Leitsatz (amtlich)

Hat ein Versicherter nach der Ehescheidung an seine geschiedene Ehefrau nicht nur geringfügige Beträge in gewisser Regelmäßigkeit gezahlt, dann sind die Voraussetzungen AVG § 42 Alternative 2 selbst dann erfüllt, wenn sich diese Unterhaltsleistungen wegen des Todes des Versicherten nicht auf den Zeitraum eines ganzen Jahres erstreckt haben. Auch in diesem Fall kommt es nicht auf die Frage an, ob der Versicherte, falls er nicht schon während des ersten Jahres nach der Scheidung gestorben wäre, weiterhin in der Lage gewesen wäre, Unterhaltsleistungen zu erbringen.

 

Normenkette

AVG § 42 Alt. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1265 Alt. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 14. Juli 1961 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin beantragte am 20. August 1956 Hinterbliebenenrente aus der Angestelltenversicherung ihres früheren Ehemannes W V (V.). Die Ehe wurde durch Urteil des Landgerichts Hamburg vom 10. Dezember 1954 aus Alleinverschulden des Ehemannes geschieden; durch Vergleich im Scheidungstermin verzichtete die Klägerin auf Unterhaltsansprüche gegen V. und übernahm mit Wirkung vom 1. Januar 1955 gegen Zahlung von 11.000,- DM die Gastwirtschaft des V. mit allen Aktiven und Passiven. Am 6. Oktober 1955 nahm sich V. das Leben.

Mit Bescheid vom 15. April 1959 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenrente ab. Die Klage wies das Sozialgericht (SG) Hamburg durch Urteil vom 26. Oktober 1959 ab. Auf die Berufung der Klägerin hob das Landessozialgericht (LSG) Hamburg am 14. Juli 1961 den Bescheid vom 15. April 1959 sowie das Urteil des SG auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin ab 1. Januar 1957 Hinterbliebenenrente nach ihrem früheren Ehemann V. zu gewähren: Die Voraussetzungen der letzten Alternative des § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) nF seien erfüllt; auf Grund der Beweisaufnahme stehe fest, daß V. der Klägerin in der Zeit von Januar bis Ende September 1955 etwa siebenmal Beträge zwischen 50,- DM und 100,- DM, insgesamt etwa 400,- bis 500,- DM, gezahlt habe, diese Beträge seien Unterhaltsleistungen gewesen; es komme nicht darauf an, ob V., falls er sich nicht nach dem Verbrauch der 11.000,- DM für die Überlassung der Gastwirtschaft das Leben genommen hätte, der Klägerin weiterhin Unterhalt hätte zahlen können; § 42 AVG nF stelle lediglich auf die Unterhaltsleistung vor dem Tode des Versicherten ab. Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil des LSG wurde der Beklagten am 7. September 1961 zugestellt.

Am 12. September 1961 legte die Beklagte Revision ein, sie beantragte,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Beklagte begründete die Revision am 13. Oktober 1961: Das LSG habe § 42 AVG nF unrichtig angewandt; mit Rücksicht auf die Unterhaltsersatzfunktion der Hinterbliebenenrenten sei der Anspruch nach § 42 AVG nF nur dann begründet, wenn festgestellt werde, daß der Versicherte, falls er nicht verstorben wäre, über den Zeitpunkt seines Todes hinaus weiterhin freiwillig Unterhalt geleistet hätte, diese Voraussetzung sei nach den Feststellungen des LSG nicht gegeben; bei den Leistungen des V. an die Klägerin habe es sich nicht um Unterhalt im Sinne des § 42 AVG nF gehandelt, weil V. überhaupt nur vorübergehend in der Lage gewesen sei, gewisse Beträge an die Klägerin zu zahlen.

Die Klägerin beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II

Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist jedoch nicht begründet.

