Entscheidungsstichwort (Thema)

Ungarischer Arbeitsdienst. Ersatzzeit

 

Leitsatz (amtlich)

§ 9 WGSVG ist entsprechend anwendbar, wenn sich die Rentenversicherungspflicht nach der Eintragung in das Mitgliederverzeichnis einer Kammer richtet und der Versicherte durch Verfolgungsmaßnahmen aus diesem Verzeichnis gelöscht wurde. Das gilt auch dann, wenn er schon vor Beginn der Verfolgung seine Berufstätigkeit unterbrochen hatte (hier durch Einberufung zum ungarischen Arbeitsdienst).

 

Orientierungssatz

Der Dienst in einer ungarischen Arbeitskompanie (ungarischer Arbeitsdienst) ist keine Ersatzzeit iS des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG (= § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO).

 

Normenkette

WGSVG §§ 1, 3, 9-10, 14, 20; FRG §§ 15-16; RVO § 1251 Abs 1 Nr 1; AVG § 28 Abs 1 Nr 1; FRG§15V § 1 Nr 2; BVG §§ 2-3

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 12.05.1982; Aktenzeichen L 6 An 10/79)

SG Berlin (Entscheidung vom 20.12.1978; Aktenzeichen S 1 An 3001/77)

 

Tatbestand

Die 1911 geborene Klägerin ist die Witwe des 1904 geborenen und am 14. Juli 1968 in Berlin verstorbenen Dr. O W. Mit ihrem am 30. Dezember 1975 gestellten Antrag begehrt sie die Nachentrichtung von Beiträgen nach §§ 9, 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) als Rechtsnachfolgerin ihres Ehemannes.

Der Ehemann der Klägerin ist in S, N, geboren und war dort von 1933 bis 1940 selbständiger Rechtsanwalt. Für diese Zeit sind nach Angaben der Klägerin Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden. Im Januar oder Februar 1941 wurde er als Jude zum ungarischen Arbeitsdienst einberufen. Er blieb dort bis Ende 1944. Anschließend kam er ins Ghetto in Budapest, wo er den Judenstern tragen mußte. Nach 1945 war er bis 1951 wieder als Rechtsanwalt tätig. Danach ist er nach Israel ausgewandert, und zwar, wie er in einem Entschädigungsverfahren angegeben hat, aus Angst vor dem Kommunismus. Er hat wegen eines Freiheitsschadens in der Zeit vom 6. April 1941 bis 17. Januar 1945 Wiedergutmachung erhalten. Im Entschädigungsverfahren wurde seine Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis anerkannt. Er war bei Geburt österreichisch-ungarischer, dann rumänischer, seit 1940 ungarischer, nach Kriegsende wieder rumänischer und seit 1951 israelischer Staatsbürger. Er war nicht als Vertriebener iS des § 1 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) anerkannt.

Den Antrag der Klägerin auf Nachentrichtung von Beiträgen nach dem WGSVG lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 8. Juni 1977; Widerspruchsbescheid vom 24. November 1977). Zur Begründung führte sie aus, daß die Aufgabe der Tätigkeit im Jahre 1941 nicht auf deutschen Verfolgungsmaßnahmen beruht habe.

Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Berlin -SG- vom 20. Dezember 1978; Urteil des Landessozialgerichts Berlin -LSG- vom 12. Mai 1982). Das LSG hat die Auffassung vertreten, daß die Berufstätigkeit des Klägers 1941 nicht aus Verfolgungsgründen unterbrochen worden sei, wie dies die §§ 9 und 10 WGSVG voraussetzten. Rechtlich bedeutsam seien nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) nur Verfolgungsmaßnahmen deutscher Stellen. Ungarn sei indes bis zur deutschen Besetzung am 19. März 1944 in seiner Judenpolitik souverän und unabhängig vom Deutschen Reich gewesen (BGH RzW 1976, 214/215). Bei Freiheitsentziehungen bestimme allerdings § 43 Abs 1 Ziff 2 BEG, daß ein Entschädigungsanspruch auch dann bestehe, wenn ein ausländischer Staat unter Mißachtung rechtsstaatlicher Grundsätze die Freiheit entzogen habe und die Regierung des ausländischen Staates von der nationalsozialistischen deutschen Regierung zu der Freiheitsentziehung veranlaßt worden sei. Bei den von der Regierung des Staates Ungarn aus Gründen der Rasse vorgenommenen Freiheitsentziehungen gelte aber erst der 6. April 1941 als Zeitpunkt für den Beginn der deutschen Veranlassung.

