Leitsatz (amtlich)

1. Die Revision ist nach SGG § 162 Abs 1 Nr 2 unstatthaft, wenn die Rüge des wesentlichen Verfahrensmangels nicht schlüssig und nicht unter Angabe der in Betracht kommenden Tatsachen und Beweismittel (SS § 164 Abs 2 S 2) hinreichend substantiiert vorgebracht ist. In einem Streit über das Vorliegen von Invalidität stellt allein die Behauptung, es hätte zur Beurteilung der Einwirkung eines Leidens (Hüftgelenkenversteifung) auf die Erwerbsfähigkeit des Versicherten neben einem schon vorliegenden chirurgischen Gutachten noch das Gutachten eines Orthopäden eingeholt werden müssen, keine genügend substantiierte Rüge des Mangels hinreichender Sachaufklärung SGG § 103 dar; es bedarf in Fällen solcher Art vielmehr der näheren Darlegung, inwiefern das chirurgische Gutachten unzureichend ist und einer Ergänzung durch ein orthopädisches Gutachten bedarf.

2. Für eine hinreichende Würdigung der Sach- und Rechts- lage in dem Urteil des Berufungsgerichts bedarf es nicht notwendig eines ausdrücklichen Eingehens auf jedes einzelne Vorbringen eines Beteiligten und einer ausdrücklichen Auseinandersetzung damit, sofern sich aus dem Urteil ergibt, daß das Berufungsgericht alle für seine Entscheidung maßgebenden Umstände sachentsprechend gewürdigt hat.

 

Normenkette

SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 164 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1953-09-03, § 128 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. September 1954 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander Kosten nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Der im Jahre 1912 geborene Kläger, der früher als Arbeiter in einer Schuhfabrik tätig war, behauptet, wegen einer seit seiner Kindheit bestehenden Hüftgelenksversteifung mit Verkürzung des linken Beines und wegen eines Lungenleidens invalide zu sein. Die beklagte Landesversicherungsanstalt lehnte durch Bescheid vom 6. Juni 1952 den Antrag auf Bewilligung der Invalidenrente ab, nachdem der von ihr gehörte ärztliche Sachverständige zwar eine Beeinträchtigung der Geh- und Stehfähigkeit festgestellt, das Vorliegen von Invalidität aber verneint hatte. Gegen den Bescheid der Landesversicherungsanstalt legte der Kläger Berufung beim Oberversicherungsamt Landshut ein und beantragte in der Berufungsschrift vom 15. Juli 1952, ein "orthopädisches fachärztliches Obergutachten" einzuholen; ferner wies er in der Berufungsschrift unter Beweisantritt - Vorlegung der Ausmusterungsscheine - darauf hin, daß er "trotz dreimaliger Musterung im Kriege 1939/45 als völlig untauglich ausgemustert ... und nicht einmal zum Volkssturm eingezogen" worden sei. Nach Anhörung des ärztlichen Sachverständigen ... der neben einer Versteifung des linken Hüftgelenks in leichter Beugung und Innendrehung eine Verkürzung des linken Beines um 4 cm feststellte, aber keinen Anhaltspunkt für ein Lungenleiden fand, wies das Oberversicherungsamt die von dem Kläger gegen den Bescheid vom 6. Juni 1952 eingelegte Berufung zurück. Gegen dieses Urteil legte der Kläger Revision beim Bayerischen Landesversicherungsamt ein. Beim Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes ging die Sache auf das Bayerische Landessozialgericht über. Dieses holte noch ein Gutachten der städtischen Krankenanstalten ... ein, das von der chirurgischen Abteilung (Chefarzt ... und Oberarzt ...) und der medizinischen Abteilung (Oberarzt ... und ...) erstattet wurde. Auf Grund dieser ärztlichen Gutachten stellte das Landessozialgericht fest, daß der Kläger noch in der Lage ist, leichte und mittelschwere Arbeiten vorwiegend im Sitzen auszuführen und hierdurch die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen. Es führte hierzu aus, das Gutachten der städtischen Krankenanstalten habe alle Beschwerden des Klägers geprüft und erschöpfend gewürdigt, die "fehlende Beugung, Streckung und Abduktion (Seitwärtsbewegung des Beines) werde durch Bewegung mittels des Beckens ausgeglichen", und der Kläger sei "besser daran als ein Hochunterschenkel- oder Oberschenkelamputierter". Die besonders durch die Beinverkürzung hervorgerufenen Gehbeschwerden lassen nach den auf dem chirurgischen Gutachten gestützten Feststellungen des Landessozialgerichts die erforderlichen Anmarschwege zu den Verkehrsmitteln zu; außer einer leichten Lungenblähung habe auch keine Einschränkung der Leistungsfähigkeit der Lunge festgestellt werden können; der Kläger, der zur Zeit als Landarbeiter eine körperlich anstrengendere Tätigkeit ausübe, als ihm ärztlich zugemutet werde, befinde sich im übrigen in keinem wesentlich anderen Zustand als demjenigen, in dem er früher seine Beiträge zur Invalidenversicherung entrichtet habe; er müsse sich deshalb mindestens auf sitzende Tätigkeit, z. B. wieder als Schuhfabrikarbeiter, gegebenenfalls im Pendelverkehr zur nächsten größeren Stadt, verweisen lassen.

