Leitsatz (amtlich)

RVO § 589 Abs 2 ist nicht anwendbar, wenn zu entscheiden ist, ob der Entschluß des Versicherten zum Freitod durch eine der in dieser Vorschrift genannten Berufskrankheiten rechtlich wesentlich verursacht ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Entschädigungsanspruch entfällt nicht nur bei vorsätzlicher Herbeiführung des Unfalls, sondern auch dann, wenn der Verletzte die Auswirkungen des Unfalls durch sein vorsätzliches Handeln ungünstig beeinflußt. Hierunter sind nicht nur die vorsätzliche Verschlimmerung primärer Unfallfolgen, sondern auch die Schaffung neuer Gesundheitsschädigungen und der Freitod als äußerste Erscheinung einer Schädigung zu verstehen.

2. Der Freitod ist nicht erst dann durch die Folgen des Unfalls oder der Berufskrankheit verursacht, wenn er in einem durch diese Folgen die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand der Unzurechnungsfähigkeit begangen worden, sondern auch dann schon, wenn die Fähigkeit der Willensbildung durch die Auswirkung des Unfalls oder der Berufskrankheit wesentlich beeinträchtigt war (vergleiche BSG 1962-12-18 2 RU 74/57 = BSGE 18, 163, 165). Kann aber die Feststellung, daß die Fähigkeit zur Willensbildung den Versicherten im Zeitpunkt des Freitodes infolge der Berufskrankheit (hier Silikose) rechtlich wesentliche beeinflußt war, nicht getroffen werden, so geht die Nichtfeststellbarkeit des wesentlichen Ursachenzusammenhanges zwischen Silikose und Freitod des Versicherten zu Lasten der Anspruchsberechtigten, da sich ihr Anspruch auf das Vorliegen dieses Kausalzusammenhanges stützt. Die Vermutung des RVO § 589 Abs 2 S 1 gilt in diesem Fall nicht; denn sie basiert auf der Erfahrung, daß einer der dort genannten Berufskrankheiten in nicht wenigen Fällen eine rechtlich wesentliche Ursache für den Tod des Versicherten ist. Zu der Frage, ob eine der hier in Betracht kommenden Berufskrankheiten die Fähigkeit zur Willensbildung des Versicherten im Zeitpunkt des Entschlusses zum Freitod wesentlich beeinträchtigt, bestehen nämlich entsprechende Erfahrungen nicht.

 

Normenkette

RVO § 589 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1963-04-30, S. 2 Fassung: 1963-04-30, § 553 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 30. Juli 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten des Verfahrens nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Sterbegeld, Überbrückungsbeihilfe und Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zustehen.

Der Ehemann der Klägerin bezog von der Beklagten wegen einer Quarzstaublungenerkrankung eine Verletztenrente von zuletzt 80 v. H. der Vollrente. Er wurde seit dem 30. August 1966 wegen eines Herzinfarkts stationär behandelt und starb am 20. September 1966 durch Sturz aus dem Fenster seines Krankenzimmers.

Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 2. Dezember 1966 eine einmalige Beihilfe, gleichzeitig lehnte sie die Gewährung der Witwenrente ab, weil der Tod des Ehemannes der Klägerin offenkundig nicht mit der Berufskrankheit in ursächlichem Zusammenhang gestanden habe.

Das Sozialgericht (SG) holte u. a. Gutachten der Ärzte Prof. Dr. P, Prof. Dr. W und Prof. Dr. V ein. Mit Urteil vom 27. November 1968 hat es die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 30. Juli 1970 die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, unmittelbare Todesursachen seien die durch den Fenstersturz hervorgerufenen Verletzungen. Es lasse sich nicht feststellen, welche Gründe zu dem Fenstersturz geführt hätten. Insbesondere sei nicht aufzuklären, ob es sich um einen Unglücksfall gehandelt habe oder ob der Ehemann der Klägerin sich in selbstmörderischer Absicht aus dem Fenster gestürzt habe. In beiden Fällen sei auch ein mittelbarer Zusammenhang des Todes mit der Berufskrankheit nicht wahrscheinlich. Zwar sei es möglich, daß die silikosebedingten Beschwerden für den Entschluß zum Freitod mitbestimmend gewesen seien oder einen zum Unfall führenden Schwindel ausgelöst hätten. Das sei aber nicht wahrscheinlich, weil es näher liege, die durch den Herzinfarkt verursachten Beschwerden als Ursache heranzuziehen. Nach dem überzeugenden Gutachten der Ärzte Prof. Dr. W und Prof. Dr. V sei ein ursächlicher oder mitursächlicher Einfluß der Staublungenerkrankung auf das tatsächlich zum Tode führende Geschehen medizinisch nicht zu begründen. Der Anspruch der Klägerin lasse sich auch nicht aus § 589 Abs. 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) herleiten. Die in dieser Vorschrift enthaltene Vermutung des ursächlichen Zusammenhangs gelte nach dem Sinn und der Entstehungsgeschichte der Vorschrift nicht für den Fall des Freitodes, weil die in dieser Vorschrift enthaltene Widerlegungsmöglichkeit bei Offenkundigkeit immer ausgeschlossen sei, wenn subjektive Beweggründe zum Tode geführt hätten. Bei der ohnehin nicht wahrscheinlichen Möglichkeit eines Unglücksfalles sei die ursächliche Verknüpfung mit der Silikose eine nur ganz entfernt liegende, lediglich theoretische Möglichkeit.

