Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfolgter iS des BEG. Auswanderung vor dem 1.10.53 aus Rumänien nach Israel. Anrechnung der pflichtversicherten Beschäftigung in Rumänien als Versicherungszeiten nach FRG

 

Orientierungssatz

1. Die Zugehörigkeit eines Verfolgten zum deutschen Sprach- und Kulturkreis ergibt sich im Regelfall aus dem zumindest überwiegenden Gebrauch des Deutschen im Bereich des persönlichen Lebens (vgl BSG 1983-09-08 5b RJ 70/82 = SozR 5070 § 20 Nr 5).

2. Bei Verlassen des Vertreibungsgebiets vor dem 1.10.1953 ist der ursächliche Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit des Versicherten zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und dem Verlassen des Vertreibungsgebiets zu vermuten; die Vermutung ist erst dann widerlegt, wenn eindeutige Anhaltspunkte dafür bestehen, daß das Vertreibungsgebiet aus politischen Gründen oder wegen krimineller Delikte verlassen worden ist (vgl BSG vom 1977-10-20 11 RA 88/76 = SozR 5070 § 20 Nr 2).

 

Normenkette

FRG § 1 Buchst a Fassung: 1960-02-25, § 15 Fassung: 1960-02-25; BVFG § 1 Abs 2 Nr 3 Fassung: 1971-09-03; WGSVG § 19 Abs 2 Buchst a Halbs 2 Fassung: 1977-06-27, § 20 S 2 Fassung: 1977-06-27

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 19.11.1982; Aktenzeichen L 8 J 79/82)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 18.03.1982; Aktenzeichen S 21 (10) J 214/79)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) dem Kläger ua eine Zeit der pflichtversicherten Beschäftigung in Rumänien von 1934 bis 1938 vorzumerken hat.

Der 1899 geborene, aus Czernowitz in Rumänien stammende Kläger, anerkannter Verfolgter iS des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG), ist im Jahre 1951 aus seiner Heimat nach Israel ausgewandert.

Am 21. Januar 1977 beantragte er bei der Beklagten die Herstellung von Versicherungsunterlagen. Mit dem streitigen Bescheid vom 31. August 1978 lehnte dies die Beklagte ab und führte aus, die Zugehörigkeit des Klägers zu dem vom Fremdrentengesetz (FRG) erfaßten Personenkreis sei nicht nachgewiesen. § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) könne nicht angewendet werden, weil der Kläger nicht glaubhaft gemacht habe, daß er in seiner Heimat dem deutschen Sprachkreis angehört habe.

Während der Kläger mit der hiergegen erhobenen Klage keinen Erfolg hatte, hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte auf Berufung des Klägers in dem angefochtenen Urteil vom 19. November 1982 verurteilt, Versicherungsunterlagen für 190 Pflichtbeitragswochen im Zeitraum von 1934 bis 1938 wiederherzustellen. In der Begründung heißt es, der Kläger sei nach § 20 WGSVG einem nach FRG anerkannten Vertriebenen gleichzustellen. Für die hiernach erforderliche Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis sei der Gebrauch der deutschen Sprache im persönlichen Bereich von ausschlaggebender Bedeutung. Bei dem Kläger sei der überwiegende Gebrauch der deutschen Sprache im Bereich des persönlichen Lebens zur Zeit des Verlassens des Vertreibungsgebiets - Rumänien - glaubhaft; er habe sich außerdem dem deutschen Kulturkreis zugehörig gefühlt. Was den nach § 20 WGSVG außerdem erforderlichen Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkreis und dem Verlassen des Vertreibungsgebiets angehe, so sei mit dem Gesetzgeber des BEG-Schlußgesetzes vom 14. September 1965 davon auszugehen, daß bei der Aussiedlung Verfolgter vor dem 1. Oktober 1953 der Zusammenhang mit dem Vertreibungsschicksal der Deutschen während und nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reichs unwiderlegbar zu unterstellen sei (Hinweis auf BGH in RzW 1974, 39 und auf das Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- vom 16. Februar 1982 - 12 RK 56/80). Auf einen konkreten Verfolgungsdruck komme es daher nicht an.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte die unrichtige Anwendung des § 20 WGSVG und führt aus, die Wahl des staatlichen jüdischen Gymnasiums in Czernowitz durch den jiddisch sprechenden Kläger zeige ebenso wie sein Votum bei der Volkszählung 1930 sein Bekenntnis zur jüdischen Nationalität, also zu einer anerkannten nichtdeutschen nationalen Minderheit. Ferner fehle es an einem "Nötigungszusammenhang" zwischen Auswanderung und Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis. Die Beibehaltung des Vertriebenenbegriffs in § 20 WGSVG zeige, daß hier anders als in den §§ 150 ff BEG auf einen Kausalzusammenhang zwischen Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und der Auswanderung nicht verzichtet werden könne.