Das Landessozialgericht hat das Rechtsmittel des Klägers durch Urteil vom 7. September 1954 zurückgewiesen, die Revision hat es nicht zugelassen. Gegen dieses Urteil, das dem Kläger am 28. Oktober 1954 zugestellt wurde, hat er durch seinen Prozeßbevollmächtigten Revision eingelegt, die am 26. November 1954 beim Bundessozialgericht eingegangen ist. Der Kläger hat in der Revisionsschrift beantragt, unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, an ihn gemäß seinem Antrag vom 27. Februar 1952 Invalidenrente zu gewähren. Er rügt im Hinblick auf § 162 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) folgende Mängel des Verfahrens:

1. Im Berufungsrechtszug sei kein orthopädisches Fachgutachten eingeholt worden;

2. das Berufungsgericht habe nicht beachtet, daß der Kläger bereits mit Schriftsatz vom 15. Juli 1952 Beweis dafür angeboten habe, daß er in den Jahren 1939/45 trotz dreimaliger Untersuchung stets wehruntauglich gemustert und auch in den Jahren 1944/45 nicht zum Volkssturm einberufen worden sei.

Die Beklagte hat die Zurückweisung der Revision beantragt.

 

Entscheidungsgründe

Die rechtzeitig eingelegte und begründete Revision war als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht statthaft ist.

Da das Landessozialgericht die Revision in dem angefochtenen Urteil nicht zugelassen hat, findet sie in dem vorliegenden Rechtsstreit über die Gewährung einer Invalidenrente nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird. Der Senat brauchte im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden, ob eine auf die Verletzung eines wesentlichen Verfahrensmangels gestützte Revision auch dann unstatthaft und deshalb nach § 169 SGG als unzulässig zu verwerfen ist, wenn ein Mangel des Verfahrens zwar schlüssig vorgetragen ist, die Prüfung durch das Revisionsgericht aber ergibt, dass der behauptete Mangel tatsächlich nicht vorliegt. Denn die Revision des Klägers ist schon deshalb nicht statthaft, weil sein Vorbringen in der Revisionsbegründung nicht als hinreichend substantiierte Verfahrensrüge angesehen werden kann.

