Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzung der Gewährung von Hilfsmitteln

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Anspruch auf Zuschuß nach § 187 Nr 3 RVO iVm der Satzung eines Trägers der gesetzlichen Krankenversicherung zu einer - zusätzlichen - Schwimmprothese besteht nicht, wenn dem voll arbeitsfähigen Behinderten die ärztlich empfohlene Ausübung des Schwimmsports auch ohne diese Prothese zumutbar ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Entsprechend der gewandelten Bedeutung der gesetzlichen Krankenversicherung hat die Versorgung mit Hilfsmitteln heute nicht mehr den ausschließlichen Zweck, die Arbeitsfähigkeit herzustellen oder zu erhalten. Dem Sinn und Zweck des RVO § 187 Nr 3 ist bereits dann genügt, wenn mit dem Hilfsmittel die Fähigkeit, am allgemeinen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, hergestellt oder erhalten wird.

2. Das Bundessozialgericht läßt die Frage unentschieden, ob ein Anspruch nach RVO § 187 Nr 3 auch dann begründet sein kann, wenn das Hilfsmittel bei bestehender Arbeitsfähigkeit gebraucht wird, um dem Behinderten einen bestimmten Bereich des gesellschaftlichen Lebens zu eröffnen.

3. In dem entschiedenen Fall war dem Behinderten der Schwimmsport auch ohne eine spezielle Badeprothese möglich; ein Anspruch gemäß RVO § 187 Nr 3 war im Hinblick auf RVO § 182 Abs 2 zu verneinen.

 

Normenkette

RVO § 187 Nr. 3, § 182 Abs. 2

 

Tenor

Die Sprungrevision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15. Juni 1972 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der seit dem Kindesalter links unterschenkelamputierte Kläger begehrt von der beklagten Krankenkasse die Gewährung eines Zuschusses zu der Anschaffung einer zusätzlichen Prothese, einer Schwimmprothese (auch "Badeprothese" und "wasserfeste Gehhilfe" genannt). Nach der Verordnung seines Hausarztes benötigt er eine solche Prothese dringend zur Ausübung des Schwimmsports: Das Schwimmen wirke sich auf die bei ihm vorliegende Gefügestörung der Wirbelsäule günstig aus. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die Schwimmprothese erleichtere zwar das Schwimmen, sie sei aber nicht nötig im Sinne des § 187 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und des darauf beruhenden § 14 ihrer Satzung (Bescheid vom 14. April 1971 und Widerspruchsbescheid vom 26. April 1971). Das Sozialgericht (SG) hat sich nach Einholung eines Befundberichtes des Hausarztes dieser Auffassung angeschlossen: Die Schwimmprothese sei dem Kläger bei der Ausübung des Schwimmsportes, den er aus prophylaktischen Gründen betreiben solle, dienlich; er benötigt sie aber nicht zur Herstellung oder Erhaltung seiner Arbeitsfähigkeit. Die Berufung gegen dieses Urteil hat es zugelassen (Urteil vom 15. Juni 1972).

Der Kläger hat mit Zustimmung der Beklagten Sprungrevision eingelegt mit dem Antrag,

unter Aufhebung des Urteils des SG und des ablehnenden Bescheids die Beklagte zu verurteilen, ihm einen Zuschuß zu der Beschaffung einer Schwimmprothese in versicherungsbedingungsgemäßer Höhe zu gewähren.

Hilfsweise beantragt er die

Zurückverweisung der Sache an das SG.

Er trägt vor: Das SG habe die §§ 103 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt, indem es ohne weitere Beweiserhebung aus den Angaben des Hausarztes geschlossen habe, die Schwimmprothese sei zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit des Klägers nicht nötig. Abgesehen davon sei im Hinblick auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats nicht mehr zu verlangen, daß das streitige Hilfsmittel der Wiederherstellung oder der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit diene (Hinweis auf BSG 30, 151, 154; 33, 263). Der Senat habe es für ausreichend erachtet, daß durch das Hilfsmittel die Fähigkeit, am allgemeinen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, hergestellt oder erhalten werde. Die dadurch eingeleitete sachgerechte Auslegung des § 187 Nr. 3 RVO müsse entsprechend den Grundsätzen moderner Rehabilitation und entsprechend den geänderten Lebensformen fortentwickelt werden. Dem Zweck und Sinn dieser Vorschrift sei bereits dann genügt, wenn es - wie hier - dem Amputierten mit dem Hilfsmittel möglich sei, sich leichter und angenehmer sowie unauffälliger im Ablauf des täglichen Lebens zu bewegen und wenn dadurch gleichzeitig eine gefahrlose uneingeschränkte Teilnahme an Maßnahmen eröffnet werde, die anerkannterweise geeignet seien, vorhandene Amputationsbeschwerden zu beseitigen und eine Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes herbeizuführen.

Die Beklagte beantragt,

die Sprungrevision zurückzuweisen.

Es könne nicht in den Aufgabenbereich der sozialen Krankenversicherung fallen, allgemein für die Ausübung gesundheitsfördernder Sportarten erleichternde Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen oder zu bezuschussen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die - zulässige (vgl. § 161 SGG) - Sprungrevision ist nicht begründet.

