Orientierungssatz

Zum Begriff "Unterhalt zur Zeit seines Todes".

 

Normenkette

RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Dezember 1960 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Die Ehe der ... 1891 geborenen Klägerin ist seit dem 21. Mai 1935 aus alleinigem Verschulden des Ehemannes, des 1883 geborenen Bergmanns Heinrich J H, geschieden. Das Amtsgericht Lünen hat den genannten Versicherten am 9. Juni 1938 rechtskräftig verurteilt, der Klägerin ab 1. Juni 1938 eine monatliche Unterhaltsrente von 15,- RM zu zahlen; der Entscheidung wurde ein Netto-Arbeitsverdienst des Versicherten in Höhe von 115,- RM monatlich zugrunde gelegt. Dasselbe Gericht verurteilte den Versicherten am 22. September 1938, an seine bei der Mutter wohnenden minderjährigen ehelichen Kinder Hildegard, geboren am 1. Februar 1927, und Karl, geboren am 5. September 1928, eine monatliche Unterhaltsrente von je 15,- RM zu zahlen, wobei das Gericht von einem Nettoverdienst des Versicherten von monatlich 130,- RM ausging. Der Versicherte ist am 21. Oktober 1945 gestorben.

Am 4. Januar 1956 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Hinterbliebenenrente. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil der Versicherte keinen Unterhalt an die Klägerin geleistet habe; das Wohlfahrtsamt habe lediglich monatlich 15,- RM zugunsten der Kinder pfänden können, denen gegenüber der Kläger weitergehend unterhaltspflichtig gewesen sei. Trotz des Schuldtitels sei daher der Versicherte nicht verpflichtet und in der Lage gewesen, an die Klägerin Unterhalt in der Zeit bis zu seinem Tode zu leisten (die Firma Krupp, bei der der Versicherte vom 18. Juli 1942 bis 21. April 1945 beschäftigt war, hat aus dem Jahre 1944 einen Brutto-Arbeitsverdienst von 167,- bis 240,- RM mitgeteilt). Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte zurück. Das Sozialgericht (SG) wies die Klage ab.

Im Berufungsverfahren lud das Landessozialgericht (LSG) die Landesversicherungsanstalt (LVA) Westfalen bei, weil der Versicherte zuletzt Beiträge zur Invalidenversicherung entrichtet hat und die knappschaftliche Versicherungszeit nur 42 Beitragsmonate bis zum Jahre 1939 umfaßt (§ 75 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Es wies sodann die Berufung der Klägerin zurück; der Versicherte habe bei seinem monatlichen Einkommen von 240,- RM im Höchstbetrag und seiner im März 1944 einsetzenden, mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Erkrankung nicht die Voraussetzung erfüllt, um der Klägerin Hinterbliebenenrente als Kannleistung bis 31. Dezember 1956 und als Pflichtleistung ab 1. Januar 1957 zu gewähren. Nach § 1256 Abs. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF sei der Versicherungsträger nicht leistungspflichtig. Denn nach § 67 Abs. 1 des Ehegesetzes (EheG) von 1938 müsse der frühere Ehemann nur soviel leisten, als es mit Rücksicht auf die Bedürfnisse, die Vermögens- und Erwerbsverhältnisse der geschiedenen Ehegatten der Billigkeit entspreche (vgl. BSG 3, 199). Der Versicherte habe von November 1944 bis Oktober 1945 keine nennenswerten Einkünfte bezogen, lediglich im zweiten Jahr vor seinem Tode habe er zwischen 167,- und 240,- RM schwankende Monatseinkommen gehabt. Ab April 1944 hätte keine Leistungsfähigkeit mehr bestanden, weil er seither wiederholt erheblich krank gewesen sei. Die ununterbrochene Krankheitszeit im April und Mai 1944 sowie vom 14. November 1944 bis zum 13. März 1945 spreche dafür, daß sich der Versicherte nach Wiederaufnahme der Arbeit am 5. Juni 1944 nicht mehr richtig erholt habe. Unter Berücksichtigung seiner Erkrankung und seiner Unterhaltspflicht gegenüber den Kindern hätte er von seinem Einkommen von 150,- bis 160,- RM netto nichts an die Klägerin abführen können. Das Unterhaltsurteil stehe dieser Entscheidung nicht entgegen, es stelle auch keinen sonstigen Grund im Sinne des § 1256 Abs. 4 RVO aF und des § 1265 RVO nF dar. Revision wurde zugelassen.

Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung des § 1256 Abs. 4 RVO aF, weil nach Art. 2 §§ 19 und 44 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) der § 1265 RVO nF auch für die vor dem 1. Januar 1957 liegende Zeit anzuwenden sei. Die Revision greift ferner die Feststellung des LSG an, daß der Versicherte in der Zeit vor seinem Tode nicht in der Lage gewesen sei, die Klägerin zu unterhalten. Die Auskunft der Firma Krupp sei nicht genügend, um den tatsächlichen Verdienst so eindeutig anzunehmen, daß Unterhalt ausgeschlossen werden dürfe. Der Versicherte habe die Höhe seiner Einkünfte verschleiert. Der Lebenserfahrung entspreche es, daß der Versicherte einen noch höheren Verdienst gehabt habe, als von der Firma Krupp mitgeteilt worden sei; die entgegenstehende Feststellung des LSG widerspreche jeder Lebenserfahrung. Die Unmöglichkeit, die Höhe der Einkünfte des Versicherten in den letzten Kriegsjahren zu ermitteln, könne nicht zu Lasten der Klägerin gehen. Der Schuldausspruch im Ehescheidungsurteil verpflichtete nach § 66 Abs. 1 EheG den Versicherten, der Klägerin Unterhalt zu zahlen. Durch Urteil des Amtsgerichts sei der Versicherte auch zur Zahlung einer Unterhaltsrente verurteilt worden. Diese Verpflichtung sei im Wege der Abänderungsklage nicht aufgehoben oder eingeschränkt worden. Sonstiger Grund im Sinne des § 1265 RVO nF sei daher auch das Unterhaltsurteil des Amtsgerichts Lünen vom 9. Juni 1938.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen vom 20. Dezember 1960 und des SG Dortmund vom 12. September 1957 sowie die Bescheide der Beklagten vom 6. Juni und 9. Oktober 1956 aufzuheben und die Beklagte bzw. die Beigeladene zu verurteilen, ihr Witwenrente nach dem geschiedenen Ehemann ab Antragstellung zu zahlen.

Die beklagte Ruhrknappschaft und die beigeladene LVA Westfalen beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

II.

Die Revision der Klägerin ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist in gehöriger Form und Frist (§ 164 Abs. 1 SGG) eingereicht und daher zulässig. Sie ist aber nicht begründet.

Ob die Anspruchsvoraussetzungen der Geschiedenen-Witwenrente erfüllt sind, beurteilt sich grundsätzlich nach den im Zeitpunkt des Versicherungsfalls (Tod des Versicherten am 21. Oktober 1945) geltenden Vorschriften, also nach § 1256 Abs. 4 RVO aF. Da indes der Rechtsstreit nicht bis zum Inkrafttreten des ArVNG (1. Januar 1957) erledigt worden ist, rechnet die Streitsache zu den schwebenden Fällen, auf die nach Art. 2 § 44 ArVNG die Vorschrift des Art. 2 § 19 ArVNG anzuwenden ist. Nach Art. 2 § 19 ArVNG ist § 1265 RVO nF auch dann anzuwenden, wenn der frühere Ehemann vor dem Inkrafttreten des ArVNG (1. Januar 1957), aber nach dem 30. April 1942 gestorben ist. Das ist hier der Fall. Um eine weitgehende Rechtsgleichheit herbeizuführen, hat das ArVNG den zeitlichen Geltungsbereich des § 1265 RVO nF auch auf Todesfälle vor dem 1. Januar 1957 ausgedehnt. Weil aber der Rentenanspruch nach neuem Recht frühestens mit dem 1. Januar 1957 beginnt (§ 25 ArVNG), die Klägerin aber schon am 4. Januar 1956 Hinterbliebenenrente beantragt hat, ist auch dieser Anspruch Streitgegenstand. Dieser bis 31. Dezember 1956 geltend gemachte Anspruch ist nach § 1265 Abs. 4 RVO aF zu beurteilen (Urteil des BSG vom 21. August 1957, SozR RVO § 1256 aF Bl. Aa 2 Nr. 3).

