Entscheidungsstichwort (Thema)

Entziehung der Kassenzulassung. zeitlich begrenztes Fehlverhalten. Überlassung des Besuchskoffers an Praxisvertreter. Bedeutung des Arztverschuldens. illegale Kassenarzttätigkeit

 

Orientierungssatz

1. Beschränken sich die Verletzungen kassenärztlicher Pflichten auf ein einziges Kalendervierteljahr, drängt sich in besonderer Weise die Frage auf, ob die vom Kassenarzt ausgehende Störung des kassenärztlichen Versorgungssystems nur durch die Entziehung der Kassenzulassung, also nicht durch eine weniger einschneidende Maßnahme behoben werden kann. Diese Frage ist in der Regel nur dann zu bejahen, wenn aufgrund früherer Pflichtverletzungen des Kassenarztes oder aufgrund der Schwere der jetzigen Verstöße den Verantwortlichen für die kassenärztliche Versorgung, der Kassenärztlichen Vereinigung und den Krankenkassen, die auf einem besonderen Vertrauensverhältnis basierende Zusammenarbeit mit dem Kassenarzt nicht mehr zugemutet werden kann.

2. Bei der Überlassung des Besuchskoffers an einen als Praxisvertreter tätigen, nicht zur kassenärztlichen Versorgung zugelassenen Arzt muß nicht ohne weiteres damit gerechnet werden, daß dieser Arzt die Gelegenheit nutzt, um illegal eine eigene Kassenpraxis auszuüben. Dem Kassenarzt kann deshalb das Verhalten des Praxisvertreters nur dann angelastet werden, wenn er davon wußte oder hätte wissen müssen.

3. Wenn ein Arzt unbewußt und ungewollt kassenärztliche Pflichten verletzt, wird in der Regel zunächst von der Möglichkeit auszugehen sein, daß der Arzt durch Hinweise und Belehrungen zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner kassenärztlichen Pflichten angehalten werden kann.

 

Normenkette

RVO § 368a Abs 6; EKV-Ä § 7 Nr 2

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 24.09.1986; Aktenzeichen L 12 Ka 16/84)

SG München (Entscheidung vom 25.10.1983; Aktenzeichen S 31 Ka 403/83)

 

Tatbestand

In diesem Rechtsstreit wendet sich der in A. als Internist niedergelassene Kläger gegen die Entziehung seiner Zulassung zur kassenärztlichen Versorgung für den Bereich der gesetzlichen Krankenkassen. Die Zulassungsinstanzen stützen die Entziehung auf das Verhalten des Klägers im Zusammenhang mit der Tätigkeit des von ihm zu Dienstleistungen herangezogenen Dr. N., welcher nicht zur kassenärztlichen Versorgung zugelassen war. Der auf demselben Sachverhalt beruhende Widerruf der Beteiligung des Klägers an der vertragsärztlichen Versorgung für den Bereich der Ersatzkassen ist Gegenstand eines anderen Rechtsstreits (Revisionsverfahren 6 RKa 24/87).

Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) übte Dr. N. ab Dezember 1981 außerhalb seines Dienstes als Oberarzt bei der Bundeswehr eine privatärztliche Tätigkeit aus. Die Praxisräume befanden sich in seinem Wohnhaus in V., das etwa 30 km von A. entfernt liegt. Bis November 1981 waren diese Räume durch einen Kassenarzt genutzt worden. Seit Anfang 1981 hatte Dr. N. an Wochenenden die Rufbereitschaft für die Praxis des Klägers übernommen. Für die Zeit ab Januar 1982 war eine mithelfende Tätigkeit in der Praxis des Klägers für mindestens 25 Stunden im Monat bei einem Entgelt von 1.000,-- DM vereinbart worden. Der Kläger hatte Dr. N. einen Besuchskoffer zur Verfügung gestellt, in dem sich ua auch kassenärztliche Formulare wie Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, Krankenhauseinweisungen und Arzneimittelverordnungsblätter, versehen mit dem Kassenstempel des Klägers, befanden. Im Quartal I/1982 behandelte Dr. N. in seinen Praxisräumen in V. auch Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen und der Ersatzkassen aus V. und Umgebung. Im April 1982 zeigte der Kläger der Bezirksstelle Schwaben der Beigeladenen zu 1) an, daß Dr. N. bei ihm seit 1. April 1982 zum Zwecke der Fortbildung auf internistischem Gebiet eine Teilzeitbeschäftigung als Assistent ausübe. Bei einer Überprüfung der Kassenabrechnung des Klägers für das Quartal I/1982 wurden 33 Originalkrankenscheine von Versicherten festgestellt, die nur von Dr. N. behandelt worden waren. Ferner waren 13 Überweisungsscheine, 2 Krankenhauseinweisungen und 50 Kassenrezepte mit dem Arztstempel des Klägers und der Unterschrift des Dr. N. versehen.

