Leitsatz (amtlich)

Der Arbeitsdienst, dem sich ein vor 1915 geborener Versicherter vor 1935-10-01 unterzogen hat, um zum Studium zugelassen zu werden, ist nicht aufgrund gesetzlicher Dienstpflicht geleistet (Anschluß an BSG 1977-09-08 11 RA 100/76).

 

Normenkette

AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 13.01.1977; Aktenzeichen L 5 A 24/76)

SG Trier (Entscheidung vom 16.02.1976; Aktenzeichen S 4 A 24/75)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. Januar 1977 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob dem Kläger eine Arbeitsdienstzeit als Ersatzzeit vorgemerkt werden muß.

Der 1914 geborene Kläger leistete im Anschluß an sein im März 1935 abgelegtes Abitur von April bis September 1935 Arbeitsdienst, studierte sodann Medizin und wurde Arzt.

Seinen Antrag, die Zeit des Arbeitsdienstes als Ersatzzeit vorzumerken, lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, daß dieser Dienst nicht auf Grund einer gesetzlichen Dienstpflicht geleistet worden sei (Bescheid vom 1. Oktober 1974 und Widerspruchsbescheid vom 24. Januar 1975).

Im Streitverfahren ist der Kläger in zweiter Instanz ohne Erfolg geblieben. Mit dem angefochtenen Urteil vom 13. Januar 1977 hat das Landessozialgericht (LSG) die zusprechende Entscheidung des Sozialgerichts (SG) aufgehoben und die Klage abgewiesen. In der Begründung heißt es, der Kläger erfülle als Angehöriger des Geburtsjahrgangs 1914, wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits mehrfach entschieden habe, mangels einer konkreten Arbeitsdienstpflicht nicht den Tatbestand des § 28 Abs 1 Nr 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - (= § 1251 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO --). Daß der Kläger den Arbeitsdienst habe ableisten müssen, um studieren zu können, ändere hieran nichts; jeder Abiturient habe frei entscheiden können, ob er studieren wolle und demgemäß die Studienvoraussetzungen erfüllen müsse. Auch eine Ausfallzeit scheide aus, wenngleich der Arbeitsdienst mit der Hochschulausbildung im Zusammenhang stehe.

Mit der zugelassenen Revision wendet sich der Kläger gegen dieses Urteil und trägt vor, der "studentische Pflichtarbeitsdienst" sei im Sinne von § 3 Abs 1 Buchst 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) "Dienst in Wehrertüchtigungslagern" und daher gemäß § 28 Abs 1 Nr 1 AVG Ersatzzeit (Hinweis auf BSG in SozR Nr 19 zu § 3 BVG). Im übrigen erscheine die Abgrenzung nach Geburtsjahrgängen willkürlich und verstoße daher gegen Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG), zumal sich in der Abiturklasse des Klägers zur Hälfte Angehörige des Geburtsjahrgangs 1915 befunden hätten. Dem Urteil des 11. Senats des BSG vom 8. September 1977 - 11 RA 100/76 - könne nicht beigepflichtet werden.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen sowie der Beklagten auch die außergerichtlichen Kosten des 2. und 3. Rechtszuges aufzuerlegen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, Dienstleistungen, die lediglich von bestimmten Personengruppen aus dienstlichen oder beruflichen Gründen zu erbringen gewesen seien, würden nicht vom Ersatzzeittatbestand des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG umfaßt. Sie stellten daher keine militärähnlichen Dienstpflichten im Sinne der Ersatzzeitenregelung dar (Hinweis auf BSG in SozR 2200 § 1251 Nr 8).

Beide Beteiligte haben erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist nicht begründet.

