gelten sollen und die laufenden Fälle "formell", das sind besonders die Modalitäten der Zahlung, nach altem Recht abzuwickeln sind. Zu den materiellen Neuregelungen gehört § 183 Abs. 3 und 4 RVO idF des Leistungsverbesserungsgesetzes.

Die Übergangsvorschriften des Art. 6 des Leistungsverbesserungsgesetzes können nur einheitlich verstanden werden, wenn es sich um die Bedeutung des Eintritts des Versicherungsfalles für die Leistungen der Krankenkasse nach altem oder neuem Recht handelt. Der Eintritt des Versicherungsfalles hat eine Reihe unterschiedlicher Leistungen der Krankenkasse zur Folge. Sie werden z. T. nebeneinander gewährt, z. T. lösen sie sich je nach dem Stand der behandlungsbedürftigen Krankheit ab. Wird nun im Zuge einer Neuordnung das Leistungsrecht wesentlich umgestellt und dabei die Rechtsstellung des Versicherten z. T. verbessert, z. T. verschlechtert, so wird in der Regel davon ausgegangen werden können, daß das neue Recht in seiner Gesamtheit Anwendung auf alte Versicherungsfälle findet, wenn der Wille des Gesetzes, wie im vorliegenden Fall, wenigstens mittelbar erkennbar ist, daß neues Recht überhaupt die alten Versicherungsfälle erfassen soll.

Hiernach können nicht einzelne Regelungen aus ihrem Zusammenhang gelöst und für sich allein auf alte Versicherungsfälle bezogen werden. Es müssen vielmehr die gesamten Leistungen, die der Eintritt des Versicherungsfalls auslösen kann, zusammen gewürdigt werden; denn sie sind aufeinander abgestimmt und ergänzen sich gegenseitig. Für sich allein gesehen ergibt § 183 Abs. 3 und 4 RVO zwar eine gewisse Verschlechterung der Rechte des Versicherten gegenüber dem bisherigen Recht; denn nach §§ 182, 183 RVO aF i. V. m. dem Erlaß über Verbesserungen in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 2. November 1943 (AN 1943, 485) und nach Wegfall des § 1286 Abs. 2 RVO aF konnte Krankengeld und Rente nebeneinander bezogen werden. Insgesamt sind jedoch die Leistungen der Krankenkasse durch das Leistungsverbesserungsgesetz wesentlich verbessert worden (§§ 182, 183 Abs. 2 RVO), besonders durch die Verlängerung der Bezugsdauer des Krankengeldes auf 78 Wochen innerhalb von je drei Jahren und den Wegfall der Aussteuerung. Zum teilweisen Ausgleich dafür sieht das Gesetz nunmehr vor, daß die gleiche Zweckbestimmung von Leistungen aus verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung (EU-Rente und Altersruhegeld einerseits, Krankengeld andererseits) in dem Sinn berücksichtigt wird, daß die Ansprüche nach § 183 Abs. 3 bis 6 RVO zeitlich begrenzt oder gekürzt werden.

Die Revision beruft sich in diesem Zusammenhang zu Unrecht auf § 211 RVO, der den Krankenkassen verbietet, für bereits eingetretene Versicherungsfälle durch Satzungsänderung die Leistungen herabzusetzen. Abgesehen davon, daß bei einer umfassenden Neuregelung nur eine Gesamtwürdigung darüber Aufschluß gibt, ob die "Leistungen" herabgesetzt sind, gilt diese Vorschrift nicht für den Gesetzgeber.

Die Regelung, daß § 183 Abs. 3 und 4 RVO auch für Versicherungsfälle gilt, die vor dem 1. August 1961 eingetreten sind, aber über diesen Zeitpunkt hinaus noch andauern, verstößt nicht gegen verfassungsrechtliche Grundsätze über die Rückwirkung von Gesetzen.