Eine im Laufe des Verfahrens vorgebrachte Behauptung der Klägerin, ihr Ehemann sei von Januar 1941 bis 6. April 1941 arbeitslos gewesen, treffe nicht zu. Er habe vielmehr ungarischen Arbeitsdienst leisten müssen und habe deshalb der Arbeitsvermittlung und dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung gestanden.

Der Ehemann der Klägerin habe auch keinen Überbrückungstatbestand in der Zeit zwischen Beendigung seiner versicherungspflichtigen Tätigkeit und dem Beginn der Verfolgung erfüllt. Das Bundessozialgericht (BSG) habe zwar entschieden, daß das Recht zur Weiter- und Nachversicherung nach §§ 9 und 10 WGSVG auch dem Verfolgten zustehe, der bis zum Beginn der Verfolgung eine Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes -AVG- (§ 1251 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) zurückgelegt habe, wobei es nicht auf die Anrechenbarkeit dieser Zeit nach deutschem Rentenrecht ankomme (BSG SozR 5070 § 9 Nr 1). Auch diese Rechtsprechung ergebe aber keinen Anspruch auf Nachentrichtung, denn die Zeit vom 31. Januar 1941 bis 6. April 1941 sei keine Ersatzzeit.

Ein Ersatzzeittatbestand iS des § 28 Abs 1 Nr 4 AVG scheide schon deshalb aus, weil keine Freiheitsentziehung durch Verfolgungsmaßnahmen deutscher Stellen vorgelegen habe. Der Ehemann der Klägerin habe aber auch keine Ersatzzeit iS von § 28 Abs 1 Nr 1 AVG zurückgelegt. Darunter fielen neben den weiteren, hier nicht einschlägigen Fällen nur Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes iS der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), der aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden sei. Der Ehemann habe keinen militärischen oder militärähnlichen Dienst nach deutschem Wehrrecht geleistet. Bei Vertriebenen iS des § 1 BVFG stehe zwar die Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht nach den Vorschriften des Herkunftslandes vor dem 9. Mai 1945 dem Dienst in der deutschen Wehrmacht gleich. Die Anwendung dieser Vorschrift scheitere im vorliegenden Fall aber schon daran, daß der Ehemann der Klägerin nicht als Vertriebener iS des § 1 BVFG anerkannt war. Hinzu komme, daß er in der maßgeblichen Zeit in Ungarn keine gesetzliche Wehrpflicht erfüllt habe. Bei dem Arbeitsdienst handele es sich um einen Wehrersatzdienst ohne Waffen, der nach dem ungarischen Wehrgesetz von 1939 von wehrpflichtigen Personen ungarischer Staatsangehörigkeit zu leisten war, die wegen körperlicher Untauglichkeit oder aus anderen Gründen vom Waffendienst ausgeschlossen waren. Aus denselben Gründen scheide auch eine Gleichstellung nach § 2 Abs 3 BVG aus, zumal diese Vorschrift nur für deutsche Staatsangehörige gelte, die in einem mit dem Deutschen Reich verbündet gewesenen Staat während des Krieges Wehrdienst geleistet und ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt vor dem 9. Mai 1945 im Gebiet des Deutschen Reiches gehabt hätten.

Auch könne der Arbeitsdienst nicht als militärähnlicher Dienst und damit als Ersatzzeit iS von § 28 Abs 1 Nr 1 AVG iVm § 3 BVG angesehen werden, da die letztgenannte Vorschrift nur die darin aufgeführten Dienstleistungen in deutschen Organisationen erfasse. Da somit die Verfolgung nicht während einer der in § 9 Abs 1 WGSVG genannten Zeiten und auch nicht während einer Ersatzzeit nach § 28 AVG eingetreten sei, komme im vorliegenden Fall eine Nachentrichtung nicht in Betracht.