Auf Antrag der Beigeladenen zu 1) bis 5) entzog der Zulassungsausschuß dem Kläger die Kassenzulassung wegen gröblicher Verletzung kassenärztlicher Pflichten (Beschluß vom 28. September 1982/Bescheid vom 19. Oktober 1982). Den Widerspruch des Klägers wies der beklagte Berufungsausschuß aus folgenden Gründen zurück: Aufgrund der Aktenunterlagen, die sich auf die Abrechnung des Klägers für I/1982, die Befragung von mehreren Patienten und die Zeugenanhörung des Dr. N. stützten, sei der Ausschuß von einem bewußten und gewollten Zusammenwirken des Klägers und Dr. N. überzeugt; ein grober vorsätzlicher Verstoß gegen kassenärztliche Pflichten sei erwiesen. Dem Dr. N. sei seine illegale Kassenarzttätigkeit in V. nur dadurch ermöglicht worden, daß ihm der Kläger den Besuchskoffer mit den für eine Kassenarzttätigkeit notwendigen Formularen zugänglich gemacht habe. Er habe weiter - ob versehentlich oder grob fahrlässig könne dahingestellt bleiben - das Einschleusen von unrechtmäßig erlangten Krankenscheinen in seine Praxis geduldet, zumindest nicht unterbunden, was dazu geführt habe, daß für von ihm nicht erbrachte Leistungen eine Honorierung von den gesetzlichen Krankenkassen gefordert worden sei. Angesichts eines derartig eklatanten Verstoßes gegen die elementaren Pflichten eines Kassenarztes könne nicht von einem geringfügigen Versehen gesprochen werden, das eventuell mit einer Disziplinarmaßnahme zu ahnden gewesen wäre. Der Berufungsausschuß sei auch davon überzeugt, daß die gemeinschaftlichen Verfehlungen des Klägers und des Dr. N. deshalb erfolgt seien, um hieraus finanzielle Vorteile zu ziehen. Jedenfalls sei die illegale Kassenarzttätigkeit des Nichtkassenarztes Dr. N. in V. dem Kläger so viel wert gewesen, um ihn dafür mit 7.500,-- DM zu entlohnen (Beschluß vom 29. Juni 1983/Bescheid vom 14. Juli 1983).

Das Sozialgericht (SG) hat die Bescheide der Zulassungsinstanzen aufgehoben. Es ist nach Anhörung des Klägers und eidlicher Zeugenvernehmung des Dr. N. zu dem Ergebnis gelangt, daß die Voraussetzungen für die Entziehung der Kassenzulassung nicht erfüllt seien. Es stehe lediglich fest, daß der Kläger in fahrlässiger Weise 33 Behandlungsausweise des Dr. N. zur Abrechnung vorgelegt habe. Dem Kläger könne aber nicht angelastet werden, daß sich Dr. N. im Rahmen seiner Privatpraxis wie ein Kassenarzt benommen habe. Nicht zu beanstanden sei, daß der Kläger Dr. N. ab Januar 1982 als Assistenz im weitesten Sinne beschäftigt habe. Die Vertretung eines Kassenarztes bei den vom Kläger genannten Fällen - eigene Erkrankung bzw Abwesenheit wegen Kongreßbesuchs oder wissenschaftlicher Tätigkeit - könne jeder approbierte Arzt übernehmen. Sowohl die Anzahl der Stunden (25 im Monat) als auch die Entgeltzahlung (1.000,-- DM) deuteten darauf hin, daß lediglich der seit 1981 ausgeübte Bereitschaftsdienst weitergeführt worden sei. Die Fahrlässigkeit des Klägers könne eine Disziplinarmaßnahme, nicht jedoch einen unbefristeten Entzug der Kassenzulassung nach sich ziehen. Da Dr. N. unter Eid mehrfach bekräftigt habe, daß der Kläger von seinem Verhalten keine Ahnung gehabt habe, müsse das Gericht davon ausgehen, daß ein bewußtes und gewolltes Zusammenwirken des Klägers und des Dr. N. nicht gegeben gewesen sei (Urteil vom 25. Oktober 1983).