Das LSG ist mit Recht zu dem Ergebnis gekommen, der Klägerin stehe ab 1. Januar 1957 ein Anspruch gegen die Beklagte auf Hinterbliebenenrente nach ihrem verstorbenen früheren Ehemann V. zu. Die hier allein streitigen Voraussetzungen der letzten Alternative des § 42 AVG nF sind erfüllt; V. hat der Klägerin "im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet". Nach den Feststellungen des LSG, die von der Revision nicht angegriffen und daher für das Bundessozialgericht (BSG) bindend sind (§ 163 SGG), hat V. an die Klägerin in der Zeit von Januar bis Ende September 1955 insgesamt 400,- bis 500,- DM in etwa sieben Teilbeträgen zwischen 50,- und 100,- DM gezahlt, im Monat also durchschnittlich etwa 50,- DM. Das LSG hat diese Zahlungen zu Recht als "Unterhalt" angesehen. Diese Beträge sind für die Bestreitung des Lebensbedarfs der Klägerin - wenn auch nur als Zuschuß zu dem eigenen Einkommen der Klägerin - bestimmt gewesen; das eigene Einkommen der Klägerin hat nach der nicht angegriffenen Feststellung des LSG in dieser Zeit monatlich 250,- DM betragen; sowohl absolut als auch gemessen an dem eigenen Einkommen der Klägerin ist der Betrag von 50,- DM monatlich nicht so geringfügig, daß er etwa deshalb nicht als Unterhalt angesehen werden könnte; durch die Zahlungen ist die Lebensführung der Klägerin merklich verbessert worden (vgl. BSG SozR Nr. 9 zu § 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), es kommt auch nicht darauf an, ob die Klägerin eigene ausreichende Einkünfte gehabt hat (vgl. BSG 12, 279 ff). Unerheblich ist, daß V. nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG die Beträge, die er der Klägerin gewährt hat, aus dem Betrag von 11.000,- DM genommen hat, den er von der Klägerin auf Grund des Vergleichs vom 10. Dezember 1954 für die Überlassung der Gastwirtschaft erhalten hat; V. haben die 11.000,- DM gehört, er hat die Zahlungen an die Klägerin damit aus seinem eigenen Vermögen geleistet, auch wenn er diese 11.000,- DM zuvor von der Klägerin erhalten hat.