Die Feststellung des SG, die Schwimmprothese sei nicht nötig, um die ärztlich empfohlene Ausübung des Schwimmsports zu ermöglichen und damit die Arbeitsfähigkeit des Klägers zu erhalten, ist für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG). Die von dem Kläger dagegen vorgebrachten Revisionsgründe - Verletzung der §§ 103 und 128 SGG - greifen nicht durch. Das SG konnte ohne Überschreitung des Rechts der freien Beweiswürdigung die gerügte Feststellung treffen; entgegen seinem Vortrag in der Revisionsbegründung hat der Kläger selbst sowohl im Verwaltungsverfahren als auch im Verfahren vor dem SG eingeräumt, daß er auch ohne die streitige Prothese schwimmen könne und daß die Prothese die Ausübung des Schwimmsports nur erleichtere, angenehmer und gefahrloser mache. Da auch die vorliegenden ärztlichen Äußerungen nichts Gegenteiliges enthalten, brauchte sich das SG nicht aufgrund seiner Amtsermittlungspflicht gedrängt zu fühlen, weitere Ermittlungen anzustellen. Selbst wenn man also davon ausgehen wollte, daß der Schwimmsport für die Erhaltung der Arbeitsfähigkeit nötig sei, ist nicht dargetan, daß hierfür die besondere Prothese erforderlich ist.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf einen Zuschuß zu einer Schwimmprothese, denn dieses Hilfsmittel wird nicht benötigt, um den körperlichen Mangel auszugleichen. Der Anspruch scheitert allerdings nicht bereits daran, daß die Prothese nicht der Herstellung oder Erhaltung der Arbeitsfähigkeit dient. Entsprechend der gewandelten Bedeutung der gesetzlichen Krankenversicherung, die in der Eingliederung der Rentner als vollwertige Mitglieder besonders zum Ausdruck kommt, hat die Versorgung mit Hilfsmitteln heute nicht mehr den ausschließlichen Zweck, die Arbeitsfähigkeit herzustellen oder zu erhalten. Dem Sinn und Zweck des § 187 Nr. 3 RVO ist bereits dann genügt, wenn mit dem Hilfsmittel die Fähigkeit, am allgemeinen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, hergestellt oder erhalten wird (vgl. Urteile des erkennenden Senats vom 15. Dezember 1971 - 3 RK 35/71 - in BSG 33, 263 = SozR Nr. 2 zu § 187 RVO und vom 16. März 1972 - 3 RK 34/70 - in BKK 1972, 227 = Die Leistungen 1973, 18; vgl. auch Urteil vom 18. November 1969 - 3 RK 75/66 - in BSG 30, 151, 154 = SozR Nr. 37 zu § 182 RVO). Die Berechtigung dieser Auslegung wird nunmehr auch durch eine teilweise Neuregelung in der gesetzlichen Krankenversicherung bestätigt, wie sie durch das Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG) vom 10. August 1972 (BGBl I 1433) erfolgt ist. § 16 Abs. 2 KVLG, der § 187 Nr. 3 RVO entspricht, läßt es genügen, daß das Hilfsmittel erforderlich ist, eine körperliche Behinderung "auszugleichen". Daß es die Herstellung oder Erhaltung der Arbeitsfähigkeit ermöglicht, wird nicht mehr verlangt. Nach dem Entwurf des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (BT-Drucks. VI, 3742) ist folgerichtig geplant, § 187 Nr. 3 RVO durch eine § 16 Abs. 2 KVLG entsprechende Regelung zu ersetzen (vgl. § 21 Nr. 6 des Entwurfs).

Die Fälle, in denen sich der Senat bereits im Zusammenhang mit der Frage der Arbeitsfähigkeit im Rahmen des § 187 Nr. 3 RVO zu befassen hatte, waren dadurch gekennzeichnet, daß die Arbeitsfähigkeit entweder noch nicht oder nicht mehr vorlag und durch das begehrte Hilfsmittel auch nicht mehr beeinflußt werden konnte. Es braucht nicht entschieden zu werden, ob ein Anspruch nach § 187 Nr. 3 RVO auch dann begründet sein kann, wenn das Hilfsmittel bei bestehender Arbeitsfähigkeit gebraucht wird, um dem Behinderten einen Bereich des gesellschaftlichen Lebens zu eröffnen. Im vorliegenden Fall steht fest, daß dem Behinderten der in Rede stehende Bereich (Schwimmsport) auch ohne das streitige Hilfsmittel eröffnet ist. Das Begehren des Klägers zielt daher darauf ab, ihm nicht nur das nötige, sondern das optimale Mittel zum Ausgleich seiner Behinderung zur Verfügung zu stellen. Über das Maß des Erforderlichen hinaus gewährt aber das geltende Recht (vgl. § 182 Abs. 2 RVO) keinen Anspruch. Zwar mag es Fälle geben, in denen nur das optimale Mittel die Funktion des Ausgleichs einer Behinderung erfüllt und deshalb erforderlich ist. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Anschauungen besonders über das Wesen der Rehabilitation als der Eingliederung auch in das Gemeinschaftsleben mag ebenso wie der Fortschritt der Technik dazu führen, daß die Zahl dieser Fälle immer größer wird. Ein derartiger Fall könnte vorliegen, wenn es für den Kläger unzumutbar wäre, als einseitig Unterschenkelamputierter ohne eine Spezialprothese ein Schwimmbad aufzusuchen. Anhaltspunkte dafür, daß eine solche Feststellung getroffen werden könnte, sind aber weder nach den Ausführungen des SG noch nach dem eigenen Vortrag des Klägers gegeben.

Die Sprungrevision war daher als unbegründet zurückzuweisen (§§ 170 Abs. 1 Satz 1, 193 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650456

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