Leitsatz (amtlich)

1. Die Wahl zur Vertreterversammlung eines Versicherungsträgers kann ein Wahlberechtigter auch dann anfechten, wenn die Anfechtungsklage nur die Wahl von Vertretern einer Gruppe betrifft, der der Kläger nicht angehört.

2. SVwG § 7 Abs 7, der, wenn aus einer Gruppe nur eine Vorschlagsliste zugelassen wird, die Vorgeschlagenen - ohne Wahlbehandlung - als gewählt bezeichnet ("Friedenswahl"), ist rechtsgültig; GG Art 28 Abs 1 S 2 und Art 38 Abs 1 (Grundsätze für Bundes-, Landes- und Kommunalwahlen) gelten nicht für Wahlen zu den Versicherungsträgern.

 

Normenkette

GG Art. 28 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1949-05-23, Art. 38 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23; SVwG § 30 Abs. 1, § 7 Abs. 7

 

Tenor

Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. April 1972 wird zurückgewiesen.

Die Kläger haben den Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Kläger, die der Vertreterversammlung (VV) der beklagten Krankenkasse als Vertreter der Arbeitgeber angehören, halten die 1968 durchgeführte Wahl zur VV für ungültig, soweit sie die Vertreter der Versicherten betrifft: Eine eigentliche Wahl habe insoweit nicht stattgefunden. Da aus der Gruppe der Versicherten nur eine - vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) eingereichte - Vorschlagsliste zugelassen worden sei, hätten nach § 7 Abs. 7 des Gesetzes über die Selbstverwaltung auf dem Gebiet der Sozialversicherung (Selbstverwaltungsgesetz - SVwG) idF vom 23. August 1967 die Vorgeschlagenen als gewählt gegolten ("Friedenswahl"). Die genannte Vorschrift verstoße gegen die in Art. 28 Abs. 1 und 38 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) enthaltenen Wahlgrundsätze für die Volksvertretungen des Bundes, der Länder, der Kreise und der Gemeinden; in diesen Grundsätzen habe eine - auch für die Organe der Sozialversicherungsträger gültige - generelle Wertentscheidung Ausdruck gefunden.

Die (noch vor der öffentlichen Bekanntmachung des endgültigen Wahlergebnisses) erhobenen Anfechtungsklagen sind in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat zwar ein Rechtsschutzbedürfnis der Kläger anerkannt, ist ihnen in der Sache jedoch nicht gefolgt: Den genannten Verfassungsnormen sei nach ihrem Sinnzusammenhang und Zweck kein allgemeines, auch auf Versicherungsträger anwendbares Prinzip zu entnehmen. § 7 Abs. 7 SVwG widerspreche auch nicht den Art. 20 (demokratischer und sozialer Bundesstaat) und 3 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber habe mit dieser Vorschrift bewußt und aus sachgerechten Erwägungen eine eng begrenzte Ausnahme von den senst in der Sozialversicherung vorgesehenen Wahlen gemacht (Urteil vom 13. April 1972).

Die Kläger haben die zugelassene Revision eingelegt und ausgeführt: Einem demokratischen Staatswesen sei eine andere Bestellung von öffentlichen Organen als im Wege der Wahl wesensfremd, der Rechtsgedanke der Art. 28, 38 GG sei daher über ihren Wortlaut hinaus auf alle Wahlen im öffentlichen Bereich zu beziehen. Der Begriff "Friedenswahl" sei ein Widerspruch in sich, die in § 7 Abs. 7 SVwG zugelassene "Ernennung" von Vertretern sei keine Wahl. Wenn die Wahlberechtigten bei Einreichung nur einer Vorschlagsliste schon nicht unter mehreren Bewerbern wählen könnten, müßten sie mindestens die Möglichkeit haben, dieser einen Liste ihr Plazet zu geben. "Friedenswahlen" würden im übrigen den Wählerwillen der Versicherten und ihre Arbeitgeber lähmen. Die Kläger beantragen, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und festzustellen, daß die Wahl zur VV der Beklagten insoweit ungültig ist, als sie die Vertreter der Versicherten betrifft.

Nach Ansicht des Beigeladenen zu 13), der der Listenvertreter der Vorschlagsliste des DGB war, ist durch die erfolgte "Friedenswahl" keiner der in Art. 28 und 38 GG enthaltenen Wahlrechtsgrundsätze verletzt worden, insbesondere nicht der Grundsatz der Wahlgleichheit; Ausnahmeregelungen, wie z. B. auch bei Sperrklauseln, würden durch diese Vorschriften nicht ausgeschlossen. Der Beigeladene zu 13) beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Den gleichen Antrag hat auch der Beigeladene zu 14) gestellt.