In der gesetzlichen Rentenversicherung werden nach § 28 Abs 1 Nr 1 AVG (= § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO) sowohl für die Erfüllung der Wartezeit wie bei der Zahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre als Ersatzzeiten ua die Zeiten eines militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 BVG berücksichtigt, die auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden sind. Ein Arbeitsdienst, wie ihn der Kläger angerechnet haben will, könnte militärähnlicher Dienst sein. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist jedoch ein vor Einführung der "konkreten" Reichsarbeitsdienstpflicht durch Art 7 Abs 1 Satz 1 der Zweiten Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des Reichsarbeitsdienstgesetzes (RADG) vom 1. Oktober 1935 (RGBl I 1215) abgeleisteter sogenannter freiwilliger Arbeitsdienst (FAD) eines vor 1915 Geborenen nicht auf Grund - was hier allein in Frage käme - "gesetzlicher Dienstpflicht" zurückgelegt (vgl insbesondere BSG in SozR Nr 41 zu § 1251 RVO und den erkennenden Senat in SozR 2200 § 1251 Nr 19, unter Darlegung der Entwicklung in der BSG-Rechtsprechung). Inwieweit diese Rechtsprechung gegen den Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG verstoßen könnte, ist nicht ersichtlich. In den angezogenen Entscheidungen ist dargelegt, daß der Dienstpflicht nach dem RADG vom 26. Juni 1935 (RGBl I 769) erstmals allein Angehörige des Geburtsjahrgangs 1915 unterlagen. Es ist aber sachgerecht, wenn Personen, die nach gesetzlicher Pflicht Dienst zu leisten hatten, günstiger behandelt werden als nicht Dienstpflichtige.

Bei dieser Rechtslage kann dahinstehen, unter welchen Voraussetzungen der für künftige Studenten obligatorische Arbeitsdienst vor dem 1. Oktober 1935 auch als "Dienst in Wehrertüchtigungslagern" im Sinne des § 3 Abs 1 Buchst 1 BVG militärähnlicher Dienst sein könnte (vgl BSG in SozR Nr 19 zu § 3 BVG). Selbst wenn er es wäre, wäre er nach dem soeben Dargelegten nicht auf Grund gesetzlicher Dienstpflicht geleistet.

Die Rechtsauffassung des Klägers stützt schließlich auch nicht der Umstand, daß bereits vor dem 1. Oktober 1935 allen Abiturienten, die ein Studium aufnehmen wollten, staatlicherseits praktisch zur Pflicht gemacht war, den Arbeitsdienst abzuleisten (vgl insbesondere die Ausführungsbestimmungen über die Durchführung der Arbeitsdienstpflicht der Abiturienten und Abiturientinnen von Ostern 1934 der Deutschen Studentenschaft vom 23. Februar 1934 sowie den Runderlaß des Reichsministers des Inneren vom gleichen Tage - III 3447/30.12 -; vgl auch die Verordnung des Reichsministers der Justiz vom 22. Juli 1934, RGBl I 727). Der 11. Senat hat hierzu erst jüngst in seinem Urteil vom 8. September 1977 - 11 RA 100/76 - entschieden, daß dies keine "gesetzliche Dienstpflicht" im Sinne des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG begründet habe. Im einzelnen hat der 11. Senat ausgeführt, nur wenn ein Verhalten unmittelbar verlangt und erzwungen werden könne, werde im Rechtssinne ein Pflicht auferlegt. Gerade das treffe aber auf den freiwilligen Arbeitsdienst, auch soweit er von studierwilligen Abiturienten geleistet worden sei, nicht zu. Die Ableistung sei, wie insbesondere die Ausführungsbestimmungen der Deutschen Studentenschaft vom 23. Februar 1934 ergäben, nicht unmittelbar verlangt oder gar erzwungen worden; sie sei vielmehr nur Voraussetzung für die Aufnahme des Studiums gewesen. Abiturienten, die nicht zu studieren beabsichtigten, hätten der "Dienstpflicht" nicht unterlegen. Ein mittelbarer Zwang zu Dienstleistungen habe in vielen Fällen bestanden. Der Gesetzgeber habe jedoch erkennbar in § 28 Abs 1 Nr 1 AVG offensichtlich nicht jeden Dienst, zu dessen Ableistung ein Versicherter genötigt worden sei, als Ersatzzeit gelten lassen wollen. Es bestehe kein Anhalt für die Annahme, daß er dabei die Fälle des mittelbaren Zwangs, insbesondere den beachtlichen Kreis der betroffenen Abiturienten übersehen hätte. Eine Gesetzeslücke lasse sich daher nicht annehmen.

Der erkennende Senat sieht sich nicht veranlaßt, von dieser Rechtsprechung abzuweichen und deshalb - wozu er dann verpflichtet wäre - den Großen Senat des BSG anzurufen (§ 42 SGG).

Nach alledem trifft das angefochtene Urteil zu. Die Revision des Klägers hiergegen war demnach mit der Kostenentscheidung aus § 193 SGG als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651018

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