Zum Unterschied von der echten (retroaktiven) Rückwirkung eines Gesetzes, bei der das Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift, handelt es sich hier um einen Fall der unechten (retrospektiven) Rückwirkung, bei der das Gesetz nur von seinem Inkrafttreten an auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen - hier den eingetretenen, aber noch nicht abgewickelten Versicherungsfall - für die Zukunft einwirkt (vgl. zur Terminologie BVerfG 11, 139, 145 f.). Auch einer solchen Rückwirkung sind jedoch verfassungsmäßige Grenzen gesetzt. Sie ergeben sich aus dem Gebot der Rechtssicherheit und des daraus folgenden Vertrauensschutzes (BVerfG 13, 274, 278, 279, 283; 14, 288, 297; 18, 135, 143; BVerfG in NJW 1965, 1267). Indessen kommt ein Vertrauensschutz jedenfalls dort nicht in Frage, wo das Vertrauen sachlich nicht gerechtfertigt ist. Der Staatsbürger kann sich auf Vertrauensschutz als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips nicht berufen, wenn sein Vertrauen auf den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung eine Rücksichtnahme durch den Gesetzgeber billigerweise nicht beanspruchen kann. Hierfür ist einerseits das Ausmaß des Vertrauensschadens, andererseits die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit maßgeblich. Sie sind gegeneinander abzuwägen (so insbesondere BVerfG 14, 288, 300 und 18, 135, 144).

Nach diesen Grundsätzen beurteilt, erweist sich die Erstreckung des § 183 Abs. 3 und 4 RVO nF auf die am 1. August 1961 noch schwebenden Versicherungsfälle als verfassungsgemäß. Von einem Vertrauensschaden in dem Sinn, daß der Staatsbürger im Hinblick auf die bisherige Rechtslage zu Dispositionen verleitet wurde, die sich nach der Rechtsänderung als verfehlt herausstellen, kann in diesem Zusammenhang keine Rede sein. § 183 Abs. 3 und 4 RVO regelt das Zusammentreffen des Anspruchs auf Krankengeld mit dem auf EU-Rente oder Altersruhegeld. Diese Anspruchskonkurrenz tritt im Versichertendasein relativ selten auf und entzieht sich jedenfalls im allgemeinen einer vorausschauenden Planung. Sie ist das Ergebnis von Entscheidungen des Versicherten (Aufnahme versicherungspflichtiger Tätigkeit, Ausübung der Versicherungsberechtigung), die in der Regel weit vor ihrem Eintritt und unbeeinflußt von dieser Möglichkeit getroffen worden sind und Versicherungsverhältnisse begründet haben.

Hinzu kommt, daß der uneingeschränkte gleichzeitige Bezug von EU-Rente (Altersruhegeld) und Krankengeld, also zweier Leistungen mit Lohnersatzfunktion, in den letzten Jahrzehnten nur während der Jahre 1957 bis 1961 möglich war. Die Vierte Notverordnung (NotVO) des Reichspräsidenten vom 8. Dezember 1931 (5. Teil, Kapitel IV § 10 Abs. 1 - RGBl I 699, 723 -) hatte bestimmt, daß u. a. Invalidenrente neben Krankengeld unter bestimmten Voraussetzungen ruhen. § 1286 Abs. 2 RVO aF hat diesen Grundsatz abgewandelt, aber nicht aufgehoben (vgl. zur Vorgeschichte dieser Vorschrift BSG 1, 34, 35). Erst das Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG), das § 1286 Abs. 2 RVO aF ersatzlos wegfallen ließ, ermöglichte den uneingeschränkten gleichzeitigen Bezug von Renten und Krankengeld, bis § 183 Abs. 3 bis 6 RVO idF des Leistungsverbesserungsgesetzes vom 12. Juli 1961 das Zusammentreffen von Ansprüchen auf Leistungen aus den Rentenversicherungen und Krankengeld neu regelte. Diese Vorgeschichte des § 183 RVO nF mit den verschiedenen Lösungen zur Frage der Anspruchskonkurrenz zeigt mit hinreichender Deutlichkeit, daß die in der verhältnismäßig kurzen Phase von 1957 bis 1961 gültige Regelung nicht Ausdruck eines unumstrittenen tragenden Grundprinzips der Sozialversicherung war, sondern vielmehr fragwürdig und unsicher blieb und keinesfalls ein Vertrauen des Versicherten darauf rechtfertigen konnte, daß sie ein fester Bestandteil der deutschen Sozialversicherung geworden war.