Die beklagte Krankenkasse hat sich den Ausführungen des Beigeladenen zu 13) angeschlossen und beantragt ebenfalls die Zurückweisung der Revision.

Die übrigen Beteiligten haben sich im Revisionsverfahren nicht zur Sache geäußert.

II

Die Revision der Kläger ist nicht begründet. Das LSG hat ihre Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts mit Recht zurückgewiesen.

Das Berufungsgericht hat ein "Rechtschutzbedürfnis" der Kläger zur Anfechtung der Wahl der Versichertenvertreter zutreffend bejaht, obwohl die Kläger selbst nicht zur Gruppe der Versicherten, sondern der Arbeitgeber gehören. Auch wenn, wie im vorliegenden Fall, die Anfechtungsklage nur die Wahl der Vertreter einer Gruppe betrifft, beschränkt sich das Anfechtungsrecht nicht auf die Wahlberechtigten dieser Gruppe. Für eine solche Einschränkung bietet weder der Wortlaut noch der Sinnzusammenhang des Gesetzes einen Anhaltspunkt: Nach § 30 Abs. 1 SVwG kann "jeder Wahlberechtigte" die Wahl anfechten. Damit hat der Gesetzgeber das Interesse aller Wahlberechtigten an der Durchführung einer gesetzmäßigen Wahl als schutzwürdig anerkannt, ohne Rücksicht darauf, welcher Gruppe die Anfechtungskläger und welcher die Organmitglieder angehören, deren Wahl angefochten wird. Diese Regelung entspricht den Vorschriften über die Beschlußfassung in der VV, die nicht getrennt nach Gruppen, sondern gemeinsam erfolgt, deren Ergebnis also nicht nur von der Stimmabgabe der "eigenen" Gruppenrepräsentanten, sondern sämtlicher Organmitglieder abhängt. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, daß die Kläger nicht nur wahlberechtigt zur VV der Beklagten sind, sondern selbst als Mitglieder bzw. Stellvertreter in die VV gewählt worden sind. Für einen Fall dieser Art hat der 6. Senat schon früher das Anfechtungsrecht auch gruppenfremder Organmitglieder bejaht (vgl. BSG 23, 92, 94, wonach Vertreter der außerordentlichen Mitglieder in der VV einer Kassenärztlichen Vereinigung - KÄV - die Wahl der Vertreter der ordentlichen Mitglieder anfechten können).

In der Sache ist die Anfechtungsklage der Kläger jedoch unbegründet, wie die Vorinstanzen richtig entschieden haben.

Nach § 7 SVwG, der u. a. die Grundsätze für die Wahlen zur VV der Versicherungsträger regelt, wählen die Versicherten und die Arbeitgeber je für sich ihre Vertreter in die VV (Abs. 1 Sätze 1 und 2); die Wahlen sind frei und geheim, es gelten die Grundsätze der Verhältniswahl (Abs. 5 Satz 1); wird aus einer Gruppe nur eine Vorschlagsliste zugelassen, so gelten die Vorgeschlagenen als gewählt; dies gilt entsprechend, wenn zwar mehrere Vorschlagslisten zugelassen werden, in ihnen aber insgesamt nicht mehr Bewerber benannt sind, als Mitglieder zu wählen sind (Abs. 7). Bei den Wahlen, die 1968 zur VV der Beklagten stattfanden, wurde aus der Gruppe der Versicherten nur eine - vom DGB aufgestellte - Vorschlagsliste zugelassen. Die darin vorgeschlagenen Personen, deren Listenvertreter der Beigeladene zu 13) ist, galten deshalb nach § 7 Abs. 7 SVwG auch ohne eine Wahlhandlung als gewählt, es sei denn, daß die genannte Vorschrift, wie die Kläger meinen, wegen Verstoßes gegen höherrangige Normen des GG nichtig wäre. Das ist jedoch nicht der Fall.

§ 7 Abs. 7 SVwG widerspricht weder dem Wortlaut noch dem Sinn einer Vorschrift des GG oder einer diesem immanenten Wertentscheidung. Nach Art. 28 Abs. 1 GG, auf den sich die Kläger insoweit berufen, muß die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern - ähnlich wie nach Art. 20 GG im Bund - den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtstaates im Sinne des GG entsprechen (Satz 1). In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist (Satz 2). Damit gelten für die Länder und Kommunen die gleichen Wahlrechtsgrundsätze wie nach Art. 38 Abs. 1 GG für die Wahlen zum Bundestag.