Auf die Berufungen der Beigeladenen zu 1), 2) und 4) hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es bestätigt die Auffassung des Beklagten, daß der Kläger durch die Abrechnung nicht selber erbrachter Leistungen und die Duldung der illegalen Kassenarzttätigkeit des Dr. N. seine kassenärztlichen Pflichten gröblich verletzt habe und deshalb zur Fortführung der kassenärztlichen Tätigkeit nicht mehr geeignet sei. Er habe sich einer ungenehmigten Beschäftigung eines Assistenten schuldig gemacht. Durch die Überlassung des Besuchskoffers an Dr. N. habe er eine unrichtige Abrechnungsweise unterstützt. Die Aushändigung eines Besuchskoffers an einen Nichtkassenarzt verpflichte den Kassenarzt zu peinlich genauer Kontrolle. Diese Verpflichtung habe der Kläger fahrlässig verletzt. Spätestens zum Zeitpunkt der Abrechnung hätte sich der Kläger darüber im klaren sein müssen, daß Dr. N. von einem anderen Notfallbegriff ausgegangen sei; er hätte deshalb den von Dr. N. hereingegebenen "Notfallscheinen" besondere Aufmerksamkeit schenken müssen. Mit seinem Verhalten habe der Kläger das Einreichen fremder Scheine und die Abrechnung nicht selber erbrachter Leistungen begünstigt. Zumindest aus 33 Krankenscheinen des Quartals I/1982 ergebe sich, daß Dr. N. Bewohner von V. behandelt habe. Dr. N. selber habe eingeräumt, ca 150 Krankenscheine in der Praxis des Klägers abgegeben zu haben. Der Kläger könne sich nicht auf Unkenntnis berufen, denn nach seinen eigenen Einlassungen habe er bei stichprobenartiger Durchsicht Scheine des Dr. N. festgestellt und dabei die nicht einen Notfall betreffenden Scheine aussortiert. Vorwerfbar sei auch, daß er Notfallbehandlungen durch Dr. N. über seine Praxis zur Abrechnung eingereicht habe. Das Inrechnungstellen von Honoraren für nicht selber durchgeführte Leistungen zähle zu den schwersten Störungen des Abrechnungssystems. Die Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) und die Krankenkassen müßten sich unbedingt auf die Ehrlichkeit und Sorgfalt des Kassenarztes verlassen können. Unerheblich sei, ob der Kassenarzt den Abrechnungsfehler schuldhaft verursacht habe. Es sei auch nicht entscheidend, daß die festgestellten Verfehlungen nur wenige Abrechnungsfälle beträfen. Das Verhalten des Klägers sei als grob fahrlässig zu erachten, da er trotz Kenntnis einer unrichtigen Abrechnung nichts unternommen habe, diesen Fehler zu beseitigen. Mit seinem Verhalten hinsichtlich der Notfallbehandlungen durch Dr. N. habe er bewiesen, daß er einer ordnungsgemäßen und peinlich genauen Abrechnung keine Aufmerksamkeit zu schenken beabsichtige. Darüber hinaus habe er die Einreichung der fremden Notfallscheine noch während des Klage- und Berufungsverfahrens als nicht übermäßig schwerwiegend dargestellt. Er habe damit seine unveränderte Haltung gegenüber den Verfehlungen bis zuletzt dokumentiert. Bei der Schwere der Pflichtverletzung und der unveränderten Einstellung des Klägers könne mit der Einleitung einer Disziplinarmaßnahme nicht der erstrebte Zweck erreicht werden. Ob die "Bewährung" des Kassenarztes im Laufe des Rechtsstreits zur Erteilung einer neuen Zulassung ausreiche, sei Sache der Zulassungsinstanzen. Nach den Gesamtumständen habe der Beklagte mit der Entziehung der Kassenzulassung im Rahmen der ihm übertragenen Entscheidungskompetenz gehandelt.

