Leitsatz (amtlich)

Ein nach dem 1937-12-31 dem Deutschen Reich "angegliedertes" Gebiet ist - entgegen BSG 1966-08-30 1 RA 63/64 = BSGE 25/177 - nicht "ausländisch" iS von FRG § 16 S 1, wenn dort zur Zeit der Beschäftigung deutsches Recht gegolten hat und auch angewandt worden ist.

 

Normenkette

FRG § 16 S. 1 Fassung: 1960-02-25

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. November 1967 und des Sozialgerichts Stuttgart vom 18.April 1966 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob § 16 des Fremdrentengesetzes (FRG) auch auf Zeiten anzuwenden ist, in denen in dem Vertreibungsgebiet deutsches Recht gegolten hat.

Die im Jahre 1903 im Kreis L geborene Klägerin war, bevor sie ihren Beruf als Krankenschwester im Bundesgebiet ausübte, von 1930 bis 1943 an verschiedenen Krankenhäusern in Polen bzw. nach der deutschen Besetzung im sogenannten Warthegau als Krankenschwester tätig. Die Beklagte gewährte ihr durch Bescheid vom 27. November 1964 vorzeitiges Altersruhegeld vom 1. Januar 1964 an. Bei der Rentenberechnung berücksichtigte die Beklagte die in Polen nachgewiesenen sowie die glaubhaft gemachten Beitragszeiten bis zum Jahre 1940; sie berücksichtigte ferner sieben in der Versicherungskarte Nr. 1 für die Zeit vom 30. September 1941 bis 31. März 1942 zur früheren Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (RfA) entrichtete Beiträge und die ab 1947 in der Bundesrepublik zurückgelegte Beitragszeit. Die Klägerin begehrt die Anrechnung weiterer Versicherungszeiten. Während des Klageverfahrens vor dem Sozialgericht (SG) erkannte die Beklagte - nach den §§ 1 und 3 der Versicherungsunterlagen-Verordnung vom 3. März 1960 (VuVO) - auch die Zeit vom 14. September 1943 bis 17. Januar 1945 als glaubhaft gemachte Beitragszeit an. Sie vertrat jedoch die Auffassung, daß die Entrichtung von Beiträgen für die Zeit vom 1. April 1942 bis zum 15. September 1943 - deren Anrechnung jetzt allein noch streitig ist - nicht als glaubhaft gemacht angesehen werden könne. Das SG verurteilte die Beklagte, die streitige Zeit als Beitragszeit anzuerkennen, weil die Entrichtung von Beiträgen als glaubhaft gemacht anzusehen sei. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Beklagten zurück mit der Maßgabe, daß die Beklagte bei der Rentenberechnung die Zeit vom 1. April 1942 bis 14. September 1943 als glaubhaft gemachte Beschäftigungszeit zu berücksichtigen habe. Es hielt die Tenorierung des SG für prozessual unzulässig und trat auch nicht dessen Auffassung bei, daß die Entrichtung von Beiträgen für die streitige Zeit als glaubhaft gemacht angesehen werden könne. Das LSG ging jedoch davon aus, daß die Klägerin in der streitigen Zeit als Krankenschwester bei den Städtischen Krankenanstalten der Stadt P. beschäftigt war. Obwohl dort damals die Vorschriften der reichsgesetzlichen Versicherung galten und die Versicherung nach Reichsrecht auch durchgeführt wurde, bejahte es in Anlehnung an das Urteil des 1. Senats vom 30. August 1966 - 1 RA 63/64 (BSG 25, 177) - auch die Anwendung des § 16 FRG; hiernach sei die streitige Zeit als Beschäftigungszeit anzurechnen.

Mit der zugelassenen Revision beantragte die Beklagte,

unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile die Klage abzuweisen.

Sie rügte eine Verletzung des § 16 FRG. Mit dieser Vorschrift sei nicht beabsichtigt gewesen, Personen, die bereits dem Geltungsbereich des Reichsrechts unterlagen, unter das FRG fallen zu lassen.

Die Klägerin ließ sich im Verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) nicht vertreten.

Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II

Die Revision ist zulässig und begründet.

Da das LSG die Entrichtung von Versicherungsbeiträgen für die Zeit vom 1. April 1942 bis 14. September 1943 weder als nachgewiesen noch als glaubhaft gemacht angesehen hat und Revisionsrügen hiergegen nicht erhoben sind (§ 163 SGG), bleibt allein zu prüfen, ob das LSG diese Zeit als Beschäftigungszeit im Sinne des § 16 FRG hat anrechnen dürfen.

Das ist zu verneinen.

Die Anwendung des § 16 FRG idF des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) vom 25. Februar 1960 (BGBl I 93) - erste Alternative (die zweite Alternative kommt hier nicht in Betracht) - setzt eine nach vollendetem 16. Lebensjahr vor der Vertreibung in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) genannten ausländischen Gebieten verrichtete Beschäftigung voraus. Hieran fehlt es im Falle der Klägerin. Bei dem Beschäftigungsort der Klägerin in der streitigen Zeit (P) handelt es sich zwar um eines der in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG genannten Gebiete, nämlich "Polen", wobei offenbleiben kann, ob Polen im Sinne seiner heutigen Staatsgrenzen oder im Sinne derjenigen vor dem zweiten Weltkrieg zu verstehen ist. Entgegen der Auffassung des LSG ist dieses Gebiet aber gleichwohl nicht "ausländisch" im Sinne des § 16 Satz 1 FRG, weil es nach dem 31.12.1937 dem Deutschen Reich "angegliedert" war. Es handelt sich also nicht um ein Gebiet, "das außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches nach seinem jeweiligen Gebietsstand liegt" (so der 1. Halbsatz des Leitsatzes zu dem Urteil des 1. Senats vom 30. August 1966 - aaO).