Die Klägerin hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie trägt vor, die Vermutung des § 589 Abs. 2 Satz 1 RVO sei auch auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Es sei nicht offenkundig, daß der Tod ihres Ehemannes mit der Berufskrankheit nicht in ursächlichem Zusammenhang gestanden habe. Es sei vielmehr wahrscheinlich, daß ihr Ehemann infolge silikosebedingten Kreislaufversagens aus dem Fenster gestürzt sei. Selbst wenn es sich aber um einen Freitod gehandelt haben sollte, so sei der Entschluß doch auf die Verzweiflung über die silikosebedingte Atemnot zurückzuführen.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. Dezember 1968 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin das Sterbegeld, die Überbrückungsbeihilfe und die Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Klägerin sei unbegründet.

II

Die zulässige Revision der Klägerin ist nicht begründet.

Nach § 589 Abs. 1 RVO sind die von der Klägerin begehrten Leistungen zu gewähren, wenn der Tod des Versicherten durch einen Arbeitsunfall zumindest rechtlich wesentlich verursacht ist. Da nach § 551 Abs. 1 RVO auch eine Berufskrankheit als Arbeitsunfall gilt, stehen der Klägerin die begehrten Leistungen auch dann zu, wenn der Tod ihres Ehemannes zumindest rechtlich wesentlich durch die Silikose verursacht worden ist. Das LSG hat allerdings unangegriffen festgestellt, daß nicht die Silikose, sondern die durch den Fenstersturz herbeigeführten Verletzungen unmittelbare Ursachen des Todes gewesen sind. Das schließt jedoch nicht aus, daß die Silikose - wenn auch nur mittelbar - rechtlich wesentlich zum Tode des Versicherten beigetragen hat. Das LSG hat es jedoch als nicht feststellbar erachtet, ob es sich bei dem Fenstersturz um einen Unglücksfall oder um Freitod gehandelt hat, wobei es jedoch meinte, die Umstände sprächen mehr für Freitod.

Im Falle des Freitodes würde der Klägerin der geltend gemachte Anspruch nicht zustehen. Nach § 553 RVO haben die Hinterbliebenen nämlich keinen Anspruch, wenn der Verletzte den Arbeitsunfall absichtlich verursacht hat. Der Entschädigungsanspruch entfällt nicht nur bei vorsätzlicher Herbeiführung des Unfalls, sondern auch dann, wenn der Verletzte die Auswirkungen des Unfalls durch sein vorsätzliches Handeln ungünstig beeinflußt. Hierunter sind nicht nur die vorsätzliche Verschlimmerung primärer Unfallfolgen, sondern auch die Schaffung neuer Gesundheitsschädigungen und der Freitod als äußerste Erscheinung einer Schädigung zu verstehen. Der Freitod ist nicht erst dann durch die Folgen des Unfalls oder der Berufskrankheit verursacht, wenn er in einem durch diese Folgen die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand der Unzurechnungsfähigkeit begangen worden ist, sondern auch schon dann, wenn die Fähigkeit der Willensbildung durch die Auswirkungen des Unfalls oder der Berufskrankheit wesentlich beeinträchtigt war (BSG 18, 163, 165). Diese noch zum alten Recht erlassenen Grundsätze müssen auch für § 553 RVO gelten, allerdings mit der Maßgabe, daß der Begriff des Vorsatzes durch den Begriff der Absicht zu ersetzen ist. Da hier die Unzurechnungsfähigkeit des Versicherten im Zeitpunkt des Freitodes ausscheidet, weil hierfür keinerlei Anhaltspunkte vorliegen und sie daher auch nicht festgestellt worden ist, bedarf es nur der Prüfung, ob die Folgen der Silikose die Fähigkeit zur Willensbildung des Versicherten im Zeitpunkt des Freitodes rechtlich wesentlich beeinflußt haben. Das LSG hat zwar die "Möglichkeit", nicht aber die "Wahrscheinlichkeit" eingeräumt, daß die silikosebedingten Beschwerden für den Entschluß zum Freitod mitbestimmend waren und hat daher diese Feststellung nicht geglaubt treffen zu können. Diese Nichtfeststellbarkeit des Kausalzusammenhangs geht, da es sich hierbei um eine Voraussetzung des geltend gemachten Anspruchs handelt, nach allgemeinen Beweislastregeln zu Lasten der Klägerin, da sie ihren Anspruch - u. a. - hierauf stützt.