Dagegen hat der Kläger Revision eingelegt. Seine beiden Prozeßbevollmächtigten rügen die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Durch seinen schon bisher für ihn tätig gewesenen Prozeßbevollmächtigten läßt der Kläger vortragen: Das LSG stütze sich auf die Zeugenaussage des Dr. N. vor dem Zulassungsausschuß, er sei 5 bis 6 Stunden wöchentlich bei einem monatlichen Entgelt von 3.000,-- DM tätig gewesen. Der Berücksichtigung dieser Aussage stehe ein Verwertungsverbot entgegen, denn die Beteiligten hätten an der Vernehmung nicht teilnehmen dürfen. Bei den Zahlungen an Dr. N. in Höhe von 4.500,-- DM und 3.000,-- DM habe es sich nicht um Monatsbeträge gehandelt. Dr. N. habe von ihm für gelegentliche Tätigkeiten in einem Umfang von 20 bis 25 Monatsstunden eine Pauschalvergütung von 1.000,-- DM erhalten. Die Tätigkeit in den genannten Fällen (Erkrankung bzw Abwesenheit wegen Kongreßbesuchs oder wissenschaftlicher Tätigkeit) könne nicht als eine unzulässige Assistenz angesehen werden. Auch die Überlassung des Notfallkoffers könne ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden. Nach herrschender Übung in der Ärzteschaft werde die Materialverwaltung auf das nichtärztliche Hilfspersonal delegiert. Es werde vom Arzt nicht gefordert, den Bestand seiner Vordrucke auf Vollständigkeit zu überprüfen. Es sei dann aber nicht ersichtlich, warum solche Anforderungen im Verhältnis eines Arztes zu seinem Berufskollegen gestellt werden sollten. Zwischen Ärzten gelte im kurativen Bereich der sogenannte Vertrauensschutz, wonach sich jeder Arzt darauf verlassen könne, daß der andere in seinem Verantwortungsbereich ordnungsgemäß, sorgfältig und zuverlässig untersucht und behandelt. Es sei nicht ersichtlich, warum dieser Vertrauensgrundsatz im Bereich der Vordruckverwendung keine Anwendung finden sollte. Die vom LSG hinsichtlich der Abrechnung nicht selbst erbrachter Leistungen festgestellte Fahrlässigkeit begründe für sich allein noch keine gröbliche Verletzung kassenärztlicher Pflichten. Das gelte auch insoweit, als er rechtsirrig angenommen habe, die Notfalleistungen des Dr. N. könnten über seine Praxis abgerechnet werden. Er habe zu keiner Zeit versucht, seine Fehler zu bagatellisieren, sondern lediglich, seine Abrechnungsfehler gegenüber der klassischen Falschabrechnung abzugrenzen. Er habe sofort, nachdem ihm die Sachlage bekannt geworden sei, die Zusammenarbeit mit Dr. N. beendet. Das LSG hätte deshalb zu dem Ergebnis gelangen müssen, daß er auch weiterhin zur Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung geeignet sei.

