Leitsatz (amtlich)

Die für die Feststellung des Versorgungsanspruchs maßgebenden Verhältnisse haben sich in bezug auf die Minderung der Erwerbsfähigkeit schon dann wesentlich geändert, wenn sich nach den späteren Verhältnissen die Erwerbsfähigkeit mindestens für die Dauer eines Monats um mindestens 10% gegenüber früher geändert hat. In diesen Fällen ist eine neue Feststellung vorzunehmen (Fortführung von BSG 1965-07-27 10 RV 9/64 = BSGE 23, 192).

 

Normenkette

BVG § 62 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1960-06-27

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 21. November 1966 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger ist im Laufe des letzten Krieges durch Granatsplitter am Hals und am rechten Oberschenkel verletzt worden. Nach einer versorgungsärztlichen Untersuchung erkannte das Versorgungsamt (VersorgA) durch Bescheid vom 20. Mai 1952 als Schädigungsfolgen

a) Narben nach mehrfacher Splitterverletzung der Halsweichteile,

b) Narben nach Weichteildurchschuß des rechten Oberschenkels und leichte Einschränkung der äußersten Beugung des Kniegelenks

an und gewährte vom 1. Februar 1947 bis 30. September 1951 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v. H.; von diesem Zeitpunkt ab fiel die Rente fort, weil die Erwerbsfähigkeit nur noch um 20 v. H. herabgesetzt wurde. Im März 1962 bat der Kläger um Wiedergewährung der Rente, weil er Schmerzen und Schwellungen am rechten Oberschenkel habe. Gestützt auf das Ergebnis der Nachuntersuchung durch Reg. Medizinalrat Dr. M, Facharzt für Chirurgie, vom 15. November 1962 lehnte das VersorgA durch Bescheid vom 16. Januar 1963 eine Neufeststellung des Versorgungsanspruchs ab, weil eine wesentliche Änderung im Sinne des § 62 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nicht nachgewiesen sei.

Während des Widerspruchsverfahrens wurde der Kläger im April und Mai 1963 wegen eines Abszesses im Gebiet der alten Granatsplitterverletzung am rechten Oberschenkel stationär behandelt und war arbeitsunfähig. Nach erneuter Untersuchung durch Reg. Medizinalrat Dr. M wies das LandesversorgA durch Widerspruchsbescheid vom 26. März 1964 den Widerspruch zurück, weil die Eiterung am rechten Oberschenkel mit Splitterentfernung die Schädigungsfolge nur vorübergehend verschlimmert habe und die Erwerbsfähigkeit nach wie vor um weniger als 25 v. H. herabgesetzt sei.

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) nach Beweisaufnahme durch Einholung einer Auskunft von der zuständigen Allgemeinen Ortskrankenkasse und eines Gutachtens der Ärzte des Kreiskrankenhauses G vom 5. Januar 1966 mit Nachtrag vom 5. September 1966 den Beklagten unter Aufhebung der Verwaltungsbescheide verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. April bis zum 30. Juni 1963 Versorgung nach einer MdE um 30 v. H. zu gewähren. Es hat festgestellt, daß der Kläger wegen der anerkannten Schädigungsfolgen vom 11. April bis 30. Juni 1963 arbeitsunfähig krank geschrieben war und seine Arbeit am 1. Juli 1963 wieder aufgenommen hatte. Im Anschluß an die in BSG 23, 192 ff abgedruckte Entscheidung ist das SG der Ansicht gewesen, der Anspruch auf Versorgung habe gemäß § 62 Abs. 1 BVG neu festgestellt werden müssen, weil die Verschlimmerung länger als einen Monat gedauert habe. Es hat die Berufung zugelassen.

Der Beklagte hat (Sprung)Revision eingelegt und beantragt,

das Urteil des SG aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid des VersorgA Ulm vom 16. Januar 1963 idF des Widerspruchsbescheides des LandesversorgA Baden-Württemberg vom 26. März 1964 abzuweisen.

Er rügt eine Verletzung des § 62 BVG und hält die Verwaltungsvorschrift Nr. 3 zu § 62 BVG für gesetzeskonform. Die vom SG angezogene Entscheidung präjudiziere diesen Fall nicht, weil sie sich nur auf die Gewährung von Pflegezulage beziehe.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Insbesondere ist er der Ansicht, die vom SG angezogene Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) sei auch für den vorliegenden Fall maßgebend.

Die durch Zulassung der Berufung gemäß § 161 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Sprungrevision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist mithin zulässig, aber nicht begründet.

Der Beklagte hat eine Verletzung des § 62 Abs. 1 SGG gerügt. Nach dieser Vorschrift ist der Anspruch auf Versorgung entsprechend neu festzustellen, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung des Anspruchs maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Gesetzeswortlaut besagt nur in § 62 Abs. 1 Satz 2, daß eine Änderung der Verhältnisse dann nicht wesentlich ist, wenn sich das Nettoeinkommen um weniger als 10 DM monatlich erhöht oder das Durchschnittseinkommen um weniger als 10 DM mindert. Wann eine wesentliche Änderung in den maßgebenden Verhältnissen im übrigen - insbesondere in medizinischer Hinsicht - vorliegt, ist durch die Rechtsprechung geklärt. Im allgemeinen ist eine Änderung in der Erwerbsfähigkeit mindestens um 10 v. H. wesentlich. Daß eine solche erhöhte Einbuße an Erwerbsfähigkeit beim Kläger vorgelegen hat, ist unstreitig und trifft nach den das BSG bindenden Feststellungen im angefochtenen Urteil zu. Demnach haben sich die Verhältnisse, die für die frühere Feststellung des Anspruchs auf Versorgung maßgebend gewesen sind, wesentlich geändert. Streitig ist nur, ob diese wesentliche Änderung eine gewisse Zeitspanne lang vorgelegen haben muß, um die Neufeststellung nach § 62 Abs. 1 BVG zu rechtfertigen.

