Entscheidungsstichwort (Thema)

Zweck des Vorverfahrens

 

Leitsatz (amtlich)

1. Stellt der Versicherungsträger durch Bescheid fest, daß eine zu Unrecht gezahlte Leistung zurückzuerstatten ist, so muß der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage ein Vorverfahren vorausgehen.

2. Ist im sozialgerichtlichen Verfahren eine Klage, der ein Vorverfahren vorauszugehen hat, als unzulässig abgewiesen worden, weil das Vorverfahren nicht durchgeführt worden ist, so ist der beklagte Rechtsmittelführer trotz Ablaufs der Klagefrist beschwert, wenn er mit einer neuen Klage deshalb rechnen muß, weil über den eingelegten Widerspruch noch nicht entschieden ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

Alle Ermessensentscheidungen der Verwaltungen müssen in einem Vorverfahren überprüft werden.

 

Normenkette

RVO § 1301 Fassung: 1957-02-23; SGG § 79 Fassung: 1953-09-03, § 143 Fassung: 1953-09-03, § 160 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 22. Juni 1961 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Versicherte, die Mutter des Klägers, erhielt von der Beklagten Witwenrente und Invalidenrente. Am 30. Juni 1959 ist sie verstorben. Ohne Kenntnis von ihrem Tode holte der Kläger am 30. Juni 1959 die für Juli 1959 bestimmte Witwenrente in Höhe von 148,90 DM und Invalidenrente in Höhe von 81,50 DM von der Post ab. Am 8. Juli 1959 beantragte er, von einer Rückforderung dieser Beträge abzusehen; er habe diese Rentenzahlung für die Kosten der Beerdigung seiner Mutter, die über 800.- DM betragen hätten, verbraucht; das Sterbegeld der allgemeinen Ortskrankenkasse habe nur 202.- DM betragen.

Durch einen mit der Belehrung versehenen Bescheid vom 15. Juli 1959, daß gegen diesen Klage erhoben werden könne, forderte die Beklagte den Kläger auf, den überzahlten Betrag zurückzuzahlen. Der Kläger hat durch Schreiben vom 27. und 28. Juli 1959 die Beklagte um Nachprüfung gebeten, ob ihm die überzahlten Beträge nicht belassen bleiben könnten. Für den Fall, daß dies erneut abgelehnt werde, solle dieses Schreiben als Klage angesehen und an das Sozialgericht (SG) Berlin weitergereicht werden. Die Beklagte hat dieses Schreiben als Klage angesehen und an das SG weitergereicht, ohne dem Kläger eine Mitteilung über das Ergebnis einer erneuten Nachprüfung zukommen zu lassen.

Er hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 15. Juli 1959 aufzuheben und festzustellen, daß er nicht verpflichtet sei, den von der Beklagten zurückgeforderten Betrag zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Durch Urteil vom 14. März 1960 hat das SG Berlin den Bescheid der Beklagten vom 15. Juli 1959 aufgehoben und hat im übrigen die Klage abgewiesen. Es hat im wesentlichen ausgeführt: Der angefochtene Bescheid sei aufzuheben, weil es an einer Rechtsgrundlage für seinen Erlaß fehle. Die Entgegennahme der Rentenzahlung für den Monat Juli 1959 habe zwischen dem Kläger und der Beklagten keine öffentlich-rechtliche, sondern zivilrechtliche Rechtsbeziehungen (§ 812 ff des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) geschaffen. Für die Entscheidung über diesen Anspruch sei nach § 51 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) das SG nicht zuständig.

Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt. Sie hat im wesentlichen ausgeführt: Die Berufung sei statthaft, weil keiner der Ausschließungsgründe der §§ 144 bis 149 SGG gegeben sei. Jedenfalls sei sie aber nach § 150 Nr. 2 SGG statthaft, weil das Verfahren des SG an einem wesentlichen Mangel leide. Dieses habe nämlich zu Unrecht angenommen, daß keine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in einer Angelegenheit der Sozialversicherung vorliege. Auch im öffentlichen Recht gelte - auch ohne gesetzliche Normierung - der Grundsatz, daß Leistungen, die ohne rechtlichen Grund bewirkt seien, erstattet werden müßten. Ein solcher Anspruch sei also öffentlich-rechtlicher Natur, und zwar sozialversicherungsrechtlicher Art, da es sich hier um zu Unrecht gezahlte Sozialversicherungsleistungen handele. Wenn man dem nicht folgen wolle, so sei der Rechtsweg zu den Sozialgerichten doch jedenfalls nach § 78 Abs. 1 und 4 des Berliner Sozialversicherungsanpassungsgesetzes zulässig, wonach Dritte zur Rückzahlung von Geldleistungen an den Versicherungsträger durch Bescheid verpflichtet werden könnten.

Sie hat beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. März 1960 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger hat Anschlußberufung eingelegt und beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts in Berlin vom 14. März 1960 aufzuheben und nach seinem vor dem Sozialgericht gestellten Klageantrag zu entscheiden.

Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat durch Urteil vom 22. Juni 1961 entschieden:

Auf die Berufung der Beklagten und die Anschlußberufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. März 1960 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

In den Urteilsgründen ist im wesentlichen ausgeführt: Die Berufung sei statthaft. Sie sei zwar nach § 149 SGG ausgeschlossen, weil die streitige Rückerstattung den Wert von 500.- DM nicht übersteige, sie sei aber nach § 150 Nr. 2 SGG statthaft, weil das Verfahren des SG an einem wesentlichen Mangel leide. Denn das SG habe eine Entscheidung getroffen, obwohl es an dem in § 79 Nr. 1 SGG zwingend vorgeschriebenen Vorverfahren mangele. Der geltend gemachte Anspruch hänge von dem Ermessen der Beklagten ab.

Für die Entscheidung über den streitigen Anspruch seien gemäß § 51 SGG die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit und nicht die allgemeinen Zivilgerichte zuständig, da es sich um einen öffentlich-rechtlichen Anspruch aus dem Gebiet der Sozialversicherung handele.

Eine materielle Entscheidung könne hier allerdings nicht getroffen werden, weil es an dem in § 79 Nr. 1 SGG zwingend vorgeschriebenen Vorverfahren fehle.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision mit dem Antrag eingelegt,

die Urteile des SG Berlin und des LSG Berlin aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Sie hat im wesentlichen ausgeführt:

Das Berufungsgericht hätte in der Sache selbst entscheiden müssen, anstatt die Klage als unzulässig abzuweisen. In Streitigkeiten vorliegender Art sei das Vorverfahren nicht Sachurteilsvoraussetzung. Dem Rückforderungsbescheid liege keine gerichtlich nachprüfbare Ermessensausübung zugrunde. Das Wort "braucht" in § 1301 der Reichsversicherungsordnung (RVO) beinhalte nur ein sogenanntes - nicht klagbares - Reflexrecht, nicht dagegen eine nachprüfbare Ermessenstätigkeit im Sinne des § 79 Nr. 1 SGG. Aus der gesetzlichen Überschrift vor § 1305 RVO aF "Befugnisse der Versicherungsanstalt" gehe eindeutig hervor, daß der Versicherungsträger zu einer Niederschlagung von Außenständen (Erstattungsansprüchen) lediglich ermächtigt, nicht aber verpflichtet worden sei. Daraus ergebe sich, daß durch § 1305 RVO aF nicht das Einzelinteresse, sondern mit Rücksicht darauf, daß der Versicherungsträger treuhänderischer Verwalter des Versichertenvermögens sei, das Interesse sämtlicher Versicherter geschützt werden sollte. Der Zweck des § 1305 RVO aF habe darin bestanden, den Versicherungsträgern, die zu einer Preisgabe von Außenständen als getreue Verwalter fremden Vermögens ohne gesetzliche Ermächtigung sonst nicht befugt waren, eine Niederschlagung von Außenständen in Einzelfällen zu ermöglichen. Der Zweck des wörtlich in § 1301 RVO übernommenen § 1305 RVO aF habe sich durch die durch das Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) erfolgte andere Paragraphenbezeichnung nicht geändert. § 1301 enthalte also nur ein Reflexrecht des öffentlichen Rechts, gegen das nach den hergebrachten Grundsätzen des Verwaltungsrechts ein Rechtsmittel überhaupt nicht möglich sei.