Mit der Revision hält die Klägerin daran fest, daß der ungarische Arbeitsdienst ihres Ehemannes als Ersatzzeit anzuerkennen sei. Die Nichtanerkennung ihres Ehemannes als Vertriebener sei unbeachtlich, da er nach § 20 WGSVG einem anerkannten Vertriebenen gleichstehe. Der Arbeitsdienst sei in Erfüllung der Wehrpflicht geleistet worden, so daß er dem Militärdienst in einem mit dem Deutschen Reich verbündeten Land gleichzustellen sei. Ungarn habe sich am 27. September 1940 dem sogenannten Dreimächtepakt angeschlossen. Der Anerkennung als Wehrdienst stehe nicht entgegen, daß der Dienst nicht mit der Waffe, sondern mit Arbeitsgeräten und unter - im übrigen menschenunwürdigen - Haftbedingungen geleistet worden sei. Es handele sich hierbei nicht um Merkmale, welche eine Wehrdienstleistung ausschlössen, sondern um Tatbestände besonderer Diskriminierung. Die Arbeitskompanien seien in großem Umfang später auch an der Front eingesetzt worden, wo sie kriegseigentümlichen Gefahren in besonderem Maße ausgesetzt gewesen seien. Mit dem deutschen Arbeitsdienst sei dieser Dienst nicht zu vergleichen.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 8. Juni 1977 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24. November 1977 zu verurteilen, die Klägerin zur Nachentrichtung von Beiträgen nach §§ 9/10 WGSVG nach ihrem Ehemann zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie weist darauf hin, daß militärischer Dienst stets die Rechtsstellung eines Soldaten und die Zugehörigkeit zu einer bewaffneten Macht (hier zur ungarischen Wehrmacht) voraussetze, daß es sich bei der Tätigkeit im ungarischen Arbeitsdienst aber um einen Wehrersatzdienst ohne Waffen gehandelt habe. Im übrigen bezieht sie sich auf das Urteil des LSG.

Beide Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes) entschieden wird.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG. Zur abschließenden Entscheidung sind weitere tatsächliche Feststellungen erforderlich.

Das Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG setzt voraus, daß bei dem Verfolgten einer der von § 9 WGSVG erfaßten Tatbestände erfüllt ist, nämlich - Unterbrechung oder Beendigung einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit aus Verfolgungsgründen oder - Beginn der Verfolgung während einer der dort genannten Ausfallzeiten oder - Beginn der Verfolgung während einer Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 1 AVG (BSG SozR 5070 § 9 Nr 1).

Das LSG hat zutreffend entschieden, daß keiner der beiden letztgenannten Tatbestände erfüllt ist und auch die Voraussetzungen der ersten Fallgruppe nicht ohne weiteres angenommen werden können.

Verfolgter iS von § 1, 2 BEG ist nur, wer von Maßnahmen betroffen war, welche von deutschen Stellen oder auf Veranlassung oder zumindest mit Billigung deutscher Stellen eingeleitet wurden. Bei Maßnahmen der Freiheitsentziehung in Ungarn, um die es hier geht, gilt der 6. April 1941 als Zeitpunkt für den Beginn der deutschen Veranlassung (§ 43 Abs 1 Satz 2 Nr 2, 2. Halbsatz BEG idF von Art I Nr 32 des BEG-Schlußgesetzes vom 14. September 1965, BGBl I, 1315). Das LSG hat dazu festgestellt, daß der Ehemann der Klägerin schon vorher, nämlich im Januar oder Februar 1941, zum Dienst in einer Arbeitskompanie eingezogen wurde. Gegen diese Feststellung hat die Klägerin im Revisionsverfahren keine Einwände mehr erhoben. Als Verfolgungstatbestand kann deshalb frühestens das weitere Festhalten des Ehemanns der Klägerin in der Arbeitskompanie ab 6. April 1941 angesehen werden. Seine Verfolgung hat somit weder seine - schon früher beendet gewesene - Tätigkeit als Rechtsanwalt unterbrochen noch hat sie während einer Ausfallzeit nach § 36 Abs 1 Nr 1, 2 oder 3 AVG, insbesondere nicht während einer Arbeitslosigkeit, eingesetzt.

Das LSG hat ferner zutreffend entschieden, daß der Dienst in der Arbeitskompanie keine Ersatzzeit iS von § 28 Abs 1 Nr 1 AVG war. § 28 Abs 1 Nr 1 AVG verweist auf die §§ 2 und 3 BVG.