Der Beklagte ist ohne eigene Ausführungen der Ansicht, ihn binde die Verwaltungsvorschrift Nr. 3 zu § 62 BVG. Nach dieser soll eine wesentliche Änderung der Erwerbsfähigkeit nur dann vorliegen, wenn der veränderte Gesundheitszustand voraussichtlich mehr als sechs Monate anhalten werde. Für diese zeitliche Begrenzung besteht kein Anhalt im Gesetz. Dies hat der 10. Senat bereits in der in BSG 23, 192 abgedruckten Entscheidung klargelegt. In dem Rechtsstreit, welcher Anlaß zu dieser Entscheidung gegeben hatte, konnte die vom damaligen Beschädigten begehrte Gewährung von Pflegezulage für die Dauer von vier Monaten nur zustehen, wenn die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 BVG für eine Neufeststellung des Versorgungsanspruchs gegeben waren. Der 10. Senat hat zwar seine Entscheidung ausdrücklich auf die Pflegezulage beschränkt. Seine Ausführungen zu § 62 BVG aber haben Bedeutung über diesen engen Rahmen hinaus und sind auch für den hier vorliegenden Fall einer Erhöhung der Rente wegen einer nur drei Monate anhaltenden Verschlimmerung maßgebend. Denn im damaligen und dem hier zu entscheidenden Fall kommt es auf eine wesentliche Änderung der früher maßgebend gewesenen Verhältnisse an, nicht aber darauf, ob diese Verhältnisse die Beurteilung der MdE oder der Hilflosigkeit bestimmen. Die vom 10. Senat entschiedene Grundfrage der Zeitdauer ist also die gleiche wie im vorliegenden Rechtsstreit. Der erkennende Senat folgt der Entscheidung des zehnten. Nach einem Hinweis auf vergleichbare Vorschriften der Reichsversicherungsordnung und nach der Darlegung über die Berechnung und Zahlung der Versorgungsleistungen nach Monaten führt der 10. Senat aus, daß eine Veränderung im Einkommen des Beschädigten, die für die Gewährung der Höhe der Ausgleichsrente maßgebend ist, stets schon dann erheblich ist, wenn der veränderte Zustand auch nur einen Monat angedauert und seinen Ausdruck in einer Änderung des monatlichen Einkommensbetrages gefunden hat (S. 196 am Ende). Der erkennende Senat macht sich insbesondere die Zusammenfassung des 10. Senats zu eigen. Sie lautet:

"Sind aber Veränderungen in den wirtschaftlichen Verhältnissen, die sich auf die Dauer eines Monats erstrecken, als wesentliche Änderungen i. S. des § 62 BVG anzusehen, dann ist kein vernünftiger Grund vorhanden, an die Dauer der Veränderung andere Anforderungen zu stellen, wenn es sich nicht um die wirtschaftlichen, sondern um die gesundheitlichen Verhältnisse handelt" (aaO S. 197 am Anfang).

Der Beklagte hat in der Revisionsbegründung keine Ausführungen gegen die Entscheidung des 10. Senats gemacht, sondern sich darauf beschränkt, die Verwaltungsvorschrift weiterhin für maßgebend anzusehen, weil sie auch nach der Veröffentlichung der Entscheidung des 10. Senats nicht geändert worden sei; er hat noch ausgeführt, eine wesentliche Änderung der MdE pflege sich erst nach einem längeren Zeitraum wirtschaftlich bemerkbar zu machen, so daß die zu den Voraussetzungen der Pflegezulage ergangene Rechtsprechung hier nicht angewandt werden könne. Dies kann nicht überzeugen. Allenfalls könnte mit dieser Auffassung dargelegt werden, daß eine Erhöhung der Rente im allgemeinen nur dann beantragt wird, wenn die Erwerbsfähigkeit bereits eine gewisse Zeit lang in höherem Maße herabgesetzt worden ist als bisher.

Eine derartige Veränderung bemerkt der Beschädigte nicht immer gleich, sondern erst nach einer gewissen Zeit. Dementsprechend stellt er den Antrag auf Erhöhung der Rente auch erst, nachdem er sich davon überzeugt hat, daß sich die maßgebenden Verhältnisse geändert haben. Dieser Regelfall wird allerdings meistens dazu führen, daß vorübergehende Änderungen in der Erwerbsfähigkeit, die durch Krankenbehandlung behoben werden, den Anspruch auf Neufeststellung nicht mehr entstehen lassen, weil nach § 60 Abs. 2 und 1 BVG die höhere Leistung erst mit dem Antragsmonat beginnen kann. Hier hatte der Kläger jedoch geglaubt, schon im Jahre 1962 eine Verschlimmerung zu bemerken. Deshalb hatte er damals einen Antrag gestellt, der noch nicht endgültig beschieden war, als die wirkliche Verschlimmerung, über die jetzt zu befinden ist, eintrat. Damit waren aber auch die formellen Voraussetzungen für die Zubilligung der höheren Rente gegeben.

Das SG hat daher hier zu Recht die Verwaltungsvorschrift für nicht vereinbar mit dem Gesetz gehalten und hat für die unstreitig drei Monate anhaltende Verschlimmerung die höhere Rente zugesprochen. Deshalb war die Revision des Beklagten gemäß § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2290781

BSGE, 126

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