Eine gerichtliche Nachprüfung, ob die Niederschlagung bei dem jeweiligen Vermögensstand des Versicherungsträgers vertretbar sei, würde gegen den im Grundgesetz verankerten Grundsatz der Gewaltenteilung verstoßen.

Im übrigen sei der Rechtsweg zu den Sozialgerichten zulässig, wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen habe. Die Rückforderung des Betrages von 230,40 DM von dem Revisionsbeklagten sei auch begründet. Wer Leistungen des Versicherungsträgers nach dem Tode des Empfangsberechtigten für diesen abhebe, wisse oder müsse auf Grund des Aufdrucks auf dem Rentenempfangsschein wissen, daß ihm diese Leistungen nicht zustünden. Er verstoße deshalb gegen Treu und Glauben, wenn er diese Beiträge abhebe und verbrauche.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Die Revision ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

Auch ist die Beklagte beschwert. Die Klage ist zwar durch das Berufungsgericht abgewiesen worden, aber nicht, wie von der Beklagten begehrt, als unbegründet, sondern nur als unzulässig. In einem Zivilprozeß wäre die Beklagte in einem solchen Falle beschwert. Denn die innere Rechtskraft eines Prozeßurteils geht nicht so weit wie die eines die Klage in der Sache abweisenden Urteils; die Beklagte müßte befürchten, daß der Kläger später erneut Klage wegen desselben Anspruchs erhebt (vgl. Baumbach, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 26. Aufl. Anm. 3 Grundzüge 3 vor § 511). Es spricht allerdings manches dafür, daß dies für das sozialgerichtliche Verfahren dann nicht gilt, wenn die Klagefrist bereits abgelaufen ist. Anders als im Zivilprozeß kann im sozialgerichtlichen Verfahren eine Klage nämlich nur innerhalb einer bestimmten Frist erhoben werden (§ 87 Abs. 1 SGG), ist diese abgelaufen, so kann keine zulässige Klage mehr erhoben werden, so daß die Beklagte keine neue Klageerhebung zu befürchten braucht. Einer Entscheidung dieser Frage bedarf es hier jedoch nicht. Denn im vorliegenden Fall liegt die Besonderheit vor, daß der Kläger in seinem Schriftsatz vom 27. Juli 1959 einen Antrag auf Nachprüfung des angefochtenen Bescheids durch die Beklagte gestellt hat und nur für den Fall der erneuten Ablehnung seines Begehrens auf Niederschlagung des streitigen Betrages Klage erhoben hat. Über diesen Antrag hat die Beklagte dem Kläger bisher noch keine Mitteilung zukommen lassen, sondern hat diesen Schriftsatz als Klage angesehen und unmittelbar an das SG weitergeleitet. Dieser Antrag könnte aber als Widerspruch aufgefaßt werden, über den die Beklagte noch zu entscheiden hätte. Nach Erteilung eines Widerspruchsbescheides könnte der Kläger erneut Klage erheben, wenn die jetzige Klage nur als unzulässig abgewiesen ist. Aus diesem Grunde hat die Beklagte ein Interesse, daß die vorliegende Klage nicht nur als unzulässig, sondern als unbegründet abgewiesen wird. Sie ist also beschwert.

Da die Revision zugelassen worden ist, ist sie nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG auch statthaft.

Bedenken gegen die Zulässigkeit der Revision bestehen somit nicht.

Die Revision ist jedoch nicht begründet. Denn zu Recht hat das Berufungsgericht die Klage als unzulässig abgewiesen, weil es an dem in § 79 Nr. 1 SGG zwingend vorgeschriebenen Vorverfahren mangelt.