Nach der zwingenden Vorschrift des § 164 Abs. 2 S. 2 SGG muß die Revisionsbegründung die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen und Beweismittel bezeichnen, die den Mangel ergeben. Nach dieser Vorschrift kann die bloße Behauptung, das Berufungsgericht habe eine näher bezeichnete wesentliche Verfahrensvorschrift verletzt, nicht als ausreichende Revisionsrüge angesehen werden. Offenbar will der Prozeßbevollmächtigte des Klägers mit seinem Vorbringen, das Berufungsgericht habe kein orthopädisches Fachgutachten eingeholt, dartun, das Gericht habe seiner Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, nicht genügt und damit die Vorschrift des § 103 SGG verletzt. Daß der Kläger etwa auch eine Nichtbeachtung des § 109 SGG rügen wollte, ist nicht anzunehmen, da er im gesamten Verfahren keinen Antrag auf Anhörung eines "bestimmten Arztes" gestellt hat; sein im Verfahren vor dem Oberversicherungsamt gestellter Antrag, ein orthopädisches fachärztliches Obergutachten einzuholen, kann nicht als Antrag auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes angesehen werden.

Der Senat hatte somit nur zu prüfen, ob eine den gesetzlichen Erfordernissen genügende Rüge der Verletzung des § 103 SGG vorliegt. Nach dieser Vorschrift hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Es hat also zur Feststellung, ob die für das Bestehen oder Nichtbestehen des geltend gemachten Anspruchs erheblichen Tatsachen vorliegen, alle geeigneten und notwendigen Ermittlungen anzustellen. Im Rahmen dieser Ermittlungen ist das tatsächliche Vorbringen der Parteien wohl zu berücksichtigen, jedoch ist das Gericht an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 103 Satz 2 SGG). Über den Umfang der zur Erforschung der Wahrheit erforderlichen Ermittlungen, besonders darüber, ob und welche Beweise zu erheben sind, entscheidet der Tatrichter im Rahmen der ihm obliegenden Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts, die der Gesetzgeber in den Mittelpunkt des sozialgerichtlichen Verfahrens gerückt hat. Er verletzt die Aufklärungspflicht, wenn er ohne Anhörung eines geeigneten Sachverständigen eine tatsächliche Frage (z. B. über den gesundheitlichen Zustand des Klägers) entscheidet, die er auch vom Standpunkt eines lebenserfahrenen Richters aus eigener Sachkunde nicht entscheiden kann, oder wenn er seine Feststellung auf ein Gutachten stützt, das in sich widerspruchsvoll oder wegen anderer Mängel zur Erforschung der rechtserheblichen Tatsachen nicht geeignet oder nicht ausreichend ist (vgl. zu der im wesentlichen gleichen Frage der Aufklärungspflicht im Strafprozeß Löwe-Rosenberg StPO und GVG, 20. Auflage 1954, § 244 Anm. 6). Die Verletzung dieser Aufklärungspflicht stellt einen wesentlichen Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG dar. Voraussetzung einer Nachprüfung des Verfahrens in dieser Richtung ist jedoch, daß der Revisionskläger im einzelnen Tatsachen und gegebenenfalls Beweismittel anführt, aus denen sich mit hinreichender Deutlichkeit ergibt, daß das Berufungsgericht seine gesetzliche Befugnis und Verpflichtung zur Erforschung des Sachverhalts entweder verkannt hat oder ihr nicht nachgekommen ist, indem es etwa Beweismittel ungenutzt ließ, obwohl die bisher erhobenen Beweise zu einer sicheren tatsächlichen Feststellung nicht ausreichten. Diese Voraussetzungen einer Verfahrensrüge sind im vorliegenden Falle nicht erfüllt; der Revisionskläger hat sich mit der allgemeinen Behauptung begnügt, daß die hinreichende Sachaufklärung die Einholung eines orthopädischen Gutachtens erfordert hätte.