Daß Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG die Versicherungsträger, auch soweit sie, wie die beklagte Krankenkasse, der Landesaufsicht unterliegen, vom Wortlaut her nicht erfaßt, bestreiten selbst die Kläger nicht. Ihrer Ansicht nach enthält die genannte Vorschrift jedoch eine generelle Wertentscheidung, die auch für Versicherungsträger gilt. Dem kann der Senat nicht folgen.

Die Vorschriften über die vom Volk in den Ländern, Kreisen und Gemeinden nach bestimmten Regeln zu wählenden Vertretungen (Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG) gelten - ähnlich wie die damit in engem Zusammenhang stehenden Grundsätze über die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) - ihrer Natur nach nur für die in Art. 28 GG genannten, alle Einwohner ihres räumlichen Bereichs umfassenden Gebietskörperschaften. Nur bei ihnen kann von einem "Volk" und damit von einer Volksvertretung die Rede sein. Andere als auf räumlicher Grundlage organisierte Körperschaften, insbesondere die für bestimmte Gruppen der Bevölkerung geschaffenen Versicherungsträger, haben zwar Mitglieder, aber kein "Volk" und deshalb keine Volksvertretung. Auch das - nicht nur sprachlich vom Begriff des Volkes abgeleitete - demokratische Prinzip (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG), das nach Ansicht der Kläger jede andere Art der Bestellung von Repräsentanten als im Wege der unmittelbaren Wahl ausschließt, ist, wenn überhaupt, nur mit Einschränkungen auf Nichtgebietskörperschaften zu übertragen. Wenn diese aber nach Verfassungsrecht nicht einmal notwendig eine Vertretung zu haben brauchen, so kann von ihnen noch weniger verlangt werden, daß eine vom Gesetzgeber vorgesehene Vertretung ausnahmslos aus Wahlen hervorgeht, die, wie die Kläger meinen, den Anforderungen des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG genügen.

§ 7 Abs. 7 SVwG trägt im übrigen, wie das LSG richtig ausgeführt hat, der Erfahrung Rechnung, daß das Interesse an den Wahlen zur VV der Versicherungsträger häufig nur gering ist, was zum Teil damit zusammenhängen mag, daß bei der Wahl zur VV kontroverse "Wahlkampfthemen" in der Regel fehlen. Wird unter diesen Umständen nur eine Vorschlagsliste eingereicht, so liegt es nahe, auf eine "streitige" Wahl, die nach Lage der Dinge eine bloße Förmlichkeit wäre, zu verzichten und damit nicht nur das Wahlverfahren zu vereinfachen, sondern auch erhebliche Kosten einzusparen. Daß mit einer solchen Regelung gewisse Nachteile verbunden sind - die Kläger meinen, sie lähme den Wählerwillen; die Wahlberechtigten müßten mindestens die Möglichkeit haben, der eingereichten Vorschlagsliste ihr "Plazet" zu geben -, mag richtig sein. Wenn der Gesetzgeber sich gleichwohl zu ihr entschlossen hat, so ist dies - angesichts der für sie sprechenden guten Gründe und der geringen Zahl der für die Einreichung einer eigenen Vorschlagsliste erforderlichen Unterschriften - von Verfassungswegen nicht zu beanstanden. § 7 Abs. 7 SVwG ist mithin rechtsgültig (ebenso für eine entsprechende Bestimmung des alten Selbstverwaltungsgesetzes beiläufig BSG 23, 92, 96).

Dem steht nicht entgegen, daß in der zuletzt genannten Entscheidung das Bundessozialgericht eine Bestimmung in der Wahlordnung einer KÄV, nach der auch "Friedenswahlen" zulässig waren, für ungültig erklärt hat; diese Satzungsbestimmung widersprach der gesetzlichen Vorschrift über die Unmittelbarkeit der Wahl zur VV der KÄVen (§ 368 l Abs. 4 Satz 1 Reichsversicherungsordnung). Die Entscheidung des Senats in der vorliegenden Sache ist schließlich auch mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vereinbar, das für den kommunalen Bereich "Friedenswahlen" als verfassungswidrig angesehen hat (BVerfG 13, 1, 17 f). Für Kommunalwahlen und Wahlen zu den Sozialversicherungsträgern gelten, wie ausgeführt, nicht die gleichen Wahlrechtsgrundsätze (vgl. Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 28, Rdnr. 22).

Der Senat hat hiernach die Revision der Kläger zurückgewiesen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

BSGE, 242

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