Der für das Revisionsverfahren zusätzlich bestellte Prozeßbevollmächtigte machte geltend: Das LSG habe gegen § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen, indem es die eidliche Zeugenaussage des Dr. N., auf die es hier entscheidend ankomme, abweichend von der Würdigung des SG interpretiert habe, ohne sich einen eigenen Eindruck von der Persönlichkeit und Glaubwürdigkeit des Zeugen zu verschaffen. Das Berufungsurteil enthalte hinsichtlich der Annahme, der Kläger habe zuletzt an seiner die Schwere der Pflichtverletzung bagatellisierenden Einstellung festgehalten, keine tatsächlichen Feststellungen. Das LSG habe den Begriff der gröblichen Verletzung kassenärztlicher Pflichten iS des § 368a Abs 6 der Reichsversicherungsordnung (RVO) fehlerhaft angewandt. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dürfe von der Entziehung der Kassenzulassung, dem schwersten Eingriff in das Recht der freien Berufsausübung, erst dann Gebrauch gemacht werden, wenn nicht mehr zu erwarten sei, daß der Arzt auf andere Weise (durch mildere Maßnahmen) zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner kassenärztlichen Pflichten angehalten werden könne. Das LSG habe der gröblichen Pflichtverletzung die grob fahrlässige Pflichtverletzung gleichgesetzt. Es habe keine Abwägung zwischen der Schwere des Grundrechtseingriffs und den mit dem Grundrechtseingriff verfolgten öffentlichen Interessen vorgenommen. Auf die seit dem 1. Juli 1983 im Bezirk der KÄV Bayern bestehende Möglichkeit, das Ruhen der Zulassung bis zur Dauer von 6 Monaten anzuordnen, sei das LSG nicht eingegangen. Gesichtspunkte, die zu Gunsten des Klägers sprächen, habe es nicht berücksichtigt, insbesondere den Umstand, daß es sich um einmalige Fehlleistungen gehandelt habe, die nach rechtlicher Aufklärung sofort eingestellt worden seien. Es hätte die Entscheidung des Beklagten schon wegen fehlender Ermessensausübung der Verwaltung aufgehoben werden müssen. Das Bundessozialgericht (BSG) habe gegen eine starke Literaturmeinung daran festgehalten, daß es sich bei der Entscheidung über die Entziehung der Kassenzulassung um eine Ermessensentscheidung handele (Urteil vom 18. August 1972 - 6 RKa 4/72 -).

Die Prozeßbevollmächtigten des Klägers beantragen, das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. September 1986 - L 12 Ka 16/84 - aufzuheben und die Berufungen der Beigeladenen zu 1), 2) und 4) gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 25. Oktober 1983 - S 31 Ka 403/83 - zurückzuweisen, soweit durch dieses der Bescheid des Zulassungsausschusses vom 19. Oktober 1982 sowie der Bescheid des beklagten Berufungsausschusses vom 14. Juli 1983 aufgehoben worden sind.

Der Beklagte und die Beigeladenen zu 1) und 2) beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Die Beigeladenen zu 3) bis 5) haben sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen ist. Die bisherigen Tatsachenfeststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats, von der auch das LSG ausgeht, ergibt eine verfassungskonforme Auslegung des § 368a Abs 6 RVO, daß die Kassenzulassung nur dann wegen gröblicher Verletzung kassenärztlicher Pflichten entzogen werden darf, wenn sich der Kassenarzt durch sein Fehlverhalten als ungeeignet für die Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung erwiesen hat. Bei der Prüfung dieser Voraussetzung ist zu berücksichtigen, daß die Entziehung der Kassenzulassung der schwerste Eingriff in den Kassenarztstatus ist. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erlaubt diesen Eingriff erst dann, wenn der Arzt nicht durch andere Maßnahmen zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner kassenärztlichen Pflichten angehalten werden kann (BSGE 61, 1 = SozR 2200 § 368a Nr 16; BSGE 60, 76 = SozR 2200 § 368a Nr 15). Die Entscheidungen der Zulassungsinstanzen sind insoweit voll überprüfbar (BSGE 60, 76, 77; Urteil des Senats vom 29. Oktober 1986 - 6 RKa 32/86 - KVRS A-6000/28 = MedR 1987, 254).

