Entscheidungsstichwort (Thema)

Sachaufklärung. Beweiswürdigung

 

Orientierungssatz

1. Attestiert der medizinische Sachverständige eine wesentliche Besserung der Verletzungsfolgen zu einem Zeitpunkt, da der Verletzte sich noch wegen einer unfallbedingten Operation im Krankenhaus befindet, so bedarf es weiterer Aufklärung, weshalb der Gutachter diese Besserung gerade zum angegebenen Zeitpunkt angemessen hat.

2. Es besteht kein allgemeiner Erfahrungssatz, daß im Hinblick auf die vor und nach der Operation bestehenden Unfallfolgen der Operateur stets gegenüber anderen Sachverständigen, denen dessen Operationsbericht und sein Gutachten vorgelegen haben, über zusätzliche Erkenntnisquellen verfügt. Das gilt ebenfalls für die Anhörung des Hausarztes, als Sachverständigen.

 

Normenkette

SGG §§ 128, 103

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 09.02.1971)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Februar 1971 aufgehoben, soweit es die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 24. August 1967 abgewiesen hat. Die Sache wird insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Im übrigen wird die Revision als unzulässig verworfen.

 

Gründe

I

Der Kläger rutschte im August 1964 beim Aufladen lebender Schweine aus und fiel auf das Gesäß. Die Beklagte erkannte mit Bescheid vom 22. Juli 1965 folgende Gesundheitsstörungen als Folgen des Unfalles an: "In keilförmiger Verformung abgeheilter Bruch des 12. Brustwirbelkörpers mit Druck- und Klopfschmerz im Bereich des Übergangs von der Brust- zur Lendenwirbelsäule und endgradige Bewegungseinschränkung der gesamten Wirbelsäule, soweit sie auf die Unfallfolgen zurückzuführen ist". Sie gewährte dem Kläger eine vorläufige Rente zunächst nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. und vom 21. April 1965 an nach einer MdE um 20 v.H.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Klage erhoben und die Gewährung einer Rente nach einer MdE um 70 v.H. verlangt, da er durch die Folgen des Unfalles weit mehr als von der Beklagten angenommen in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt sei.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen.

Der Kläger hat Berufung eingelegt.

Im Laufe des Berufungsverfahrens hat die Beklagte durch Bescheid vom 24. August 1967 dem Kläger die kraft Gesetzes zur Dauerrente gewordene Rente mit Ablauf des Monats September 1967 mit der Begründung entzogen, daß sich der Unfallfolgezustand wesentlich gebessert habe und die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht mehr in rentenberechtigendem Grade gemindert werde.

Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 9. Februar 1971 das Urteil des SG geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger auch für die Zeit vom 21. April 1965 bis zum 20. August 1966 anstelle einer vorläufigen Rente um 20 v.H. eine solche nach einer MdE um 30 v.H. und für die Zeit ab 21. August 1966 anstelle einer Dauerrente nach einer MdE um 20 v.H. eine solche um 30 v.H. zu gewähren. Auf die Klage hat das LSG den Bescheid der Beklagten vom 24. August 1967 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger über den Monat September 1967 hinaus bis zum Ablauf des Monats Februar 1970 eine Dauerrente nach einer MdE um 30 v.H. zu gewähren. Im übrigen hat es die weitergehende Berufung und die weitergehende Klage abgewiesen.

Mit der - vom LSG nicht zugelassenen - Revision rügt der Kläger: Es verstoße gegen Denk- und Erfahrungssätze, daß das angefochtene Urteil ihm nur bis zum Ablauf des Monats Februar 1970, in welchem er operiert wurde, eine Dauerrente zubillige. Es lasse sich mit der allgemeinen Lebenserfahrung nicht vereinbaren, daß schon mit dem Ablauf des Monats einer so schweren Operation eine völlige Rekonvaleszenz des Operierten gegeben sei. Ein weiterer Verstoß gegen Denk- und Erfahrungssätze liege darin, daß man dem hilfsweise gestellten Beweisantrag nicht stattgegeben habe, Medizinaldirektor Dr. V und den praktischen Arzt Dr. A als Sachverständige zu hören. Dr. V verfüge als Operateur über bessere Erkenntnismöglichkeiten bezüglich der Unfallfolgen. Ebenso könne Dr. A als Hausarzt seinen Gesundheitszustand besser beurteilen als ein Arzt, bei dem er nur kurz vorgesprochen habe. Es werde ferner gerügt, daß dem Gutachten des Neurologen Dr. O vom 13. Februar 1968 gegenüber anderen eingeholten Gutachten von Nichtfachärzten auf dem Gebiete der Neurologie keine Bedeutung beigemessen worden sei.

Das Nebengutachten von Dr. N sei dagegen nur aufgrund einer bloßen Unterhaltung zustande gekommen, von einer Untersuchung auf neurologischem Gebiet könne keine Rede sein.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben, als es vom Antrag des Klägers im Termin vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen vom 9. Februar 1971 abgewichen ist, und dem weiteren Antrag des Klägers zu entsprechen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuüberweisen, nach Möglichkeit an ein anderes Landessozialgericht.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

als unbegründet zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die vom LSG nicht zugelassene Revision ist zum Teil statthaft, da sie mit Recht einen wesentlichen Mangel des Verfahrens rügt, soweit das angefochtene Urteil die Klage gegen den Bescheid vom 24. August 1967 abgewiesen hat.