Zwar steht dem Kläger grundsätzlich die Klage auf Aufhebung dieses Verwaltungsaktes vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zu. Dieser Rechtsweg ist nach § 51 SGG gegeben, weil der Streit, ob ein Verwaltungsakt durch einen Träger der Sozialversicherung erlassen werden durfte, eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in einer Angelegenheit der Sozialversicherung ist (Urteil des 11. Senats des Bundessozialgerichts - BSG - vom 16.8.1961 - SozR Verf. SGG Da 24 Nr. 82 zu § 54). Dasselbe gilt hinsichtlich der erhobenen negativen Feststellungsklage. Denn es handelt sich hierbei nicht um eine selbständige Klage, sondern Aufhebungs- und negative Feststellungsklage sind zusammengefaßt. Die negative Feststellungsklage hat nur Bedeutung für den Fall, daß die Aufhebungsklage Erfolg hat. Für diesen Fall soll festgestellt werden, daß der mit dem angefochtenen Bescheid festgestellte Rückforderungsanspruch nicht besteht. Bleibt die Aufhebungsklage dagegen ohne Erfolg, so hat die Feststellungsklage keine Bedeutung. Da die negative Feststellungsklage somit nur als Anhängsel der Aufhebungsklage angesehen werden kann, muß sie prozessual gesehen das Schicksal der Aufhebungsklage teilen.

Dieser Feststellungsbescheid betrifft eine Leistung, auf die ihrer Art nach ein Rechtsanspruch besteht, gleichgültig, ob es sich um einen bürgerlich-rechtlichen Anspruch nach § 812 ff BGB oder um einen öffentlich-rechtlichen Rückerstattungsanspruch handelt. Würde der angefochtene Verwaltungsakt nur die Feststellung dieses Anspruchs zum Gegenstand haben, so würde kein Vorverfahren erforderlich sein. Stillschweigend verhält sich dieser Verwaltungsakt jedoch auch über die Entscheidung der Beklagten, daß sie von der ihr in § 1301 RVO erteilten Ermächtigung, von der Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge absehen zu dürfen, keinen Gebrauch macht. Ob diese Vorschrift auch auf Rückerstattungsansprüche gegen Nichtversicherte Anwendung findet, bedarf keiner Untersuchung. Denn jedenfalls muß der Versicherungsträger dann, wenn er diesen Anspruch als öffentlich-rechtlichen Rückerstattungsanspruch behandelt und durch Bescheid feststellt, diese Vorschrift auch anwenden. Es fragt sich, ob wegen dieser negativen Entscheidung der Verwaltung, von der Ermächtigung des § 1301 RVO keinen Gebrauch machen zu wollen, ein Vorverfahren erforderlich ist. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist dies zu bejahen. In § 1301 RVO ist der Versicherungsträger ermächtigt worden, von der Rückforderung zu Unrecht gezahlter Leistungen abzusehen. Damit ist ihm gleichzeitig ein Ermessensspielraum eingeräumt worden, ob er im Einzelfall von der Rückforderung absehen will. Es steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen, ob er die zu Unrecht gezahlten Leistungen zurückfordert, oder ob er davon absieht. Entgegen der Ansicht der Beklagten entstehen aus dieser Regelung nicht nur Reflexe zugunsten des Betroffenen, sondern es steht dem Betroffenen ein wenn auch nur formelles subjektiv-öffentliches Recht gegen den Versicherungsträger auf fehlerfreie Ermessensausübung zu. Denn diese Ermächtigung ist nicht etwa aus allein den Versicherungsträger berührenden Gründen, etwa nur aus haushaltsrechtlichen Gründen erteilt worden, sondern zumindest auch im Interesse des Versicherten, dessen wirtschaftliche Lage bei dieser Entscheidung u. a. berücksichtigt werden soll (vgl. dazu Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 7. Aufl. S. 173 f; Haueisen, DVBl 1952 S. 251 f). Es darf auch nicht unbeachtet bleiben, daß § 1301 seinen Platz in der Reichsversicherungsordnung bei den Vorschriften über Renten gefunden hat, wodurch bestätigt wird, daß es sich hier um eine Regelung der Beziehungen zwischen Versicherten und Versicherungsträger handelt und nicht etwa nur den Versicherungsträger betreffende Fragen geregelt werden sollen (wie hier auch Jantz-Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten zu § 1301 RVO; Verbandskommentar zur RVO, 6. Aufl. 2 e zu § 1301; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung I, 238 y; Gesamtkommentar zur RVO Anm. 1 zu § 1301).