Die vom LSG festgestellten Verletzungen kassenärztlicher Pflichten beschränken sich auf ein einziges Kalendervierteljahr, auf das Quartal I/1982. Bei einer derartigen zeitlichen Begrenzung des festgestellten Fehlverhaltens drängt sich in besonderer Weise die Frage auf, ob die vom Kassenarzt ausgehende Störung des kassenärztlichen Versorgungssystems nur durch die Entziehung der Kassenzulassung, also nicht durch eine weniger einschneidende Maßnahme behoben werden kann. Diese Frage ist in der Regel nur dann zu bejahen, wenn aufgrund früherer Pflichtverletzungen des Kassenarztes oder aufgrund der Schwere der jetzigen Verstöße den Verantwortlichen für die kassenärztliche Versorgung, der KÄV und den Krankenkassen, die auf einem besonderen Vertrauensverhältnis basierende Zusammenarbeit mit dem Kassenarzt nicht mehr zugemutet werden kann.

Im Berufungsurteil finden sich keine Feststellungen darüber, ob und auf welche Weise der Kläger bereits früher gegen kassenärztliche Pflichten verstoßen hat, gegebenenfalls welche Maßnahmen dagegen ergriffen worden sind und wie der Kläger darauf reagiert hat.

Das Fehlverhalten des Klägers im Quartal I/1982 sieht das LSG im wesentlichen darin, daß er ohne Genehmigung der KÄV den Bundeswehrarzt Dr. N. (ca 25 Stunden im Monat) als Assistenten beschäftigt und durch Überlassung des Besuchskoffers an diesen Arzt dessen illegale Kassenarzttätigkeit in V. ermöglicht sowie die fehlerhafte bzw unzulässige Abrechnung der von jenem Arzt erbrachten Leistungen begünstigt habe. Auch wenn damit die Pflichtverletzungen des Klägers zutreffend umschrieben sein sollten, genügen die Feststellungen des LSG nicht, um die Schwere der Pflichtverletzungen beurteilen und Folgerungen daraus auf die Eignung des Klägers als Kassenarzt ziehen zu können. Vor allem ist nicht ausreichend festgestellt, inwieweit das Fehlverhalten des Dr. N. dem Kläger angelastet werden kann. In dieser Hinsicht kommt es auch auf das Wissen und den Grad des Verschuldens des Klägers und schließlich darauf an, wie sich der Kläger verhalten hat, nachdem ihm die Verstöße des Dr. N. bekannt geworden waren.

Hinsichtlich der ungenehmigten Beschäftigung des Dr. N. als Assistenten im Quartal I/1982 ist der Unrechtsgehalt dieser Pflichtverletzung von Art und Ausmaß der Beschäftigung abhängig. Insoweit geben die Feststellungen im Berufungsurteil nur ungenaue Auskunft. Das LSG verneint zwar die Annahme des SG, daß es sich lediglich um eine Fortsetzung des seit Anfang 1981 ausgeübten "Bereitschaftsdienstes" gehandelt habe. Es stellt jedoch nicht näher fest, inwieweit die Dienstleistungen des Dr. N. für den Kläger im Quartal I/1982 von denen im Jahre 1981 abwichen. Für den Fall, daß die Abweichungen nur gering waren, könnte es von Bedeutung sein, wie die KÄV auf den "Bereitschaftsdienst" des Dr. N. im Jahre 1981 reagiert hatte. Es liegt nahe, daß die Leistungen im Rahmen dieses Dienstes in gleicher Weise abgerechnet worden waren wie die von Dr. N. im Quartal I/1982 erbrachten Leistungen. Es fragt sich daher, ob der KÄV die von ihr später beanstandete Abrechnungsweise schon im Jahre 1981 aufgefallen war und ob sie den Kläger über die Unzulässigkeit der Beschäftigung des Dr. N. bzw der Abrechnung der von diesem Arzt durchgeführten Notfallbehandlungen über die Praxis des Klägers belehrt hatte. Diesen Fragen ist das LSG offenbar deshalb nicht nachgegangen, weil es die unterlassene Antragstellung (auf Genehmigung der Beschäftigung eines Assistenten) als "geringsten Verstoß" angesehen hat. Darauf kann es aber dann ankommen, wenn das sonstige Fehlverhalten des Klägers nicht allein die Entziehung rechtfertigt.