§ 2 Abs 1 BVG betrifft nur militärischen Dienst, der nach deutschem Wehrrecht oder in bestimmten deutschen Verbänden (Volkssturm, Feldgendarmerie, Heimatflakbatterien) geleistet worden ist; keine dieser Voraussetzungen liegt hier vor. Gleichgestellt ist nach § 2 Abs 2 BVG "bei Vertriebenen im Sinne des § 1 des Bundesvertriebenengesetzes, die Deutsche oder deutsche Volkszugehörige sind", die Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht nach den Vorschriften des Herkunftslandes vor dem 5. Mai 1945. Ob der Ehemann der Klägerin schon deswegen nicht zu den hier genannten Personen gehörte, weil er nicht als Vertriebener iS des BVFG anerkannt war (so das LSG), läßt der Senat offen. Die Gleichstellung der formell nicht anerkannten Vertriebenen nach § 20 WGSVG könnte möglicherweise nicht nur "bei Anwendung des Fremdrentengesetzes" (§ 20 WGSVG), sondern auch für § 2 Abs 2 BVG gelten (so Kaltenbach/Maier in: Koch/Hartmann, AVG, Stand: September 1984, Bd IV, S V 254 f). Auch dann wäre § 2 Abs 2 BVG jedoch - entgegen der Ansicht der Revision - nicht auf den Ehemann der Klägerin anzuwenden, weil dieser, wie das LSG insoweit zutreffend ausgeführt hat, mit der waffenlosen Dienstleistung in einer ungarischen Arbeitseinheit keine gesetzliche Wehrpflicht nach den Vorschriften seines Herkunftslandes Ungarn erfüllt hat. Daß das BVG Hilfsdienste der fraglichen Art nicht zum militärischen Dienst rechnet, sondern allenfalls zum militärähnlichen Dienst iS des § 3 BVG, zeigen die dort geregelten Fälle, von denen indessen keiner auf den Ehemann der Klägerin zutrifft.

Gleichwohl kann ein Nachentrichtungsrecht der Klägerin nach den §§ 9 und 10 WGSVG gegeben sein. Zweck dieser Vorschriften ist, denjenigen Versicherten, die durch nationalsozialistische Verfolgung aus einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit - vorübergehend oder auf Dauer - verdrängt und dadurch gehindert worden sind, weitere Rentenversicherungsbeiträge zu entrichten, den Wiedereintritt in die Rentenversicherung im Wege einer freiwilligen Weiterversicherung (§ 9) sowie die Nachentrichtung von Beiträgen (§ 10) zu ermöglichen, und zwar auch dann, wenn dies nach den allgemeinen Vorschriften nicht (mehr) zulässig wäre. Soweit es sich um die Nachentrichtung von Beiträgen handelt, gilt dies auch für Hinterbliebene von Versicherten, die vor dem Inkrafttreten des WGSVG verstorben sind (§ 10 Abs 3 WGSVG). Hat die Verfolgung außerhalb des Geltungsgebiets der RVO stattgefunden - durch deutsche Behörden oder auf ihre Veranlassung durch nichtdeutsche Stellen - und hat sie einen nach fremden Rechtsvorschriften Versicherten betroffen, so stehen auch diesem bzw seinen Hinterbliebenen die genannten Befugnisse zu, sofern die von ihm vor der Verfolgung ausgeübte abhängige Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit iS des § 9 Abs 1 WGSVG gleichsteht. Eine solche Gleichstellung sieht das Fremdrentengesetz (FRG) in § 15 Abs 1 Satz 2 ausdrücklich vor, setzt dabei aber außer der Entrichtung von Beiträgen voraus, daß der nach den fremden Rechtsvorschriften rentenversichert Gewesene zu den nach dem FRG Berechtigten gehört (§ 1 FRG); das trifft insbesondere für anerkannte Vertriebene zu oder für Verfolgte, die ihnen nach § 20 WGSVG gleichstehen.

