Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitsdienst für weibliche Jugend

 

Orientierungssatz

Eine gesetzliche Dienstpflicht wurde durch Bestimmungen, wonach die Ableistung des Arbeitsdienstes Voraussetzung für die Aufnahme eines Studiums war, nicht begründet. Der von einer Versicherten von April bis Oktober 1936 geleistete Arbeitsdienst stellt daher keine Ersatzzeit iS des AVG § 28 Abs 1 Nr 1 dar (vgl BSG 1977-09-08 11 RA 22/77).

 

Normenkette

RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; BVG § 3 Abs. 1 Buchst. i Fassung: 1950-12-20, § 6 Fassung: 1964-02-21; RArbDweiblJDV Fassung: 1939-09-04; RArbDGÄndV Fassung: 1939-09-08

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 06.07.1977; Aktenzeichen L 13 An 95/76)

SG München (Entscheidung vom 29.01.1976; Aktenzeichen S 14 An 2078/74)

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 6. Juli 1977 wird aufgehoben.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 29. Januar 1976 wird zurückgewiesen.

Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die 1917 geborene Klägerin leistete vor Aufnahme ihres Studiums vom 1. April 1936 bis 1. Oktober 1936 Arbeitsdienst. Eine Anerkennung dieser Zeit als Ersatzzeit lehnte die Beklagte (anläßlich des Ersatzes einer Versicherungskarte) ab. Die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage hatte im ersten Rechtszuge keinen Erfolg. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, die streitige Zeit als Ersatzzeit anzuerkennen. Zur Begründung ist ausgeführt, die Klägerin habe mit der Ableistung des Arbeitsdienstes einer gesetzlichen Dienstpflicht genügt. Diese Dienstpflicht habe auf den Durchführungsbestimmungen vom 19. Januar 1935 (Reichsministerialamtsblatt vom 19. Januar 1935 S. 51) und dem Erlaß des Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 7. März 1935 (Reichsministerialamtsblatt vom 20. April 1935 S. 163) sowie § 1 des Reichsarbeitsdienst-Gesetzes vom 26. Juni 1935 (RGBl I 769) beruht. Daß die Möglichkeit bestanden habe, durch Abstand vom Studium der Arbeitsdienstpflicht zu entgehen, ändere nichts daran, daß durch obrigkeitliche Anordnung eine Zwangslage geschaffen worden sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen. Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Sie rügt eine Verletzung des § 28 Abs. 1 Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). In der streitigen Zeit sei der Arbeitsdienst für die weibliche Jugend noch kein "Reichsarbeitsdienst" (§ 3 Abs. 1 Buchst. i des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -) gewesen. Da es sich nur um einen mittelbaren Zwang gehandelt habe, von dem auch nicht die ganze Bevölkerung erfaßt worden sei, habe ferner keine gesetzliche Dienstpflicht bestanden.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Die auf "Anerkennung" der streitigen Zeit gerichtete Klage stellt eine verbundene Anfechtungs- und Verpflichtungsklage dar, mit der eine Verurteilung der Beklagten zur Vormerkung einer Ersatzzeit erstrebt wird (vgl. BSGE 42, 159). Die Klägerin hat jedoch nach dem festgestellten Sachverhalt keinen Anspruch auf eine solche Vormerkung.

Nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG sind Ersatzzeiten u.a. Zeiten eines militärähnlichen Dienstes im Sinne des § 3 BVG, der während eines Krieges oder aufgrund gesetzlicher Wehr- oder Dienstpflicht geleistet worden ist. Nach § 3 Abs. 1 Buchst. i BVG gilt als militärähnlicher Dienst u.a. der "Reichsarbeitsdienst". Reichsarbeitsdienst hat die Klägerin nicht geleistet.