V. hat den Unterhalt an die Klägerin auch "im letzten Jahr vor seinem Tode" geleistet; er hat zwar Unterhalt nur in der Zeit zwischen der Ehescheidung (10. Dezember 1954) bis Ende September 1955 (kurz vor seinem Tode) gezahlt, also nicht ein volles Jahr lang, sondern nur für etwa neun Monate. Wie das BSG aber wiederholt entschieden hat (Urteil des 1. Senats vom 20. Juli 1960 = BSG 12, 279 ff, 282; Urteil des 4. Senats vom 16. Juni 1961 = BSG 14, 255 ff, 258) können dann, wenn der Tod des Versicherten oder andere außergewöhnliche Umstände die Unterhaltsleistung für das volle letzte Jahr vor dem Tode des Versicherten verhindert haben, auch Unterhaltsleistungen, die sich zeitlich auf weniger als ein Jahr erstrecken, als Unterhalt "im letzten Jahr" angesehen werden; es kommt dabei nicht darauf an, ob die auf diesen Zeitraum entfallenden Beträge monatlich gezahlt worden sind, es genügt, wenn sie - wie hier - mit einer gewissen Regelmäßigkeit gezahlt worden sind. Entgegen der Meinung der Beklagten ist in den Fällen des § 42 AVG nF letzte Alternative nicht zu prüfen, ob der Versicherte, wenn er nicht schon während des ersten Jahres nach der Scheidung gestorben wäre, weiterhin Unterhalt gezahlt hätte. In § 42 AVG nF ist nur auf die Verhältnisse abgehoben, die - in den Fällen der Unterhaltspflicht (1. Alternative) - "zur Zeit seines (des Versicherten) Todes" oder - bei tatsächlicher Unterhaltsleistung (letzte Alternative) - "im letzten Jahr vor seinem Tode" bestanden haben, es ist nicht, wie zB in § 50 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) für den Anspruch auf Elternrente, auch abgehoben darauf, wie sich die Verhältnisse im Falle des Weiterlebens des Versicherten gestaltet hätten. Die gesetzliche Regelung in § 42 AVG nF wird damit dem Regelfall gerecht, in dem anzunehmen ist, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse des Versicherten, die seine Unterhaltspflicht (1. Alternative) oder den tatsächlich von ihm geleisteten Unterhalt (letzte Alternative) bestimmen, auch nach seinem Tod unverändert geblieben wären, diese Regelung ist insoweit Ausdruck der "Unterhaltsersatzfunktion" der Hinterbliebenenrenten aus der Sozialversicherung (vgl. Urteile des BSG aaO, ferner BSG 14, 129 ff; BSG SozR Nr. 3 zu § 1266 RVO; Urteile des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 24. Juli 1963 - 1 BvL 11/61, 1 BvL 30/57 -; NJW 1963, 1723 ff = BArbBl 1963, 734 ff). Diese Hinterbliebenenrenten sind zwar "Existenzsicherung nach Maßgabe des versicherten Einkommens", beruhen aber auf einer "Mischung" versicherungsrechtlicher und fürsorgerischer Prinzipien (vgl. BVerfG aaO). Der Anspruch der Witwe im besonderen trägt der Erwartung Rechnung, daß an die Stelle des Anspruchs auf Unterhalt, der mit dem Tode des versicherten Ehemannes weggefallen ist, die Leistungen der Sozialversicherung treten werden; bei der geschiedenen Witwe beruht diese Erwartung auf der Unterhaltspflicht des geschiedenen Versicherten zur Zeit seines Todes oder auf dem - im letzten Jahr vor dem Tode des Versicherten - tatsächlich geleisteten Unterhalt. Soweit die "Funktion" der Geschiedenen-Witwenrente Ausdruck des fürsorgerischen Prinzips ist, kann es nicht darauf ankommen, ob der Versicherte, wenn er weitergelebt hätte, tatsächlich weiterhin Unterhalt gezahlt hätte; dieses Prinzip kommt gerade dann "zum Tragen", wenn der bisher tatsächlich gewährte Unterhalt infolge des Todes des Versicherten weggefallen ist. Soweit die Ansprüche auf Hinterbliebenenrente, also auch die Witwenrentenansprüche auf dem versicherungsrechtlichen Prinzip beruhen, werden sie der "Vorleistung" gerecht, die durch die Beiträge erbracht worden ist. Diese "Vorleistung" wird aber, soweit es sich um den Anspruch auf die Witwenrente handelt, nicht nur von dem versicherten Ehemann, sie wird auch von der Ehefrau erbracht; einerseits wird die Höhe des Unterhalts, der der Ehefrau (auch der geschiedenen Frau) zu Lebzeiten des Versicherten zu gewähren ist oder tatsächlich gewährt wird, begrenzt durch die für den Unterhalt verfügbaren Mittel des Versicherten (der Unterhalt wird damit auch beeinflußt durch die Beiträge, die der Versicherte zur Sozialversicherung abzuführen hat oder freiwillig abführt), andererseits hat der versicherte Ehemann nicht selten erst durch die Arbeit der Frau im Haushalt oder durch ihre Mitarbeit im Beruf des Ehemannes die Möglichkeit, etwa freiwillige Beiträge zur Höher- oder Weiterversicherung zu leisten; neben der "Unterhaltsersatzfunktion" ist die Hinterbliebenenrente der Witwe deshalb auch Gegenleistung für eine "Vorleistung", die die Frau selbst erbracht hat; die Erwartung der Witwe auf Existenzsicherung stützt sich auch auf ihren eigenen Anteil an dieser "Vorleistung". Auch nach dem versicherungsrechtlichen Prinzip ist es deshalb sinnvoll, wenn das Gesetz den Anspruch der Witwe auf Hinterbliebenenrente aus der Sozialversicherung allgemein und auch den Anspruch der geschiedenen Witwe nicht davon abhängig gemacht hat, ob der Versicherte, wenn er weiter gelebt hätte, weiterhin Unterhalt geleistet hätte.

Auf die - im einzelnen nicht näher begründete - Feststellung des LSG, daß die Unterhaltszahlungen des V. nach dem Verbrauch der 11.000,- DM, die ihm die Klägerin für die Überlassung der Gastwirtschaft gezahlt hat, "voraussichtlich" auch dann geendet hätten, wenn V. nicht Selbstmord begangen hätte, weil V. über weiteres eigenes Vermögen nicht verfügt habe und "offensichtlich" nicht in der Lage gewesen sei, ein Einkommen aus Arbeit zu erzielen, das ihm weitere Unterhaltszahlungen an die Klägerin ermöglicht hätte, kommt es deshalb für den Anspruch der Klägerin auf Witwenrente nicht an. Der Anspruch der Klägerin ist nach der letzten Alternative des § 42 AVG nF begründet, weil V. der Klägerin "im letzten Jahr vor seinem Tode" Unterhalt geleistet hat. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des LSG ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 252

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