Es kann dahinstehen, ob das LSG Denkgesetze verletzt oder gegen Erfahrungssätze verstoßen hat, als es beim Kläger eine unfallbedingte MdE bereits mit Ablauf des Monats Februar 1970 nicht mehr als gegeben angesehen hat. Dem Vorbringen der Revision ist zugleich noch hinreichend substantiiert zu entnehmen, daß sie im wesentlichen rügt, das LSG hätte sich aufgrund der erhobenen Beweise zu einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts gedrängt fühlen müssen. Dies trifft zu.

Das LSG kann zwar seine Entscheidung, bereits ab 1. März 1970 habe nur noch eine unfallbedingte MdE um 10 v.H. vorgelegen, auf das Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. M vom 14. April 1970 stützen. Das LSG geht jedoch ebenso wie Dr. M davon aus, daß der Unfall des Klägers vom 21. August 1964 zu einer Absprengung von Knochenstückchen und zu einer erheblichen Irritation des betreffenden Zwischenrippennerven geführt habe und erst durch die Operation vom 12. Februar 1970 eine entscheidende Besserung der Beschwerden des Klägers eingetreten sei. Nach dem vom LSG eingeholten Befundbericht des Dr. V vom 24. Juni 1970, der sich in den Gerichtsakten befindet, auf die das LSG Bezug nimmt, hat die Operation am 12. Februar 1970 stattgefunden. Weder in dem Gutachten von Dr. M noch in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ist dargelegt, weshalb die wesentliche Besserung bereits 16 Tage nach der Operation eingetreten sein soll. Dr. M hat den Kläger erst im April 1970 untersucht. Das LSG hat insbesondere nicht festgestellt, wann der Kläger aus dem Krankenhaus entlassen worden ist. In dem vom Kläger dem LSG vorgelegten Gutachten des Dr. V vom 19. Januar 1971 ist eine stationäre Behandlung vom 2. Februar bis 19. März 1970 angegeben. Das LSG hätte sich aufgrund dieser Angaben dazu gedrängt fühlen müssen, weitere Beweise darüber zu erheben, weshalb die wesentliche Besserung nach der Auffassung von Dr. M noch vor der Entlassung aus dem Krankenhaus eingetreten sein soll.

Auf dieser nicht ausreichenden Sachaufklärung beruht das angefochtene Urteil jedoch nur, soweit es die Klage gegen den Bescheid vom 24. August 1967 betrifft. Die Möglichkeit einer anderen Entscheidung hinsichtlich des Bescheides vom 22. Juli 1965 besteht nicht.

Die zur Statthaftigkeit der nicht zugelassenen Revision außerdem gerügten Mängel des Verfahrens liegen nicht vor.

Die Revision rügt, das LSG habe gegen Denk- und Erfahrungssätze sowie gegen die erforderliche Aufklärungspflicht verstoßen, weil es dem Hilfsantrag des Klägers nicht stattgegeben habe, Dr. V und Dr. A als Sachverständige zu hören.

Das LSG hat jedoch sowohl den Operationsbericht als auch das vom Kläger vorgelegte Gutachten des Dr. V vom 19. Januar 1971 seiner Urteilsfindung mit zugrunde gelegt. Es hat ebenso wie der vom Gericht zuletzt beauftragte Sachverständige Dr. M insbesondere in allen Fragen, in denen Dr. V als Operateur besondere Kenntnisse über die Unfallfolgen des Klägers erwerben konnte, seinen Ausführungen den entscheidenden Beweiswert beigemessen. Es besteht aber kein allgemeiner Erfahrungssatz, daß darüberhinaus auch im Hinblick auf die vor und nach der Operation bestehenden Unfallfolgen der Operateur stets gegenüber anderen Sachverständigen, denen dessen Operationsbericht und sein Gutachten vorgelegen haben, über zusätzliche Erkenntnisquellen verfügt, die das LSG hätten dazu drängen müssen, ein weiteres Gutachten von Dr. V einzuholen. Das gilt ebenfalls für die Anhörung des Hausarztes, dessen Befundbericht dem LSG ebenfalls vorgelegen hat, als Sachverständigen.

Die Revision rügt weiter, das LSG habe dem Gutachten des Neurologen Dr. O gegenüber anderen Gutachten von Nichtfachärzten keine Bedeutung beigemessen.

Die Revision verkennt jedoch nicht, daß Dr. M als Facharzt für Chirurgie seiner Beurteilung ein neurologisches Zusatzgutachten zugrunde gelegt hat. Das LSG hat sich nicht durch den allgemeinen Hinweis des Klägers, das Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. N sei lediglich aufgrund einer bloßen Unterhaltung zustande gekommen, zu einer weiteren Beweiserhebung gedrängt fühlen müssen, da das Gutachten nicht nur aufgrund einer bloßen Unterhaltung feststellbare Befunde enthält, die auch dem Sachverständigen Dr. M für seine fachchirurgische Beurteilung ausreichend erschienen sind. Das LSG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils auch ausreichend dargelegt, weshalb es der Beurteilung durch Dr. O nicht gefolgt ist.

Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben, soweit es die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 24. August 1967 betrifft. Eine Entscheidung in der Sache ist dem Senat nicht möglich, weil - wie dargelegt - es noch einer weiteren Sachaufklärung durch das LSG bedarf. Der Rechtsstreit ist vielmehr zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Die von der Revision hilfsweise beantragte Zurückverweisung an ein anderes Landessozialgericht ist nach § 170 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 SGG nicht zulässig. Im übrigen ist die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden können.

Dem LSG bleibt auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649735

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