Um sicherzustellen, daß die Vergünstigungen der §§ 9 und 10 WGSVG nur solchen Personen zugute kommen, die "durch die Verfolgung Schaden in der Sozialversicherung erlitten haben" (§ 1 WGSVG), bei denen also die Verfolgung kausal für den versicherungsrechtlichen Schaden geworden ist, fordert der Gesetzgeber, daß die Verfolgung eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit "unterbrochen oder beendet" hat, die Beschäftigung oder Tätigkeit mithin bis zum Einsetzen der Verfolgung ausgeübt worden ist. Damit werden von den Vergünstigungen Personen ausgeschlossen, deren rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit schon vor dem Beginn der Verfolgung - aus anderen als aus Verfolgungsgründen - geendet hatte.

Eine Ausnahme von dem Erfordernis, daß eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit bis zum Beginn der Verfolgung vorgelegen haben muß, gilt nach § 9 WGSVG für Verfolgte, "die bis zum Beginn der Verfolgung eine Ausfallzeit nach § 1259 Abs 1 Nr 1, 2 oder 3 der Reichsversicherungsordnung (bzw den entsprechenden Vorschriften der anderen Rentengesetze) zurückgelegt haben", die also bei Beginn der Verfolgung ihre Beschäftigung oder Tätigkeit vorübergehend wegen Krankheit, Mutterschaft oder Arbeitslosigkeit unterbrochen hatten. Da sie nach Wegfall dieser Hinderungsgründe ihre Beschäftigung oder Tätigkeit mutmaßlich wieder aufgenommen hätten, kann auch bei ihnen unterstellt werden, daß die Verfolgung kausal für einen Schaden in der Sozialversicherung geworden ist.

Das gleiche gilt nach dem schon genannten Urteil des Senats vom 26. Oktober 1976 (SozR 5070 § 9 Nr 1) für Verfolgte, die bis zum Beginn der Verfolgung eine Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO (militärischer oder militärähnlicher Dienst) zurückgelegt hatten; es gilt ferner unter gewissen Voraussetzungen für Rentenversicherte, die vor 1933 Deutschland verlassen hatten, um sich im Ausland beruflich weiterzubilden, die jedoch die spätere Rückkehr und Wiederaufnahme einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit in Deutschland nach der nationalsozialistischen Machtübernahme aus Verfolgungsgründen unterlassen hatten (Urteil vom 28. Februar 1984, SozR 5070 § 9 Nr 7). In beiden Urteilen ist die Einbeziehung der betreffenden Verfolgten in den Anwendungsbereich der §§ 9 und 10 WGSVG davon abhängig gemacht und zugleich damit gerechtfertigt worden, daß auch diese Verfolgten bei Beginn der Verfolgung "nach ihrem Beruf zum Kreis der rentenversicherungspflichtigen Erwerbstätigen" gehört hatten, aus diesem Kreise also noch nicht ausgeschieden waren. Dieses Merkmal - Zugehörigkeit zum Kreis der rentenversicherungspflichtigen Erwerbstätigen -, auf das auch die Begründung zu § 9 WGSVG abhebt, gewinnt damit für dessen Auslegung und Anwendung entscheidende Bedeutung (SozR 5070 Nr 7 S 15).

Das gilt auch für den vorliegenden Fall. Er weist - was bisher nicht genügend beachtet worden ist - Besonderheiten insofern auf, als der Ehemann der Klägerin während der fraglichen Zeit (1941) nicht in einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit gestanden hat, sondern bis Ende 1940 als selbständiger Rechtsanwalt tätig und möglicherweise während dieser Zeit und darüber hinaus in der ungarischen Rentenversicherung der Rechtsanwälte versichert war.

Der Ort, an dem der Ehemann der Klägerin seinerzeit als Rechtsanwalt tätig war, gehörte nach dem sog 2. Wiener Schiedsspruch seit dem 7. September 1940 zu Ungarn; deshalb galt für ihn der "Gesetzesartikel XXIII vom Jahre 1934 über die Landes-Versorgungs- und Pensionsanstalt der Rechtsanwälte" vom 29. Dezember 1934, verkündet am 31. Dezember 1934 (Ungarische Reichsgesetzsammlung, Ausgabe in deutscher Sprache, 1934, S 289). Dieses Versorgungswerk ist nach § 1 Nr 2 der aufgrund von § 15 FRG ergangenen Verordnung über die Anerkennung von Systemen und Einrichtungen der Sozialen Sicherheit vom 11. November 1960 (BGBl I 849), zuletzt geändert durch Verordnung vom 10. April 1978 (BGBl I 470), als gesetzliche Rentenversicherung anerkannt. Die dort zurückgelegten Beitragszeiten sind deshalb für die nach dem FRG Berechtigten Beitragszeiten iS von § 15 FRG (auch die Beklagte hat dies nach Aktenvermerken in ihren Verwaltungsakten in Erwägung gezogen).