Eine Ausnahme gilt allerdings im Fall des § 589 Abs. 2 RVO. Danach wird vermutet, daß der Tod eines Versicherten, der an einer der in dieser Vorschrift genannten Berufskrankheiten mit einer MdE um 50 % oder mehr gelitten hat, durch diese Berufskrankheit verursacht worden ist. Nach Satz 2 dieser Vorschrift ist jedoch ein beschränkter Gegenbeweis möglich; im Falle der Offenkundigkeit des Nichtbestehens des ursächlichen Zusammenhangs gilt diese Vermutung nämlich nicht. Dem LSG ist, wenn auch mit anderer Begründung im Ergebnis darin zuzustimmen, daß § 589 Abs. 2 nicht bei der Entscheidung anzuwenden ist, ob die Folgen der Silikose die Fähigkeit zur Willensbildung im Zeitpunkt des Entschlusses zum Freitod wesentlich beeinträchtigt hat. Man kann davon ausgehen, daß der Gesetzgeber die Vermutung des § 589 Abs. 2 Satz 1 aufgestellt hat, weil erfahrungsgemäß eine der dort genannten Berufskrankheiten mit einer MdE von 50 % oder mehr in nicht wenigen Fällen zumindest eine rechtlich wesentliche Ursache für den Tod des Versicherten ist. Anders aber liegen die Verhältnisse bei der Frage, ob die Folge einer dieser Berufskrankheiten die Fähigkeit zur Willensbildung des Versicherten im Zeitpunkt des Entschlusses zum Freitod wesentlich beeinträchtigt hat; insofern gibt es eine vergleichbare Erfahrung nicht. Hätte der Gesetzgeber bei Erlaß dieser Vorschrift diesen Fall vor Augen gehabt, würde er nach Ansicht des Senats die Vermutung des § 589 Abs. 2 Satz 1 RVO für diesen Fall nicht ausgesprochen haben. § 589 Abs. 2 RVO muß daher einschränkend dahin ausgelegt werden, daß er nicht für die Entscheidung dieser Frage gilt. Da § 589 Abs. 2 somit hier nicht anwendbar ist, die Beantwortung dieser Frage sich vielmehr nach allgemeinen Grundsätzen richtet, bestehen keine Bedenken gegen die Feststellung des LSG, daß das Vorliegen der Kausalität zwischen Silikose und Freitod nicht festgestellt werden kann mit der Folge, daß hier die allgemeinen Beweislastregeln Anwendung finden. Danach aber geht, wie bereits ausgeführt, die Nichtfeststellbarkeit des wesentlichen Ursachenzusammenhanges zwischen Silikose und Freitod des Versicherten zu Lasten der Klägerin, da sich ihr Anspruch auf das Vorliegen dieses Kausalzusammenhangs stützt.

Rechtlich anders liegen die Verhältnisse, wenn davon ausgegangen wird, daß der Versicherte nicht durch Freitod, sondern durch Unglücksfall zu Tode gekommen ist. Für diesen Fall ist § 589 Abs. 2 RVO anzuwenden. Es besteht also nach Satz 1 dieser Vorschrift die Vermutung, daß der Tod des Versicherten durch die Silikose wesentlich verursacht worden ist. Allerdings gilt, wie bereits ausgeführt, nach Satz 2 aaO diese Vermutung nicht, wenn es offenkundig ist, daß der Tod durch die Silikose nicht wesentlich beeinflußt worden ist. Der Senat hat hierzu in ständiger Rechtsprechung bereits entschieden, daß dies dann anzunehmen ist, wenn die Möglichkeit, daß die Silikose den Tod des Versicherten wesentlich beeinflußt hat, eine so entfernte ist, daß sie mehr oder weniger als nur theoretisch angesehen werden muß. Das LSG hat dies angenommen, weil es als die "eigentliche" Ursache für den Entschluß des Versicherten, an das Fenster zu treten, und für den Sturz aus dem Fenster die Folgen des Herzinfarkts ansieht. Der Vortrag der Klägerin, die silikosebedingten Atembeschwerden ihres Ehemannes hätten wahrscheinlich dazu geführt, daß er sich aus dem Fenster gebeugt und dabei das Gleichgewicht verloren habe, stellt keine substantiierte, mit Beweismitteln versehene Rüge gegen diese Feststellung dar, sondern hat lediglich die Wiedergabe ihrer Ansicht zum Inhalt, daß sie diesen ursächlichen Zusammenhang zwischen Silikose und dem Herantreten an das Fenster bzw. dem Sturz aus dem Fenster für wahrscheinlich hält. Dieser Vortrag ist auch im übrigen nicht geeignet, die Ansicht des LSG zu erschüttern, da auch sonstige rechtliche Bedenken hiergegen nicht zu erheben sind. Auch für diese Alternative, daß es sich bei dem Tod des Versicherten um einen Unglücksfall gehandelt hat, besteht daher der geltend gemachte Anspruch der Klägerin nicht.

Der Senat mußte daher die Revision der Klägerin zurückweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1668754

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