Da dem Kläger ein wenn auch nur formelles subjektiv-öffentliches Recht auf pflichtgemäße Ermessensausübung durch die Beklagte zusteht, kann er auch zulässig Klage auf Nachprüfung dieser Ermessensausübung erheben.

Wenn auch § 79 Nr. 1 SGG ein Vorverfahren nicht allgemein, sondern nur für Verwaltungsakte, die nicht Leistungen betreffen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, vorschreibt, so muß diese Vorschrift doch so verstanden werden, daß alle Ermessensentscheidungen der Verwaltungen in einem Vorverfahren überprüft werden müssen. Der Zweck des Vorverfahrens ist einmal, die Gerichte zu entlasten und zum anderen, bei Ermessensentscheidungen überhaupt eine volle Überprüfung zu ermöglichen, da die Gerichte wegen des verfassungsrechtliche Grundsatzes der Gewaltenteilung hierzu nicht ermächtigt sind, sondern nur prüfen können, ob die Verwaltungen bei ihrer Ermessensentscheidung die Grenzen ihres Ermessens beachtet haben. Dieser letztere Zweck steht bei § 78 ff SGG allerdings deutlich im Vordergrund. Denn andernfalls wäre das Vorverfahren generell eingeführt worden. Bei den Rentenstreitigkeiten aus der Rentenversicherung - abgesehen von der knappschaftlichen Rentenversicherung - und der gesetzlichen Unfallversicherung ist ein Vorverfahren nämlich nicht generell vorgeschrieben. Wäre die Entlastung der Gerichte der wesentliche Zweck dieser Vorschriften, würde aber auch in diesen Fällen das Vorverfahren vorgeschrieben sein. Da somit der Zweck des Vorverfahrens nach § 78 ff SGG vor allem der ist, sicherzustellen, daß Ermessensentscheidungen in einem weiteren Verwaltungsverfahren voll nachgeprüft werden können, wird man annehmen müssen, daß alle Ermessensentscheidungen der Verwaltung vorverfahrenspflichtig sind (so auch bereits der 3. Senat des BSG SozR Verf. SGG Da 2 Nr. 7 und 9 zu § 79).

Nicht nur die Aufhebungsklage, sondern auch die mit ihr verbundene negative Feststellungsklage bedarf eines Vorverfahrens. Da es sich bei der Klage, wie bereits ausgeführt, nicht um eine selbständige Klage handelt, sondern die Aufhebungsklage und die negative Feststellungsklage zusammengefaßt sind, hat die negative Feststellungsklage keine selbständige Bedeutung sondern teilt das prozessuale Schicksal der Aufhebungsklage.

Das mangelnde Vorverfahren hat die Folge, daß der Rechtsweg zur Zeit ausgeschlossen ist. Die Entscheidung der Frage, ob die Klage auf Aufhebung des Verwaltungsakts begründet ist, etwa weil der Anspruch der Beklagten nur durch Klage vor den Zivilgerichten hätte geltend gemacht werden können, konnte daher hier nicht entschieden werden.

Ob das Berufungsgericht vor seiner Entscheidung Gelegenheit hätte geben sollen, das Vorverfahren noch durchzuführen, kann hier nicht entschieden werden, da eine entsprechende Verfahrensrüge nicht rechtzeitig erhoben ist. Es bleibt jedoch noch offen, ob das Schreiben des Klägers vom 27. Juli 1959 als Widerspruch gegen den angefochtenen Bescheid anzusehen ist, über welchen die Beklagte noch durch Widerspruchsbescheid zu entscheiden hätte. Wenn dies der Fall ist - und vieles spricht dafür -, so würde gegen den Widerspruchsbescheid noch fristgerecht Klage erhoben werden können. In diesem weiteren Verfahren würde dann zu entscheiden sein, ob die Beklagte den Verwaltungsakt erlassen durfte.

Die Revision muß somit als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1965, 220

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