Zwar hat der 1. Senat den Begriff "ausländisch" im Sinne des § 16 Satz 1 FRG in einem weiteren Sinn aufgefaßt, indem er in dem schon zitierten Urteil entschieden hat (vgl. 2. Halbsatz sowie Satz 2 des genannten Leitsatzes), Beschäftigungszeiten seien auch dann "im Ausland" zurückgelegt worden, wenn sie in einem Gebiet außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 verbracht wurden; ob in dem ausländischen Vertreibungsgebiet zur Zeit der Beschäftigung deutsches Recht gegolten habe, sei für die Anwendung des § 16 FRG ohne rechtliche Bedeutung. Die Begründung dieser Auffassung ist jedoch nicht überzeugend und hat in der Rechtsprechung und im Schrifttum Widerspruch gefunden. Das gilt sowohl für die Ausführungen zu der Frage, ob § 16 FRG auf eine Beschäftigung in einem "angegliederten" Gebiet für Zeiten, in denen dort deutsches Recht gegolten hat, ausgedehnt werden kann, als auch für die Heranziehung einzelner beamtenrechtlicher Vorschriften und die darin enthaltene Umschreibung des Begriffs "Reichsgebiet" und die Ausführungen zu § 18 Abs. 2 Satz 2 FRG. In der Rechtsprechung (vgl. die Urteile des BSG vom 7. April 1964 - 4 RJ 195/61, BSG 20, 287 -; vom 9. September 1965 - 4 RJ 325/64. SozR Nr. 4 zu § 16 FRG -; vom 30. Juni 1967 - 12 RJ 320/65 -; vom 28. Februar 1967 - 4 RJ 443/65 -; vom 13. Mai 1966 - 4 RJ 9/63 -; vom 24. Februar 1967 - 11 RA 96/64 - und vom 27. Juni 1967 - 11 RA 316/64 -) und im Schrifttum (vgl. Maier in "Die Sozialversicherung" 1967 S. 141; Kintzel in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1967 S. 218; Klitscher in "Die Angestelltenversicherung 1966 S. 373; Kohleiss "Ist das sozial?" S. 82) ist wiederholt und mit Recht betont worden, daß § 16 FRG die Gleichstellung der Vertriebenen mit den Einheimischen anstrebt (Eingliederungsprinzip) und daß es diesem Ziel widerspricht, (beitragslose) Beschäftigungszeiten bei Vertriebenen auch dann anzurechnen, wenn die Beschäftigung in einem angegliederten Gebiet unter der Geltung deutschen Rechts verrichtet und deutsches Recht auch tatsächlich angewandt worden ist. Anderenfalls würden die Vertriebenen (und ihre Hinterbliebenen) nicht gleich, sondern besser gestellt als die Einheimischen, bei denen Beschäftigungszeiten nur angerechnet werden, wenn dafür auch Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden sind. Ein sachlicher Grund für eine unterschiedliche Behandlung der von einem Vertriebenen unter der Geltung und Anwendung deutschen Rechts zurückgelegten Beschäftigungszeit ist nicht ersichtlich. Wenn § 16 FRG auf bestimmte Beschäftigungen keine Anwendung findet (z.B. § 18 Abs. 2 und 3 FRG), so hat das - worauf die Beklagte zu Recht hinweist - seinen Grund vorwiegend in dem Problem der Währungsumrechnung (vgl. Jantz/Zweng/Eicher, Anm. 15 und 18 zu § 16 FRG).

Der 1. Senat hat auf die Anfrage des erkennenden Senats mit Schreiben vom 29. Januar 1970 mitgeteilt, daß er an der in Bd. 25 S. 177 ff vertretenen Auffassung nicht festhalte, soweit sie über den 1. Teil des Leitsatzes (unter dem Begriff "ausländisch" im Sinne des § 16 Satz 1 FRG ist jedes Gebiet zu verstehen, daß außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches nach seinem jeweiligen Gebietsstand liegt) hinausgehe.

Da die Beschäftigung der Klägerin in der streitigen Zeit zwar in einem "angegliederten" Gebiet, aber jedenfalls im deutschen Rechtsanwendungsgebiet verrichtet wurde, ist § 16 FRG zu ihren Gunsten nicht anwendbar. Seine Anwendung entspräche weder dem Wortlaut dieser Vorschrift noch ihrem oben dargelegten Sinn und Zweck. Durch § 16 FRG sollen die Vertriebenen - ohne Beitragsleistung - deshalb in die deutsche Sozialversicherung eingegliedert werden, weil für sie im Vertreibungsgebiet vielfach die soziale Sicherung nicht bereits vom vollendeten 16. Lebensjahr an bestand. Eine - wie hier - in einem "angegliederten" Gebiet ausgeübte Beschäftigung dagegen ist nach deutschem Sozialversicherungsrecht zu beurteilen. Ob in Fällen, in denen im Vertreibungsgebiet deutsches Sozialversicherungsrecht zwar gegolten, aber nachweislich keine Anwendung gefunden hat, eine andere Beurteilung gerechtfertigt sein könnte, kann hier offenbleiben. Entscheidend ist hiernach nicht die Verrichtung einer Beschäftigung, sondern die Beitragsentrichtung. Der hier vorliegende Sachverhalt wird jedenfalls von § 16 FRG nicht erfaßt; er ist vielmehr allein nach den Vorschriften der VuVO zu beurteilen (vgl. auch die Begründung - S 2 - zur BR-Drucks. 44/60). Da nach den für das Revisionsgericht verbindlichen Feststellungen des LSG keine nach dieser Verordnung glaubhaft gemachte Beitragszeit vorliegt, ist somit die Revision begründet und dementsprechend unter Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidungen die Klage abzuweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1669005

BSGE, 88

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