Aus der Überlassung des Besuchskoffers an Dr. N. ergibt sich je nachdem, welche dadurch ermöglichten Rechtsverletzungen des Dr. N. auch dem Verantwortungsbereich des Klägers zuzurechnen sind und welcher Schuldvorwurf dem Kläger insoweit zu machen ist, ein Fehlverhalten von unterschiedlichem Schweregrad. Bei der Überlassung des Besuchskoffers an einen als Praxisvertreter tätigen, nicht zur kassenärztlichen Versorgung zugelassenen Arzt muß nicht ohne weiteres damit gerechnet werden, daß dieser Arzt die Gelegenheit nutzt, um illegal eine eigene Kassenpraxis auszuüben. Dem Kläger kann deshalb das Verhalten des Dr. N. nur dann angelastet werden, wenn er davon wußte oder hätte wissen müssen. Ansonsten wäre ihm im Zusammenhang mit der Überlassung des Besuchskoffers nur der Vorwurf zu machen, daß er, wozu bereits Stellung genommen worden ist, Dr. N. ohne Genehmigung als Assistenten beschäftigt oder, worauf noch einzugehen ist, die unrichtige Abrechnung der von Dr. N. durchgeführten Notfallbehandlungen zugelassen hat.

Die im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen erlauben noch nicht die Schlußfolgerung, daß dem Kläger die von Dr. N. in V. ausgeübte illegale kassenärztliche Tätigkeit bekannt war oder hätte bekannt sein müssen. Zwar wird vom LSG zu Recht auf einen in dieser Hinsicht beachtenswerten Umstand hingewiesen. Der Kläger hatte bei einer stichprobenartigen Durchsicht der Quartalsabrechnung I/1982 Scheine des Dr. N. gefunden und aussortiert, die keine Notfallbehandlungen betrafen. Dieser Umstand allein rechtfertigt jedoch noch nicht den schwerwiegenden Vorwurf, der Kläger hätte die kassenärztliche Tätigkeit des Dr. N. in V. zumindest wissen müssen. Da Näheres über die aussortierten Scheine nicht festgestellt worden ist, läßt sich nicht ausschließen, daß es sich um Einzelfälle gehandelt hat, die auf einer unterschiedlichen Beurteilung der kassenärztlichen Notfallbehandlung beruhten. Die Behauptung des Klägers, er habe von einer illegalen kassenärztlichen Tätigkeit des Dr. N. keine Ahnung gehabt, ist jedenfalls bisher nicht widerlegt, zumal Dr. N. in seiner eidlichen Zeugenaussage vor dem SG bekundet hat, sein Tätigsein in V. sei ausschließlich ihm zuzurechnen.

Dem LSG ist zuzustimmen, daß der Kläger aufgrund des Ergebnisses seiner stichprobenartigen Durchsicht der Quartalsabrechnung I/1982 verpflichtet gewesen wäre, die gesamte Abrechnung, zumindest alle von Dr. N. hereingegebenen Scheine, zu überprüfen. Da er dies unterließ, muß er sich den Vorwurf gefallen lassen, daß er bewußt die unzulässige Abrechnung von weiteren Scheinen des Dr. N. in Kauf genommen hat. Dieses Verhalten stellt sicherlich eine schwere Verletzung kassenärztlicher Pflichten dar, die jedenfalls an Disziplinarmaßnahmen denken läßt. Wenn es sich dabei aber um einen einmaligen Vorfall gehandelt hat, wird man dem Kläger nicht allein deshalb die Eignung als Kassenarzt absprechen können. Eine abschließende Beurteilung ist aber auch diesbezüglich erst nach vollständiger Aufklärung der Falschabrechnungen möglich.