Da der Versicherte unbestritten vor seinem Tod Beitragsmarken zur Invalidenversicherung entrichtet hat, richtet sich der geltend gemachte Anspruch ab 1. Januar 1957 allein gegen die beigeladene LVA Westfalen, während die beklagte Ruhrknappschaft nach § 102 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) nF nicht leistungspflichtig ist.

Zunächst hat die Revision Verfahrensrügen vorgebracht. Die Revision bemängelt die Sachaufklärung und die Beweiswürdigung des LSG hinsichtlich der Feststellung, daß der Versicherte vor seinem Tode nicht in der Lage gewesen sei, die Klägerin zu unterhalten; zumindest hätte das LSG nicht aus der Nachricht der Firma Krupp vom 31. August 1956 allein schon schließen dürfen, daß der Versicherte nicht zum Unterhalt der Klägerin habe beitragen können. Diese Verfahrensrügen greifen nicht durch. Das LSG hat aus der Mitteilung der Firma Krupp die monatlichen Lohnbezüge unverändert in seine Sachverhaltsdarstellung übernommen. Wenn es aus der Höhe dieser Einkommen geschlossen hat, der Versicherte habe seine Frau nicht mehr teilweise unterhalten können, so ist das nicht ein Fehler in der Beweiswürdigung (denn diese ist weder willkürlich noch verstößt sie gegen Denkgesetze), sondern schon Teil der Subsumtion des Sachverhalts unter die Rechtsnorm, welche die Rechtsfolge (Geschiedenen-Witwenrente) von der Unterhaltsleistung zur Zeit des Todes des Versicherten abhängig macht. Das LSG brauchte auch nicht, wie die Revision meint, den Sachverhalt in der Richtung weiter zu erforschen, ob sich etwa in den letzten Jahren bis zum Tode des Versicherten (21. Oktober 1945) ein anderer (höherer) Lohn ergebe, weil es sich schon auf die bis 1945 geltenden Lohndaten der Firma Krupp stützen konnte. Die Revision hat auch nicht angegeben, in welcher Richtung das LSG mit Aussicht auf Erfolg weitere Nachforschungen nach etwaigen sonstigen Einkünften des Versicherten hätte anstellen können (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das LSG ist auch nicht deshalb zu einer Abweisung des Anspruchs der Klägerin gekommen, weil es die tatsächlichen Einkünfte niedriger bewertet hat, oder weil nicht erwartet werden konnte, daß sich ein höherer Lohnstand des Versicherten ermitteln lasse, sondern deshalb, weil es von einer engen Auslegung der Vorschrift des § 1256 Abs. 4 RVO aF und des § 1265 RVO nF ausgegangen ist. Von diesem Standpunkt in der Auslegung der sachlich-rechtlichen Vorschriften war das LSG nicht gedrängt, weitere Lohnermittlungen anzustellen. Es konnte davon ausgehen, daß der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode überwiegend krank und daher nicht in der Lage war, Lohnarbeit auszuführen. Bei dieser Annahme hat das LSG auch nicht gegen Erfahrungssätze verstoßen, zumal bekannt ist, daß unmittelbar nach Beginn der Besatzung im Jahre 1945 die Arbeitsmöglichkeiten mit gutem Verdienst nur beschränkt gegeben waren. Das LSG hat mithin weder § 103 SGG (Sachaufklärung) noch § 128 SGG (Beweiswürdigung) verletzt.

