Leitsatz (amtlich)

1. Bei vertriebenen Hinterbliebenen gilt BVG § 2 Abs 2 auch dann, wenn der verstorbene Wehrdienstleistende selbst nicht Vertriebener (iS des BVFG § 1) geworden ist.

2. Die Zeiten, in denen der nicht vertriebene Versicherte (oder Verstorbene) vor dem 1945-05-09 fremde gesetzliche Wehrpflichten erfüllte, sind Ersatzzeiten iS des AVG § 28 Abs 1 Nr 1 ( = RVO § 1251 Abs 1 Nr 1).

 

Normenkette

RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; BVG § 2 Abs. 2 Fassung: 1964-02-21; FRG § 1 Fassung: 1960-02-25, § 14 Fassung: 1960-02-25; BVFG § 1 Fassung: 1953-05-19

 

Tenor

1.

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 31. Oktober 1972 wird zurückgewiesen.

2.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Anrechenbarkeit von Kriegsdienstzeiten als Ersatzzeiten.

Die Klägerin ist 1963 aus Rumänien in die Bundesrepublik verzogen. Sie ist als Vertriebene i. S. des § 1 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) anerkannt und besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Ihr Ehemann ist im Oktober 1961 in Rumänien verstorben. Er war Volksdeutscher und bis 1918 österreich-ungarischer und danach rumänischer Staatsangehöriger.

Mit Bescheid vom 17. Juni 1964 hatte die Beklagte der Klägerin Witwenrente bewilligt und dabei 52 Monate Kriegsdienst des Ehemannes im ersten Weltkrieg sowie 48 Monate im zweiten Weltkrieg als Ersatzzeiten (§ 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG) angerechnet. Diese Anrechnung hielt die Beklagte später nicht für gerechtfertigt; sie hat deshalb im Bescheid vom 10. Dezember 1969 davon abgesehen, die Rente der Klägerin vom 1. Januar 1970 an aufgrund des 12. Rentenanpassungsgesetzes (RAG) über den zuletzt gezahlten Betrag von 298,60 DM zu erhöhen.

Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat die daraufhin von der Klägerin erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 4. Februar 1971). Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hingegen hat die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 10. Dezember 1969 verurteilt, der Rentenberechnung weiterhin die bis dahin berücksichtigten Ersatzzeiten zugrundezulegen: Die Klägerin könne aufgrund der §§ 1 a, 14 Fremdrentengesetz (FRG), 28 Abs. 1 Nr. 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG), 2 Abs. 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) beanspruchen, daß die Kriegsdienstzeiten ihres Ehemannes als Ersatzzeiten angerechnet werden. Nach § 2 Abs. 2 BVG (idF. des 2. Neuordnungsgesetzes vom 21. Februar 1964) stehe bei Vertriebenen i. S. des § 1 BVFG, die Deutsche oder deutsche Volkszugehörige sind, die Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht nach den Vorschriften des Herkunftslandes vor dem 9. Mai 1945 dem Dienst in der deutschen Wehrmacht gleich. Hieraus folgere die Beklagte zu Unrecht, daß der Wehrdienstleistende, hier: der Ehemann der Klägerin, selbst Vertriebener gewesen sein müsse. Dies sei weder nach der Formulierung noch nach dem Sinngehalt der hier anzuwendenden Vorschriften des FRG und BVG erforderlich.

Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.

Sie hält an ihrer Rechtsauffassung fest und weist darauf hin, daß andernfalls Ersatzzeiten von Personen angerechnet werden müßten, die zu keiner Zeit eine Aussiedlung beabsichtigt hätten.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Bei der Anpassung von Renten, die - wie die der Klägerin - nach den §§ 30 ff AVG berechnet sind, aufgrund des 12. RAG vom 28. Juli 1969 (BGBl I, 969) durfte die Beklagte zwar bisherige Berechnungsfaktoren der Rente, die ohne Zweifel falsch festgestellt worden waren, durch die richtige Berechnungsfaktoren ersetzen (BSG 26, 266). Sie hätte deshalb auch die Kriegsdienstzeiten des Ehemannes der Klägerin nicht mehr zu berücksichtigen brauchen, wenn deren Anrechnung dem geltenden Recht widerspricht. Das ist jedoch nicht der Fall.

Die Klägerin gehört als anerkannte Vertriebene i. S. des § 1 BVFG zum Personenkreis des § 1 a FRG. Dieser Personenkreis ist grundsätzlich zu allen nach dem FRG in Frage kommenden Leistungen und damit auch zu Hinterbliebenenleistungen berechtigt. Ein Ausschluß von Hinterbliebenenleistungen ergibt sich insbesondere nicht aus § 1 e FRG; diese Vorschrift hat nur Bedeutung für Hinterbliebene, die selbst nicht Vertriebene sind; folgerichtig ist bei ihnen die Leistungsberechtigung auf Hinterbliebenenleistungen eingeschränkt. Die vertriebenen Hinterbliebenen sind nach § 1 a FRG für Hinterbliebenenleistungen grundsätzlich leistungsberechtigt auch dann, wenn derjenige, von dem sie ihr Recht herleiten, selbst nicht Vertriebener war, weil er schon vor der Vertreibung der Hinterbliebenen gestorben ist (so die Urteile BSG 24, 251 mit allerdings nicht zutreffender Bezugnahme auf § 1 c FRG; 11 RA 292/65 vom 15. März 1967 mit ebenfalls nicht zutreffendem Hinweis auf § 1 e FRG und 4 RJ 407/65 vom 28. Februar 1967). Diese von mehreren Rentenversicherungssenaten des Bundessozialgerichts (BSG) vertretene Rechtsprechung rechtfertigt sich sowohl aus der Entstehungsgeschichte des § 1 FRG als auch aus dem diesem Gesetz zugrundeliegenden Eingliederungsprinzip; das ist in BSG 24, 251 eingehend und überzeugend dargelegt worden. Bei Hinterbliebenen von Versicherten und Beschäftigten, die ihrerseits nicht zu den Personenkreisen des § 1 a bis d FRG gehörten, wird die vom Gesetzgeber gewollte Eingliederung nur dann wirklich erreicht, wenn auch bei diesen Hinterbliebenen das Arbeits- und Versicherungsleben des Verstorbenen so behandelt wird, als ob es im Geltungsbereich des Gesetzes zurückgelegt worden wäre (BSG aaO S. 252).

