Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 18.11.1958)

SG Düsseldorf (Urteil vom 19.09.1957)

 

Tenor

Die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. November 1958 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19. September 1957 sowie der Bescheid der Beklagten vom 29. März 1954 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger aus Anlaß des Arbeitsunfalls vom 8. Oktober 1953 die Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger – von Beruf Schlosser – war in einem Stahlwerk in Remscheid als Lagerarbeiter beschäftigt. Er erlitt am 8. Oktober 1953 auf dem Wege zu seiner am Südrand der Stadt Remscheid gelegenen Wohnung einen Verkehrsunfall. An diesem Tage verließ er gegen 16.15 Uhr seine Arbeitsstätte, begab sich aber nicht unmittelbar nach Hause, sondern suchte zunächst eine nahe dem Werksausgang gelegene Verkaufsbaracke auf. Dort verweilte er nach seinen Angaben eine gute halbe Stunde beim Genuß von zwei Flaschen Bier und ging dann nach dem Stadtinnern weiter. Unterwegs sah er sich Schaufensterauslagen an und kaufte sich im „Kaufhof” einen blauleinenen Arbeitsanzug. Anschließend setzte er seinen Weg, und zwar nunmehr in Richtung nach seiner Wohnung fort. Als er bereits auf dem Wege war, den er üblicherweise zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zurücklegte, wurde er etwa 500 m von seinem Wohnhaus entfernt beim Überqueren der Strasse von einem Kraftradfahrer angefahren; an Verletzungsfolgen trug er eine Gehirnerschütterung und mehrere Unterschenkelbrüche davon. Gegen 19.30 Uhr wurde er ins Krankenhaus eingeliefert. Der Zeitpunkt des Unfalls ist nicht genau festgestellt worden.

Den Anspruch des Klägers auf Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 29. März 1954 mit der Begründung ab, der Unfall sei auf einem privaten Zwecken dienenden Weg eingetreten.

Der Kläger hat diesen Bescheid rechtzeitig angefochten und mit der Klage geltend gemacht, er habe den Umweg über das Stadtinnere gemacht, um sich einen Arbeitsanzug zu besorgen, der für seine betriebliche Tätigkeit notwendig gewesen sei.

Das Sozialgericht (SG.) Düsseldorf hat durch Beschluß vom 26. Oktober 1956 die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK.) für den Stadtkreis Remscheid und die Betriebskrankenkasse (BKK.) „Bergische Stahl-Industrie” in Remscheid zum Verfahren beigeladen.

Durch Urteil vom 19. September 1957 hat es die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Kläger sei am Unfalltage nach Arbeitsbeendigung zu rein eigenwirtschaftlichen Verrichtungen unterwegs gewesen. Weder das Einkehren in die Gaststätte noch das Besorgen eines Arbeitsanzugs sei aus betrieblichen Gründen notwendig gewesen; der Kauf des Arbeitsanzugs, der in erster Linie zur Schonung der Alltagskleidung bestimmt gewesen sei, habe dem privaten Interesse des Klägers gedient. Dies und vor allem die Dauer des Verweilens in der Stadt – der Unfall habe sich erst etwa zwei Stunden nach dem Verlassen der Arbeitsstätte ereignet – sprächen dafür, daß der Kläger seiner Feierabendbeschäftigung nachgegangen sei, so daß der Rest des Weges, auf dem er verunglückte, nicht mehr als Weg von der Arbeitsstätte angesehen werden könne.

Die hiergegen rechtzeitig eingelegte Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG.) durch Urteil vom 18. November 1958 zurückgewiesen. Es ist in Übereinstimmung mit dem erstinstanzlichen Urteil der Ansicht, daß der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls nicht unter Versicherungsschutz gestanden habe, weil der ursächliche Zusammenhang des Heimwegs des Klägers mit seiner versicherten Tätigkeit durch einen im privaten Interesse liegenden erheblichen Umweg von etwa zwei Stunden Dauer endgültig gelöst worden sei.

Das LSG. hat die Revision zugelassen.

Das Urteil ist dem Kläger und der beigeladenen AOK. am 20. Januar 1959, der beigeladenen BKK. am 21. Januar 1959 zugestellt worden. Der Kläger hat am 3. Februar 1959 Revision eingelegt und sie am 7. Februar 1959 begründet. Die Revision bringt vor: Das LSG. habe nicht erschöpfend geklärt, ob der Kläger den Arbeitsanzug, zu dessen Besorgung er unterwegs war, als betrieblich notwendige Schutzkleidung brauchte. Außerdem habe es verkannt, daß der Kläger, der vor dem Unfall auf seinem Heimweg etwa zwei Stunden aufgehalten worden sei, das Bestreben gehabt habe, bald nach Hause zu kommen. Durch den Aufenthalt des Klägers in der Stadt könne mit Rücksicht darauf, daß sein gesamtes Vorhaben auf die Beschaffung eines Arbeitsanzuges gerichtet gewesen sei, nur eine Unterbrechung des Heimwegs, nicht aber dessen endgültige Lösung vom Betrieb herbeigeführt worden sein.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Beklagte zu verurteilen, ihm Entschädigung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie tritt den Ausführungen des LSG. bei und erwidert auf die Revision: Das LSG. habe seine Sachaufklärungspflicht nicht verletzt. Der Kläger trage bei seiner Beschäftigung als Lagerarbeiter einen Arbeitsanzug nur zur Schonung seiner Alltagskleidung. Der Umweg, den der Kläger zu rein privaten Verrichtungen zurückgelegt habe, sei nach Länge und Dauer so erheblich gewesen, daß der Versicherungsschutz nach dem Wiedererreichen des üblichen Heimwegs nicht habe wieder aufleben können.