Auch die sachlich-rechtlichen Rügen greifen nicht durch. Nach § 1256 Abs. 4 RVO aF kann der geschiedenen Frau Witwenrente gewährt werden, wenn ihr der Versicherte zur Zeit des Todes Unterhalt zu leisten hatte. Die Klägerin hatte nach den Feststellungen des LSG für zwei minderjährige Kinder zu sorgen und erhielt Leistungen der öffentlichen Fürsorge. Sie war also nicht in der Lage, den ihr zustehenden angemessenen Unterhalt selbst zu verdienen. Es kommt also darauf an, ob der Versicherte der Klägerin zur Zeit seines Todes (Oktober 1945) Unterhalt zu leisten hatte, d.h. zu leisten verpflichtet war. Das gleiche gilt auch für den ab 1. Januar 1957 anzuwendenden § 1265 RVO nF, wobei es im vorliegenden Fall auch hier nur auf die Verpflichtung zur Unterhaltsleistung ankommt, weil nach dem erwiesenen Sachverhalt der Versicherte tatsächlich Unterhalt nicht geleistet hat. Durch die Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. Juni 1963 (SozR RVO § 1265 Bl. Aa 15 Nr. 17) ist klargestellt, daß die Verpflichtung zur Unterhaltsleistung sich auch aus einem Schuldtitel, wie er hier in dem Urteil des Amtsgerichts Lünen vom 9. Juni 1938 vorlag, ergeben kann. Wie der Große Senat aber weiter ausgesprochen hat, erlaubt ein Schuldtitel nicht unter allen Umständen die Annahme, daß der Versicherte (Schuldner) zur Gewährung von Unterhalt verpflichtet ist. Es kommt vielmehr auch darauf an, ob der Schuldner Tatbestände verwirklicht hat, welche ihm noch vor seinem Tode erlaubt hätten, den auf Unterhaltsleistung gerichteten Schuldtitel durch Abänderungsklage (§ 323 ZPO) aufzuheben. Für den Anspruch auf Witwenrente ist demnach maßgebend, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes auch nach Berücksichtigung seiner Unterhaltspflicht gegenüber seinen zwei ehelichen Kindern und dem unehelichen Kind fähig war, an die geschiedene Frau einen Unterhaltsbeitrag, wenn auch in geringer Höhe, zu leisten (BSG 5, 276).

Da der Versicherte der Klägerin tatsächlich keinen Unterhalt geleistet hat, hängt der geltend gemachte Witwenrentenanspruch davon ab, wie der Rechtsbegriff "Unterhalt zur Zeit seines Todes" zu deuten ist. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung - schon für das alte Recht (BSG 3, 200) - entschieden, daß darunter nicht rein dem Wortlaut folgend der Zeitpunkt des Todes allein oder etwa der Todesmonat zu verstehen sei. Wenn auch aus dem Gesetz eine zeitlich engere Begrenzung zu folgern sei, als sich aus dem in § 1265 RVO nF anderweit verwandten Begriff "Unterhalt im letzten Jahr vor dem Tode" ergebe, so müsse man doch zur Vermeidung ungewollter Härten und zur Herbeiführung eines billigen Ermessens auf einen etwas längeren Zeitraum vor dem Tode abstellen, wobei in Ausnahmefällen Unterbrechungen der Unterhaltspflicht bis zu einem Jahr als unbeachtlich angesehen werden könnten. Abzustellen sei dabei, wie der 4. Senat zu dem insoweit gleichliegenden § 1266 RVO nF entschieden hat, auf den letzten "wirtschaftlichen Dauerzustand" (Urteil vom 23. März 1961. SozR RVO § 1266 nF Bl. Aa 2 Nr. 1). Als Beginn dieses Zeitraums müsse die letzte wesentliche Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten, als Ende der Tod des Versicherten betrachtet werden. Führt eine Krankheit zum Tode und unterbricht sie allein die bis zu ihrem Beginn bestehende Unterhaltspflicht, so wird man den vor dem Krankheitsbeginn liegenden Zeitraum als letzten wirtschaftlichen Dauerzustand betrachten dürfen, falls der zwischenliegende Zeitraum verhältnismäßig kurz war. Dieser Auffassung schließt sich der Senat an.

Im vorliegenden Fall hat das LSG mit zutreffender Begründung festgestellt, daß während des gesamten letzten Jahres vor seinem Tode der Versicherte keinesfalls mehr in der Lage war, der Klägerin auch nur einen geringen Betrag als Unterhalt zu leisten.

Die Revision erweist sich damit nicht als begründet. Sie ist zurückzuweisen, wobei der Klarheit halber auch noch der erst in der Berufungsinstanz erhobene Anspruch gegen die Beigeladene in die Klageabweisung einzubeziehen ist.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1984418

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