Die Mitgliedschaft in dem genannten Versorgungswerk knüpfte nun nicht - wie die Versicherung wegen einer abhängigen Beschäftigung - an Beginn und Ende der tatsächlichen Tätigkeit als Rechtsanwalt an; sie war vielmehr abhängig von der Eintragung und Löschung des Rechtsanwalts im Verzeichnis der Rechtsanwaltskammer (§ 2), ähnlich einer heute für die deutsche Handwerkerversicherung geltenden Regelung (§ 1 des Handwerkerversicherungsgesetzes: Eintragung in die Handwerksrolle). Die Beiträge waren Jahresbeiträge (§ 3) und jeweils am 30. Juni des laufenden Jahres fällig (§ 4). Bei Säumigkeit trat erst ein Jahr nach Fälligkeit das Ruhen der Mitgliedschaft ein (§ 8). Versicherungspflicht bestand somit während der Dauer der formellen Eintragung in der Liste der Rechtsanwaltskammer, unabhängig von der tatsächlichen Ausübung einer Anwaltstätigkeit.

Diese Besonderheit der ungarischen Rechtsanwaltsversicherung kann bei der Auslegung und Anwendung der §§ 9 und 10 WGSVG nicht unberücksichtigt bleiben. Wenn nämlich § 9 WGSVG, wie ausgeführt, grundsätzlich die Fortdauer einer rentenversicherungspflichtigen "Beschäftigung oder Tätigkeit" bis zum Beginn der Verfolgung fordert, um damit die Anwendung der Vorschrift auf den Kreis der (noch) Erwerbstätigen zu beschränken, dann kann dieses Erfordernis dann nicht gelten, wenn sich die Zugehörigkeit zu diesem Kreis bei einer bestimmten Gruppe von Versicherten nach anderen Merkmalen als nach der tatsächlichen Ausübung einer Beschäftigung oder Tätigkeit bestimmt. Eben dies war bei den ungarischen Rechtsanwälten während der fraglichen Zeit der Fall.

Ihre Rentenversicherungspflicht begann, wie dargelegt, mit der Eintragung in das bei der Rechtsanwaltskammer geführte Anwaltsverzeichnis und endete mit der Löschung aus diesem Verzeichnis. Fiel die Eintragung mit der Aufnahme der Anwaltstätigkeit (oder die Löschung mit der Aufgabe dieser Tätigkeit) zusammen und begann innerhalb dieser Zeit auch die Verfolgung, so ist § 9 WGSVG unmittelbar anwendbar. Fielen dagegen die genannten Ereignisse zeitlich auseinander, hatte insbesondere der Anwalt seine Tätigkeit schon vor der Löschung im Anwaltsverzeichnis unterbrochen oder beendet und begann die Verfolgung erst nach der Unterbrechung oder Beendigung, jedoch noch vor der Löschung im Verzeichnis, dann kommt nur eine entsprechende Anwendung des § 9 WGSVG in Betracht. Sie ist andererseits aber auch geboten, weil der Anwalt, solange er noch nicht im Verzeichnis gelöscht war, weiterhin dem Kreis der rentenversicherungspflichtigen Erwerbstätigen angehörte. Für die Anwendung des § 9 WGSVG genügt es also, daß die Verfolgung noch während der Dauer der Eintragung des Anwalts im Anwaltsverzeichnis begann, mochte er zu dieser Zeit seine Tätigkeit auch nicht mehr ausüben.