Dieser allgemeine Gedanke kann aber nicht bei der grundsätzlichen Leistungsberechtigung nach § 1 FRG halt machen; er muß sich insbesondere bei der Anrechnung der vom Verstorbenen zurückgelegten Zeiten auswirken. Ein konkreter Anwendungsfall hat sich nach der oben zitierten Rechtsprechung schon bei den Beschäftigungszeiten nach § 16 FRG ergeben; dort hat die Rechtsprechung in dem Wortlaut des Gesetzes, der auf "vor der Vertreibung" verrichtete Beschäftigungen abstellt, kein Hindernis gesehen, bei Leistungen an vertriebene Hinterbliebene auch Beschäftigungszeiten des nicht vertriebenen Ehemannes vor der Vertreibung der Hinterbliebenen anzurechnen. Das wurde wiederum aus dem auch § 16 FRG zu grunde liegenden Eingliederungsprinzip gerechtfertigt.

Der vorliegende Fall bietet ein weiteres Beispiel für die Wirksamkeit des Eingliederungsprinzips. Das gilt sogar im doppelten Sinne, weil nämlich auch § 2 Abs. 2 BVG sich als Auswirkung dieses Prinzips auf dem Gebiete der Kriegsopferversorgung darstellt (BSG 4, 193, 198, 199). Diese Vorschrift bezweckt bei Vertriebenen die Gleichstellung nach der Erfüllung einer gesetzlichen Wehrpflicht; sie sollen so behandelt werden, als hätten sie die Wehrpflicht in der deutschen Wehrmacht erfüllt. Bei Leistungen an vertriebene Hinterbliebene nach den Vorschriften des BVG wird ebenso die Frage gestellt, ob § 2 Abs. 2 BVG nur dann anwendbar ist, wenn auch der Verstorbene Vertriebener i. S. des § 1 BVFG war Das wird mit Recht überwiegend verneint (LSG Nordrhein-Westfalen, Breithaupt 1963, 901; Schönleiter, BVG Anm. Nr. 13 zu § 2 BVG; Wilke § 2 BVG, Anm. V, 2. Abs.; Roeckner/Bluschke Anm. 9 b zu § 2 BVG; a. A. Hessisches LSG, Breithaupt 1956 S. 413 und Schieckel/Gurgel III. Aufl. Anm. 12 zu § 2 BVG). Der Wortlaut des § 2 Abs. 2 BVG, der "bei Vertriebenen i. S. des § 1 des BVFG ... die Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht ... dem Dienst in der deutschen Wehrmacht" gleichstellt, zwingt wegen der Erfassung der Begünstigten durch das Verhältniswort "bei" nicht zu der Auslegung, die Gleichstellung gelte nur dann, wenn der ehemals Wehrpflichtleistende Vertriebener i. S. des § 1 BVFG geworden sei; vom Wortlaut her ist auch die Auslegung vertretbar, daß es genüge, wenn der Hinterbliebenenleistungen nach dem BVG beanspruchende Hinterbliebene Vertriebener i. S. des § 1 BVFG ist. Diese Auslegung wird allein dem Sinn und Zweck des § 2 Abs. 2 BVG gerecht; die gegenteilige Auffassung würde alle Hinterbliebenen von Personen, die bei Erfüllung der gesetzlichen Wehrdienstpflicht des Herkunftslandes ihr Leben verloren haben, in der Bundesrepublik von Versorgungsleistungen nach dem BVG ausschließen; das ist mit dem § 2 Abs. 2 BVG zugrunde liegenden Eingliederungsprinzip unvereinbar.

Es bestehen keine Bedenken, diese Auslegung des § 2 Abs. 2 BVG auch im Rahmen der §§ 14 FRG, 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG gelten zu lassen. Da auch bei Anwendung des FRG das Eingliederungsprinzip, wie schon dargelegt, wirksam ist, wird im Gegenteil hier diese Auslegung eher nur bekräftigt. Es bildet kein Gegenargument, daß der Verstorbene - in Rumänien - selbst keine Rente nach bundesdeutschen Vorschriften hätte erhalten können. Hinterbliebenenleistungen setzen nicht immer voraus, daß auch der Verstorbene leistungsberechtigt war. Es mag ferner sein, daß bei der hier vertretenen Auslegung in einer nicht feststellbaren Anzahl von Fällen Ersatzzeiten von Personen angerechnet werden, die zu keiner Zeit eine Aussiedlung beabsichtigt hätten. Dieses Argument gilt aber nicht nur für Ersatzzeiten, sondern ebenso für Beschäftigungszeiten nach § 16 FRG und für Beitragszeiten nach § 15 FRG; es müßte zu der allgemeinen Forderung führen, Hinterbliebenenleistungen stets von der Vertriebeneneigenschaft der Verstorbenen abhängig zu machen; daß das nicht gerechtfertigt ist, ist bereits dargelegt.

Daß sonstige gesetzliche Voraussetzungen für die Anrechnung der Kriegsdienstzeiten als Ersatzzeiten fehlen, ist weder vorgebracht noch erkennbar.

Die Revision der Beklagten ist daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 255

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