Die Beklagte beantragt zuletzt, die Sache auszusetzen und die entscheidenden Fragen dem Großen Senat des BSG, hilfsweise dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes vorzulegen, hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er weist daraufhin, daß er im persönlichen Leben überwiegend die deutsche Sprache verwendet habe. Im übrigen sei der Zusammenhang zwischen Auswanderung und Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis unwiderleglich zu vermuten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Nach § 11 Abs 2 der Verordnung über die Feststellung von Leistungen aus den gesetzlichen Rentenversicherungen bei verlorenen, zerstörten, unbrauchbar gewordenen oder nicht mehr erreichbaren Versicherungsunterlagen (Versicherungsunterlagen-Verordnung -VuVO) vom 3. März 1960 (BGBl I 137) können außerhalb eines Leistungsfeststellungsverfahrens nach Maßgabe der Vorschriften des FRG auch Versicherungsunterlagen für Zeiten hergestellt werden, die nach dem FRG anrechenbar sind. Da der Kläger weder Deutscher noch früherer Deutscher iS des Art 116 Abs 1 und 2 des Grundgesetzes (GG) noch heimatloser Ausländer ist, könnte er die in Rumänien zurückgelegten Versicherungszeiten aufgrund von §§ 15, 1 Buchst a FRG grundsätzlich nur dann wie bundesdeutsche Versicherungszeiten berücksichtigt erhalten, wenn er in der Bundesrepublik als vertriebener deutscher Volkszugehöriger iS des § 1 Abs 2 Nr 3 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) anerkannt wäre. Das ist er unstreitig nicht: Er hat sich in seiner rumänischen Heimat entgegen § 6 BVFG nicht durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur "zum deutschen Volkstum bekannt".

Indessen stehen nach § 20 Satz 1 WGSVG bei Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen iS des BVFG Verfolgte gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, genügt es danach, wenn der Verfolgte im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebiets dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hat (§ 20 Satz 2 iVm § 19 Abs 2 Buchst a Halbs 2 WGSVG).

Das LSG hat im angefochtenen Urteil den Begriff der Zugehörigkeit eines Verfolgten zum deutschen Sprach- und Kulturkreis nicht verkannt. Es ist mit der Rechtsprechung des BSG davon ausgegangen, daß sich diese Zugehörigkeit im Regelfall aus dem zumindest überwiegenden Gebrauch des Deutschen im Bereich des persönlichen Lebens ergibt (vgl zB BSGE 50, 279, 281 f = SozR 5070 § 20 Nr 3 mwN; vgl aus jüngster Zeit auch die Entscheidung des BSG vom 8. September 1983 - 5b RJ 70/82 -). Das LSG hat im angefochtenen Urteil weiter festgestellt, daß ein überwiegender Gebrauch der deutschen Sprache für den Kläger im Bereich des persönlichen Lebens zur Zeit des Verlassens des Vertreibungsgebiets glaubhaft iS von § 3 WGSVG sei; darüber hinaus habe sich der Kläger auch dem deutschen Sprach- und Kulturkreis zugehörig gefühlt. An diese tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ist der Senat nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden. Die Beklagte hat diese tatsächlichen Feststellungen nicht gem § 164 Abs 2 Satz 3 SGG frist- und formgerecht mit begründeten Rügen der Verletzung von Verfahrensrecht angegriffen. Sie hat sich vielmehr darauf beschränkt, die tatsächlichen Umstände des Falles anders als das LSG zu würdigen, so wenn sie ausführt, mutmaßlich habe der Kläger die Volkssprache Jiddisch in einer Familie verwendet, was im Zusammenhang mit dem Besuch des jüdischen Gymnasiums in Czernowitz und dem Votum für die jüdische Nationalität im Jahre 1930 für die Zugehörigkeit zum jüdischen, nicht zum deutschen Kulturkreis spreche. Eine solche vom angefochtenen Urteil abweichende Tatsachen- und Beweiswürdigung des Revisionsklägers ist für das BSG, das als Revisionsgericht Tatsachen nicht selbst feststellen kann, unbeachtlich.

Indessen hängt der Anspruch des Klägers auf Vormerkung der von ihm in Rumänien zurückgelegten Versicherungszeiten weiter davon ab, daß ein Zusammenhang mit seiner Deutschsprachigkeit und dem Verlassen des rumänischen Vertreibungsgebiets besteht: § 20 Satz 1 WGSVG begünstigt allein den "vertriebenen Verfolgten", der "lediglich deswegen nicht" nach dem BVFG als Vertriebener anerkannt ist, weil er sich nicht zum deutschen Kulturkreis bekannt hat; "vertrieben" iS des BVFG müssen mithin die in § 20 aaO genannten Verfolgten sehr wohl sein. Es ließe sich daher nicht rechtfertigen, dem Verfolgten die rentenrechtlichen Vorteile der Berücksichtigung von außerhalb der Bundesrepublik in Vertreibungsgebieten zurückgelegten Versicherungszeiten selbst dann zugute kommen zu lassen, wenn er diese Gebiete ohne Zusammenhang mit seiner Deutschsprachigkeit, dh aus anderen persönlichen oder politischen Gründen verlassen hätte (vgl dazu die Entscheidungen des 11. Senats des BSG vom 20. Oktober 1977 in SozR 5070 § 20 Nr 2 und vom 5. November 1980 in BSGE 50, 279, 282 = SozR 5070 § 20 Nr 3).