Daran würde sich hier selbst dann nichts ändern, wenn der Ehemann der Klägerin für das Jahr 1941 keine Beiträge mehr entrichtet haben sollte, sofern die Zahlung der Beiträge aus Verfolgungsgründen unterblieben wäre. Da die Beiträge für das Jahr 1941 erst Ende Juni 1941 fällig waren, der Ehemann der Klägerin zu diesem Zeitpunkt aber bereits verfolgt wurde, spricht alles dafür, daß eine etwaige Nichtzahlung der Beiträge verfolgungsbedingt war. Die Beiträge würden dann nach § 14 Abs 2 Satz 1 WGSVG als entrichtet gelten. Aus dem gleichen Grunde, daß nämlich verfolgungsbedingte Unterlassungen einem Verfolgten nicht zum Nachteil gereichen dürfen, würde die Anwendung des § 9 WGSVG auch daran nicht scheitern, daß der Ehemann der Klägerin aus Verfolgungsgründen nicht in das Verzeichnis der Rechtsanwälte eingetragen worden wäre (vgl das Urteil des Senats vom 26. Oktober 1976 aaO S 5 am Ende).

Allerdings muß die Verfolgung überhaupt Einfluß auf die versicherungsrechtliche Lage des Verfolgten gehabt haben. Sollte also der Ehemann der Klägerin - entgegen der Wahrscheinlichkeit (s dazu auch §§ 8, 9 des ungarischen Gesetzes vom 29. Dezember 1934) - trotz seiner Verfolgung im Rechtsanwaltsverzeichnis nicht gelöscht worden sein, wäre er mithin für die ganze Verfolgungszeit Mitglied der Anwaltskammer und damit auch der Pensionsanstalt geblieben und würden deshalb nicht entrichtete Beiträge gem § 14 Abs 2 Satz 1 WGSVG als entrichtet gelten, so läge kein Unterbrechungstatbestand iS des § 9 WGSVG vor. Zwar genügt es für die Anwendung dieser Vorschrift regelmäßig, daß der Verfolgte aus seiner Erwerbstätigkeit gedrängt worden ist; ein versicherungsrechtlicher Schaden in der Zeit unmittelbar danach braucht ihm dadurch nicht entstanden zu sein. Sofern die Beiträge trotz Beendigung der Beschäftigung zunächst weiterentrichtet worden sind, würde dies lediglich eine Nachentrichtung insoweit ausschließen. Sollte hier jedoch auch die Eintragung im Anwaltsverzeichnis fortbestanden haben, so würde allein der Umstand, daß die Berufstätigkeit, wenn auch unfreiwillig, vorübergehend nicht mehr ausgeübt werden konnte, den Tatbestand des § 9 WGSVG nicht erfüllen.

Das LSG wird hiernach, um über die Anwendung des § 9 WGSVG entscheiden zu können, zunächst klären müssen, ob und ggf bis wann der Ehemann der Klägerin in das Verzeichnis der ungarischen Rechtsanwälte eingetragen war und Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet hat; dabei werden die Beweiserleichterungen des § 3 WGSVG zugunsten der Klägerin zu beachten sein (vgl dazu Urteil des Senats vom 17. Dezember 1980, SozR 5070 § 3 Nr 1). Sollte sich nicht mehr glaubhaft machen lassen, daß eine Eintragung in das Verzeichnis bis zum Beginn der Verfolgung am 6. April 1941 bestanden hat und Beiträge für das Jahr 1941 entrichtet worden sind, wird das LSG feststellen müssen, ob dafür Verfolgungsgründe ausschlaggebend waren. Schließlich wird das LSG, sofern die übrigen Voraussetzungen des § 9 WGSVG gegeben sind, noch prüfen müssen, ob die Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten beim Ehemann der Klägerin erfüllt ist. Dies ist nur der Fall, wenn seine in der ungarischen Anwaltsversicherung zurückgelegten Zeiten (oder etwaige rumänische Zeiten) nach § 15 FRG als Beitragszeiten angerechnet werden können. Da er nicht als Vertriebener anerkannt war (§ 1 Buchst a FRG), kann dies nur geschehen, wenn er den nach § 20 WGSVG gleichgestellten Personen zuzurechnen ist, wofür einiges spricht. Nach den in den Akten befindlichen Ablichtungen aus der Entschädigungsakte dürfte er dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben; die Beklagte hat in verwaltungsinternen Vermerken auch schon die Voraussetzungen für die Anerkennung dieser Zeiten als gegeben angesehen. Auch insoweit liegen aber bisher weder bindende Verwaltungsentscheidungen vor noch hat das LSG hierzu Feststellungen getroffen. Sie müssen ebenfalls nachgeholt werden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil überlassen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661929

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