Die unrichtige Abrechnung der von Dr. N. zulässigerweise durchgeführten Notfallbehandlungen - nicht unmittelbar von ihm, sondern über die Praxis des Klägers - tritt gegenüber der Abrechnung von unzulässig erbrachten Leistungen in den Hintergrund. Es handelt sich dabei um ein auf das Abrechnungsverfahren beschränktes Fehlverhalten, das die KÄV zunächst durch Belehrung oder erforderlichenfalls durch Disziplinarmaßnahmen abzustellen versuchen muß. Erst bei Erfolglosigkeit dieser Maßnahmen, also bei fortgesetzter Nichteinhaltung des kassenärztlichen Abrechnungsverfahrens ist eine Entziehung der Kassenzulassung in Betracht zu ziehen.

Die Auffassung des LSG, es sei (auch im vorliegenden Fall) unerheblich, ob der Kassenarzt die Abrechnungsfehler schuldhaft iS eines vorwerfbaren Verhaltens verursacht hat, kann nicht gebilligt werden. Zwar hat der Senat entschieden, daß die Entziehung der Kassenzulassung nicht (stets) ein Verschulden des Kassenarztes voraussetzt. Die fehlende Eignung des Arztes, an der Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung im Rahmen des gesetzlich geregelten Leistungssystems teilzunehmen, kann sich aus Eigenschaften und Verhaltensweisen des Arztes ergeben, für die diesem ein Verschulden nicht vorgeworfen werden kann. Das LSG weist zutreffend darauf hin, daß die Zulassungsentziehung wegen gröblicher Verletzung kassenärztlicher Pflichten nicht eine Sanktion für strafwürdiges Verhalten, sondern eine Maßnahme der Verwaltung ist, die allein dazu dient, das System der kassenärztlichen Versorgung vor Störungen zu bewahren und damit funktionsfähig zu erhalten. Daraus folgt jedoch nicht, daß ein Verschulden des Arztes ohne Bedeutung wäre. Insbesondere hinsichtlich der Frage, ob der betreffende Arzt veranlaßt werden kann, ein Fehlverhalten aufzugeben, wird es im allgemeinen auf die subjektive Einstellung des Arztes ankommen. Wenn ein Arzt unbewußt und ungewollt kassenärztliche Pflichten verletzt, wird in der Regel zunächst von der Möglichkeit auszugehen sein, daß der Arzt durch Hinweise und Belehrungen zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner kassenärztlichen Pflichten angehalten werden kann.

In diesem Zusammenhang muß auch dem Einwand des Klägers Beachtung geschenkt werden, er habe, als ihm die illegale kassenärztliche Tätigkeit des Dr. N. bekannt geworden sei, das Beschäftigungsverhältnis mit diesem Arzt sofort beendet. Dieser Einwand ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Wohlverhaltens nach Einleitung des Entziehungsverfahrens zu berücksichtigen, sondern auch bei der Prüfung der Frage, ob der Kläger aus Informationen, Hinweisen und Belehrungen die erforderlichen Konsequenzen gezogen und die von seiner Praxis ausgehenden Störungen umgehend beseitigt hat. Auch für diese Prüfung ist es erheblich, ob das Fehlverhalten des Klägers sich auf das Quartal I/1982 beschränkt hat oder ob und gegebenenfalls in welcher Weise es fortgesetzt worden ist.

Der Kläger wendet sich schließlich nicht unbegründet gegen die Schlußfolgerung des LSG, er habe dadurch, daß von ihm auch noch während des Streitverfahrens die Einreichung der fremden Notfallscheine als nicht übermäßig schwerwiegend dargestellt worden sei, seine unveränderte Haltung gegenüber den Verfehlungen bis zuletzt dokumentiert. Es muß dem Kläger das Recht zugestanden werden, den unterschiedlichen Schweregrad von Fehlabrechnungen geltend zu machen. Es ist in der Tat ein erheblicher Unterschied, ob zulässig erbrachte Leistungen verfahrensfehlerhaft oder ob unzulässig oder überhaupt nicht erbrachte Leistungen abgerechnet werden. Von einer unveränderten Haltung des Klägers könnte nur dann gesprochen werden, wenn er auch nach dem Quartal I/1982 die unkorrekte Abrechnungsweise beibehalten hätte.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung in diesem Rechtsstreit vorbehalten.

 

Fundstellen

AusR 1990, 32

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