Die beigeladenen Krankenkassen schließen sich dem Antrag des Klägers an.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des SozialgerichtsgesetzesSGG –); sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, also zulässig. Sie hatte auch Erfolg.

Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen ist der Senat zu dem Ergebnis gelangt, daß der Kläger auf dem zum Unfall führenden Weg nach § 543 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Versicherungsschutz gestanden hat. Der Kläger ist zwar, wie das LSG. unangefochten und daher für das Bundessozialgericht (BSG.) bindend festgestellt hat (§ 163 SGG), am Unfalltag alsbald nach dem Verlassen der Arbeitsstätte von seinem üblichen Heimweg abgewichen und hat diesen Weg erst ungefähr zwei Stunden später wieder erreicht, nachdem er unterwegs eingekehrt war und sich anschließend einen Arbeitsanzug gekauft hatte. Ob der Kläger durch diese Verrichtungen seinen üblichen Heimweg unterbrochen hatte, also während des ungefähr zweistündigen Verweilens in der Stadt nicht unter Versicherungsschutz stand, kann dahingestellt bleiben. Denn jedenfalls hat sein Verhalten vor dem Unfall den Zusammenhang des Weges, auf dem er verunglückte, mit seiner vorangegangenen versicherten Arbeitstätigkeit nicht endgültig gelöst. Wie der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 30. Juli 1959 (BSG. 10 S. 226 [228]) ausgeführt hat, steht nach einer Unterbrechung des Weges nach oder von der Arbeitsstätte der Rest des Weges nur in Ausnahmefällen, und zwar nur dann außer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit, wenn Dauer und Art der Unterbrechung auf eine endgültige Lösung des Zusammenhangs schließen lassen. Einen solchen Ausnahmefall haben die Vorinstanzen zu Unrecht angenommen. Daß der Kläger etwa zwei Stunden unterwegs gewesen war, ehe er den unmittelbaren Weg nach Hause aufnahm, rechtfertigt für sich allein nicht, den Zusammenhang als gelöst zu betrachten. Die Vorinstanzen haben zwar zutreffend die Beurteilung der Frage, ob der streitige Zusammenhang im Zeitpunkt des Unfalls endgültig gelöst war, nicht allein auf die Dauer der Unterbrechung des Heimwegs abgestellt, sondern auch die Umstände in Betracht gezogen, welche den Kläger dazu bewogen haben, von seinem üblichen Heimweg abzuweichen. Sie haben hierbei aber nicht genügend berücksichtigt, daß die Anschaffung des Arbeitsanzuges, auch wenn sie der versicherten Tätigkeit nicht zuzurechnen ist, immerhin durch diese Tätigkeit veranlaßt worden war. Der am Unfalltage gekaufte blauleinene Arbeitsanzug sollte bei der Betriebsarbeit getragen werden. Hierdurch war zwischen den Bemühungen des Klägers um die Besorgung eines neuen Arbeitsanzuges und seiner versicherten Tätigkeit eine Beziehung geschaffen, die geeignet war, den Zusammenhang des restlichen, zum Unfall führenden Weges nach Hause mit seiner vorangegangenen Betriebsarbeit – jedenfalls vom Wiedererreichen des üblichen Heimwegs von der Arbeitsstätte an – aufrechtzuerhalten. Die Annahme der Vorinstanzen, der Kläger sei nach dem Verlassen der Arbeitsstätte sogleich zur Feierabendbeschäftigung übergegangen und habe sich in der Zeit bis zum Unfall in einer Weise betätigt, die durch betriebsfremdes Verhalten gekennzeichnet sei, hält sonach einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Hätte der Kläger jene Zeit etwa mit einem Kinobesuch oder mit sonstigen Tätigkeiten verbracht, die auf rein persönliche Angelegenheiten gerichtet waren, so spräche die Dauer dieser Verrichtungen allerdings für die Annahme, daß er sich, als er verunglückte, nicht noch auf dem Nachhauseweg von der Arbeitsstätte befand. Bei dem vorliegend festgestellter Sachverhalt indessen zwingt sein Verhalten während der zwei Stunden vor dem Unfall weder nach Art noch nach Dauer zu der Annahme einer Lösung des Zusammenhangs im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO, und zwar auch nicht im Hinblick darauf, daß sich der Kläger eine Weile in der Verkaufsbaracke aufgehalten und dort sicherlich eine nicht unbeträchtliche Menge Alkohol genossen hatte. Er war im unmittelbaren Anschluß an seine Arbeitsschicht, die er in einem Stahlbetrieb abgeleistet hatte, eingekehrt, so daß auch insoweit wegen der vorangegangenen betrieblichen Anstrengungen eine gewisse Beziehung seines Verhaltens während der zwei Stunden zu seiner Arbeitstätigkeit gegeben war.

Nach alledem hat der erkennende Senat den Unfall, den der Kläger am 8. Oktober 1953 auf dem Heimweg erlitten hat, entgegen der Auffassung der Vorinstanzen als einen zur Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung berechtigenden Wegeunfall im Sinne des § 543 RVO angesehen.

Auf die somit begründete Revision des Klägers mußten die Urteile der Vorinstanzen sowie der angefochtene Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese zur Entschädigungsleistung an den Kläger verurteilt werden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Unterschriften

Senatspräsident Brackmann ist beurlaubt und deshalb verhindert, das Urteil zu unterschreiben. Schmitt, Schmitt, Hunger

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926522

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