Die Rechtsprechung des BSG hat die Frage, welche Anforderungen an die Glaubhaftmachung (§ 3 WGSVG) eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Zugehörigkeit des Verfolgten zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und dem Verlassen des Vertreibungsgebiets zu stellen sind, unterschiedlich beantwortet, und zwar je nachdem, ob der Verfolgte seine Heimat vor oder erst ab dem 1. Oktober 1953 verlassen hat. Für Fälle der vorliegenden Art - Aussiedlung des Verfolgten vor dem 1. Oktober 1953 - hat der 11. Senat dem Regelungszusammenhang von § 20 WGSVG und § 150 BEG idF des BEG- Schlußgesetzes vom 14. September 1965 entnommen, daß ein solcher ursächlicher Zusammenhang zu vermuten sei; § 150 BEG nF habe auf die Feststellung einer solchen ursächlichen Verknüpfung und auf eine Verweisung auf das BVFG verzichtet; erst ab 1. Oktober 1953 sei davon auszugehen, daß ein Verlassen des Vertreibungsgebiets der in Frage stehenden Art "in keinem Zusammenhang mehr mit der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis gestanden habe" (Hinweis auf BT-Drucks IV/3423 S 13 und 14; vgl BSGE 5O, 279, 283). Die Vermutung ist allenfalls erst dann widerlegt, wenn eindeutige Anhaltspunkte dafür bestehen, daß das Vertreibungsgebiet aus politischen Gründen oder wegen krimineller Delikte verlassen worden ist (SozR 5070 § 20 Nr 2 unter Hinweis auf BVerwG in Buchholz, 412.3 § 1 BVFG Nr 20). Der 12. Senat des BSG hat in der Entscheidung vom 16. Februar 1982 (SozR 5070 § 20 Nr 4) dem letztgenannten Urteil des 11. Senats darüber hinaus entnommen, daß bei Verlassen des Vertreibungsgebiets vor dem 1. Oktober 1953 ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Auswanderung und Zugehörigkeit des Verfolgten zum deutschen Sprach- und Kulturkreis "unwiderleglich" zu vermuten sei.

Es kann dahinstehen, wie weit sich die Rechtsprechung des 11. und des 12. Senats in Übereinstimmung bringen lassen. Beide Senate gehen jedenfalls für Fälle der vorliegenden Art - mindestens - von einer Vermutung des ursächlichen Zusammenhangs aus. Ein solcher könnte nur verneint werden, wenn eindeutige Anhaltspunkte bestünden, daß der Kläger seine Heimat aus anderen Gründen als wegen seiner Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis verlassen habe. Die Annahme der Beklagten, es sei erforderlich, einen "Nötigungszusammenhang" der beschriebenen Art herzustellen, widerspricht hiernach der gesicherten Rechtsprechung des BSG. Solches ist selbst der - der Beklagten möglicherweise günstigeren - Rechtsprechung des 11. Senats aaO nicht zu entnehmen. Der Senat sieht keinen Anlaß, von der Rechtsprechung des BSG abzuweichen und die Sache dem Großen Senat des BSG gem § 42 SGG oder dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes zur Entscheidung vorzulegen (im wesentlichen übereinstimmend auch die Urteile des 5b-Senats vom 8. September 1983 - 5b RJ 8/83 - und des 4. Senats vom 22. September 1983 - 4 RJ 51/82 -).

Anhaltspunkte dafür, daß "andere Gründe" als die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis bestimmend gewesen seien, daß der Kläger im Jahre 1951 aus seiner rumänischen Heimat nach Israel ausgewandert ist, bestehen nicht. Zwar ist das LSG auf diesen Punkt ausdrücklich nicht eingegangen, weil es von einer unwiderleglichen Vermutung des ursächlichen Zusammenhangs ausgegangen ist. Indessen hat es den Sachverhalt schon im Tatbestand seines Urteil umfassend dargestellt. Ihm läßt sich nichts in der Richtung entnehmen, daß sich der Kläger etwa aus politischen Gründen oder wegen - drohender - strafrechtlicher Verfolgung oder ähnlichem zur Auswanderung nach Israel entschlossen hätte. Auch die Beklagte hat in dieser Richtung nichts behauptet. Sie hält das angefochtene Urteil - und die ihr zugrunde liegende Rechtsprechung des BSG - deswegen für unzutreffend, weil in Fällen der Auswanderung von Verfolgten auch vor dem 1. Oktober 1953 für die Anwendung des § 20 WGSVG ein ursächlicher Zusammenhang der oben beschriebenen Art in jedem Einzelfall glaubhaft gemacht werden müsse und keinesfalls vermutet werden dürfe.

Liegen aber im Fall des Klägers keine evidenten Umstände zu Tage, die dazu nötigten, von der Vermutung des Kausalzusammenhangs abzurücken, so hat das LSG die Beklagte zu Recht verurteilt, die in Rumänien zurückgelegten Pflichtversicherungszeiten als berücksichtigungsfähige Versicherungszeiten vorzumerken. Die Revision der Beklagten war als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660990

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