Bei der rechtlichen Wertung dieses Vorbringens des Revisionsklägers war zu berücksichtigen, daß das Landessozialgericht zur Klärung der durch die Hüftgelenksversteifung bedingten Einschränkung der Erwerbsfähigkeit des Klägers bereits ein fachärztliches Gutachten von dem Chefarzt der chirurgischen Abteilung der städtischen Krankenanstalten ... eingeholt hatte. Die Begutachtung einer Hüftgelenksversteifung gehört grundsätzlich zum Aufgabengebiet eines Chirurgen, der auf Grund seiner fachlichen Ausbildung und seiner Erfahrungen in der Lage ist, ein derartiges Leiden nicht nur chirurgisch zu behandeln, sondern auch seine Einwirkung auf die Erwerbsfähigkeit des Versicherten vom ärztlichen Standpunkt aus zu beurteilen. Zwar hätte das Berufungsgericht zur Begutachtung des Leidens des Klägers anstelle des von ihm gehörten Chirurgen auch einen Orthopäden hören können, dessen Fachgebiet sich auf die Behandlung von Fehlbildungen und Erkrankungen der Bewegungsorgane bezieht. Die Wahl des ärztlichen Sachverständigen aus einem dieser beiden in Betracht kommenden Fachgebiete stand jedoch grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts. Eine Verpflichtung, zur Aufklärung des Sachverhalts bei Leiden der genannten Art neben dem Gutachten des Chirurgen auch noch das Gutachten eines Orthopäden einzuholen, kann nicht allgemein anerkannt werden. Bei der gegebenen Sachlage hätte der Revisionskläger die von ihm behauptete Verletzung der Aufklärungspflicht näher begründen und insbesondere darlegen müssen, warum im vorliegenden Falle das vom Berufungsgericht zur Beurteilung seines Körperschadens eingeholte chirurgische Gutachten nicht als ausreichend angesehen werden kann, und aus welchen besonderen Gründen das Gericht zur Ergänzung dieses fachärztlichen Gutachtens noch das Gutachten eines Orthopäden hätte einholen sollen. In dieser Hinsicht läßt das Vorbringen des Klägers eine näher substantiierte Darlegung vermissen.

Auch das weitere Vorbringen des Revisionsklägers, das Berufungsgericht habe seine unter Beweisantritt vorgebrachte Behauptung nicht beachtet, er sei in den Jahren 1939/45 stets wehruntauglich gemustert und auch in den Jahren 1944/45 nicht zum Volkssturm einberufen worden, kann nicht als eine dem Gesetz entsprechende Verfahrensrüge angesehen werden, seine Darlegungen sind insoweit nicht schlüssig. Für eine hinreichende Würdigung der Sach- und Rechtslage durch das Berufungsgericht bedarf es nicht notwendig eines ausdrücklichen Eingehens auf jedes einzelne Vorbringen eines Beteiligten und einer ausdrücklichen Auseinandersetzung damit, sofern sich nur aus dem Urteil ergibt, daß das Berufungsgericht alle für seine Entscheidung maßgebenden Umstände sachentsprechend gewürdigt hat. Es bestehen keine Bedenken, diesen für das zivilgerichtliche Verfahren geltenden Grundsatz (vgl. BGHZ Bd. 3, S. 162 ff., bes. S. 175) auch in der Sozialgerichtsbarkeit anzuwenden, obwohl hier der für die Beurteilung des Rechtsstreits maßgebende Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln ist. Die Frage, ob der Kläger für den militärischen Dienst ungeeignet war, ist für die Beurteilung seiner Erwerbsfähigkeit im Rahmen der Invalidenversicherung ohne wesentliche Bedeutung, denn die Richtlinien, die bei der Musterung für Zwecke des Wehrdienstes anzuwenden waren, unterscheiden sich erheblich von der hier allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 1254 RVO, die für die Beurteilung der Invalidität eines Versicherten allein maßgebend ist.

Da demnach die von dem Kläger vorgebrachten Rügen des Verfahrens teils nicht hinreichend substantiiert, teils nicht schlüssig sind, vermögen sie eine Statthaftigkeit der Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht herbeizuführen. Die Revision war daher gemäß § 169 SGG als unzulässig zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2158036

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