Wie der Senat in seinem zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteil vom 8. September 1977 - 11 RA 22/77 - näher ausgeführt hat, wurde eine Arbeitsdienstpflicht für die weibliche Jugend erst durch die Verordnungen vom 4. September 1939 (RGBl I 1693) und vom 8. September 1939 (RGBl I 1744) begründet; bis dahin wurde der "Arbeitsdienst für die weibliche Jugend" als solcher und nicht als "Reichsarbeitsdienst" bezeichnet; erst § 1 Satz 1 der Verordnung vom 8. September 1939 bestimmte, daß auch die Angehörigen des Arbeitsdienstes für die weibliche Jugend zu den Angehörigen des Reichsarbeitsdienstes gehören. Da der Arbeitsdienst für die weibliche Jugend auch sonst in der Aufzählung des § 3 BVG nicht enthalten ist, war er kein militärähnlicher Dienst im Sinne dieser Vorschrift.

Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) hat allerdings aufgrund von § 6 BVG allgemein zugestimmt, daß bei einem nach dem 31. März 1936 geleisteten Arbeitsdienst für die weibliche Jugend das Vorliegen militärähnlichen Dienstes anerkannt wird (VV zu § 6 BVG, Buchst. c). Dies ist hier jedoch ohne Bedeutung, weil es jedenfalls an der weiteren Voraussetzung fehlt, daß der Dienst der Klägerin aufgrund gesetzlicher (Wehr- oder) Dienstpflicht geleistet worden ist. Wie der Senat in dem ebenfalls zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteil vom 8. September 1977 - 11 RA 100/76 - dargelegt hat, genügt es für die Annahme einer gesetzlichen Dienstpflicht nicht, daß die Ableistung des freiwilligen Arbeitsdienstes Voraussetzung für die Aufnahme eines Studiums war. Die gegenteilige Ansicht des LSG, wonach es ausreichen soll, daß durch einen "Eingriff von hoher Hand" eine "Zwangslage für einen größeren Personenkreis" geschaffen wurde, findet im Gesetz keine Stütze. Die Durchführungsbestimmungen vom 19. Januar 1935 und der Erlaß vom 7. März 1935 waren zwar generelle Regelungen, jedoch selbst aus damaliger Sicht keine Gesetze; die Ableistung des Arbeitsdienstes konnte hiernach von Jugendlichen, die studieren wollten, nicht unmittelbar verlangt und erzwungen werden. Es handelte sich um einen mittelbaren Zwang. Dafür, daß bei der Ersatzzeitenregelung auch die Fälle eines nur mittelbaren Zwanges erfaßt werden sollten, bietet jedoch weder § 3 BVG noch § 28 AVG einen Anhalt.

Der vorstehend vertretenen Auffassung hat sich inzwischen der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in den (zur Veröffentlichung vorgesehenen) Urteilen 1 RA 13/77 und 15/77 vom 18. Januar 1978 angeschlossen. Er hat dabei (in 1 RA 13/77) zutreffend darauf hingewiesen, daß auch der durch § 1 Abs. 2 des RAD-Gesetzes vom 26. Juni 1935 eingeführten allgemeinen Pflicht für "alle jungen Deutschen beiderlei Geschlechts", im Reichsarbeitsdienst zu dienen, keine entscheidende Bedeutung zukommen kann; diese Norm habe lediglich einen allgemeinen Grundsatz beinhaltet; das RAD-Gesetz habe in seinem § 9 die Arbeitsdienstpflicht der weiblichen Jugend einer besonderen - erst im September 1939 eingeführten - Regelung vorbehalten.

§ 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG läßt sich im Falle der Klägerin auch nicht entsprechend anwenden. Da die Klägerin im September 1939 das 19. Lebensjahr bereits vollendet hatte, ist es nicht wahrscheinlich, daß sie sich durch die Ableistung des Arbeitsdienstes für die weibliche Jugend eine spätere Heranziehung zum Reichsarbeitsdienst erspart hat. Die vom 1. und 12. Senat des BSG für solche Fälle beim Arbeitsdienst der männlichen Jugend entwickelten Grundsätze (SozR Nr. 41 zu § 1251 RVO; SozR 2200 § 1251 Nrn. 3, 19) lassen sich deshalb nicht auf den vorliegenden Fall übertragen (vgl. Urteil vom 8. September 1977 - 11 RA 22/77 -).

Nach alledem war das angefochtene Urteil unter Zurückweisung der Berufung der Klägerin mit der sich aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ergebenden Kostenfolge aufzuheben (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651493

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