Vor allem aber muß bei der Beurteilung der verfassungsmäßigen Schranken der unechten Rückwirkung von Gesetzen die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit berücksichtigt werden. Wie bereits dargelegt, enthält das Leistungsverbesserungsgesetz eine umfassende neue Regelung des Leistungsrechts. Im Zuge einer neuen Ordnung muß § 183 Abs. 3 und 4 RVO nF als ein Bestandteil der Regelung des Krankengeldkomplexes verstanden werden, die insgesamt gesehen die Rechtsstellung der Versicherten sehr verbessert und den Trägern der Krankenversicherung neue Lasten aufgebürdet hat, die nur z. T. durch Entlastungen in Gestalt des § 183 Abs. 3 und 4 RVO ausgeglichen sind. In einem solchen Zusammenhang wird besonders deutlich, daß bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes nicht einzelne Regelungen losgelöst von ihrem Zusammenhang für sich betrachtet werden dürfen und daß innerhalb des komplizierten Sozialversicherungsrechts einzelne versicherungsrechtliche Positionen im Hinblick auf ihre verwandte Zweckbestimmung angleichbar und austauschbar sind und sein müssen (vgl. BVerfG 11, 221, 227).

Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß die Leistungen der Sozialversicherung nicht nur auf den Beiträgen der Versicherten und Arbeitgeber beruhen. Die Sozialleistungen werden z. T erst durch die Zuschüsse des Bundes (§ 1382 RVO) und die Solidarität aller in der Krankenversicherung Versicherten ermöglicht, deren Beiträge nicht nach individuellem Risiko (Familie, bestehende Leiden), sondern nach dem Arbeitsentgelt oder Einkommen bemessen sind.

Aus diesen Erwägungen steht auch fest, daß die genannte Regelung weder Art. 14 GG noch Art. 20 Abs. 1 GG verletzt. Weder aus der Eigentumsgarantie noch aus dem an den Gesetzgeber gerichteten Gebot sozialstaatlichen Handelns kann eine Verpflichtung zur allgemeinen Besitzstandswahrung sozialer Rechte abgeleitet werden (vgl. dazu BSG 15, 71, 74 ff). Erst recht scheidet eine Grundrechtsverletzung aus, wenn bei der Gesamtwürdigung einer gesetzlichen Regelung, die teils begünstigender, teils belastender Natur ist - wie hier bei der umfassenden Regelung des Leistungsverbesserungsgesetzes -, festzustellen ist, daß die Rechtsstellung des Versicherten aufs Ganze gesehen verbessert worden ist.

Durch die Anwendung von § 183 Abs. 3 und 4 RVO auf alte, noch nicht abgeschlossene Versicherungsfälle für die Zeit vom 1. August 1961 an wird nicht rückwirkend in bereits fällig gewordene Ansprüche auf Krankengeld eingegriffen; daher konnte offen bleiben, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen dies möglich wäre (vgl. BVerwG in DÖV 1965, 167).

Demnach bestehen keine verfassungsmäßigen Bedenken dagegen, daß § 183 Abs. 3 und 4 RVO auch die vor dem 1. August 1961 eingetretenen Versicherungsfälle erfaßt.

Im vorliegenden Fall ist der Rentenanspruch des Klägers für die Zeit vom 1. August 1961 bis 4. Dezember 1961 (die Zeit vom 5. bis 30. Dezember 1961 ist im Revisionsverfahren nicht mehr im Streit) auf die BKK übergegangen. Daß der Forderungsübergang bereits zum 1. August 1961 - und nicht erst sechs Wochen nach dem Inkrafttreten des Leistungsverbesserungsgesetzes - eingetreten ist, folgt aus dem Zweck des § 183 Abs. 4 RVO, der keine neue Vergünstigung, sondern eine Schranke errichten will. Es soll verhindert werden, daß ein "Bezieher" von EU-Rente (Altersruhegeld) länger als sechs Wochen außerdem noch Krankengeld erhält. Dieser Zweck des Gesetzes ist erreicht, wenn der Versicherte bei Inkrafttreten der Vorschrift bereits mehr als sechs Wochen Krankengeld bezogen hat. Zu Recht hat daher die beigeladene LVA die Rentennachzahlung bereits für die Zeit vom 1. August 1961 an an die beklagte BKK überwiesen.

Die Revision der beklagten BKK ist demnach begründet. Das Urteil des LSG war daher in vollem Umfang, das des SG insoweit aufzuheben, als es die BKK verpflichtet hat, die Rentennachzahlung für die Zeit vom 1. August bis 4. Dezember 1961 an den Kläger herauszugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 285

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