Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit. bisheriger Beruf. Gerichtskunde. rechtliches Gehör

 

Orientierungssatz

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist - unabhängig von der Dauer der Ausbildung - ein wertvolles Indiz für die Qualität einer Berufstätigkeit deren Einstufung in das Tarifgefüge. Aus der tariflichen Einstufung kann allerdings dann nicht auf die Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe des Mehrstufenschemas geschlossen werden, wenn die Einstufung auf anderen als Qualitätsmerkmalen beruht, zB körperliche Schwere, Gefährlichkeit, besondere Beeinträchtigung durch Lärm und Schmutz, Nachtarbeit usw.

2. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist verletzt, wenn die Beteiligten nicht auf die vorhandene Gerichtskunde von den Anforderungen der Verweisungstätigkeiten an das Leistungsvermögen hingewiesen werden.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs 2 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 05.12.1980; Aktenzeichen L 6 J 203/79)

SG Koblenz (Entscheidung vom 20.06.1979; Aktenzeichen S 6 J 460/78)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) oder wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 RVO hat.

Der Kläger war zunächst als Bahnunterhaltungs- und Rangierarbeiter und danach vom 1. Dezember 1955 an bis zu seiner Ernennung als Bundesbahnschaffner-Anwärter am 1. September 1958 als Hilfszugschaffner nach der Lohngruppe IV des Lohntarifvertrages der Deutschen Bundesbahn versicherungspflichtig beschäftigt. Mit Ablauf des Monats Januar 1978 wurde er als Beamter wegen Dienstunfähigkeit in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Die Beklagte lehnte den am 4. November 1977 gestellten Rentenantrag mit Bescheid vom 19. Dezember 1977 ab, weil der Kläger weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig sei.

Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat in seinem Urteil vom 5. Dezember 1980 zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig. Zwar sei ihm der Berufsschutz eines Bundesbahnfacharbeiters zuzubilligen, weil er bis zum Ausscheiden aus der Versicherungspflicht die Facharbeitertätigkeit eines Hilfszugschaffners ausgeübt habe und als solcher nach Lohngruppe IV des Lohntarifvertrages (qualifizierter Facharbeiter) entlohnt worden sei. Er habe zudem während dieser Zeit auch einen Lehrgang für Bundesbahnschaffner mitgemacht und eine entsprechende Prüfung bestanden. Gleichwohl sei er nicht berufsunfähig, denn er könne noch einige Tätigkeiten der Lohngruppe IV des Lohntarifvertrages verrichten, die nach ihren Anforderungen an die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit dem Leistungsvermögen des Klägers entsprächen. Infrage kämen beispielsweise die Tätigkeiten eines Bedieners von Vollentsalzungsanlagen für Akku-Nachfüllwasser oder von Wasseraufbereitungsanlagen ohne Voll- oder Teilentsalzung an Hochdruckkesselanlagen. Außerdem kämen auch aus der Lohngruppe V des Lohntarifvertrages die Facharbeitertätigkeit eines Ausgebers im Lagerdienst mit gründlichen Fachkenntnissen und die Tätigkeit eines Ausgebers in Kleiderlagern der Deutschen Bundesbahn in Betracht. Diese Tätigkeiten seien auch einem Facharbeiter zumutbar.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom erkennenden Senat durch Beschluß zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, die Feststellung des Berufungsgerichts, er sei sowohl gesundheitlich als auch nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten in der Lage, die im Berufungsurteil näher bezeichneten Verweisungstätigkeiten zu verrichten, beruhe auf einem Verfahrensmangel, nämlich auf einem Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs. Da das LSG über die Anforderungen, die Verweisungstätigkeiten an die Kräfte und Fähigkeiten stellen, keinen Beweis erhoben habe, könne seine Kenntnis von diesen Anforderungen nur auf Gerichtskunde beruhen. Es hätte ihm aber Gelegenheit geben müssen, zu diesen gerichtskundigen Tatsachen Stellung zu nehmen. Wäre das geschehen, so hätte er darlegen können, daß diese Tätigkeiten Anforderungen an die Leistungsfähigkeit stellen, die er nach den medizinischen Gutachten nicht erfülle. Im übrigen könne er auf die genannten Tätigkeiten deshalb nicht verwiesen werden, weil der Arbeitsmarkt insoweit verschlossen sei. Zwar werde nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bei der Fähigkeit zur Verrichtung von Tätigkeiten, die in Tarifverträgen enthalten sind, vermutet, daß der Arbeitsmarkt nicht verschlossen sei. Diese Vermutung sei jedoch widerlegbar und könne im vorliegenden Fall auch widerlegt werden. Einen Teil der vom LSG genannten Tätigkeiten gebe es nicht mehr, für einen anderen Teil würden lediglich bei Bedarf entsprechende Stellen eingerichtet.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Koblenz aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 19. Dezember 1977 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. September 1978 zu verurteilen, dem Kläger Versichertenrente wegen Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit ab dem 1. Dezember 1977 zu zahlen; hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet. Zusätzlich trägt sie vor, das LSG sei zu Unrecht von der Tätigkeit eines Bundesbahnfacharbeiters ausgegangen. Die Zuordnung des Hilfszugschaffners zur Gruppe der Facharbeiter könne nicht schon aus einer Einstufung in die Lohngruppe IV des Lohntarifvertrages hergeleitet werden. Die Entlohnung sei lediglich ein wichtiges Indiz für die Qualität eines Berufs. Wesentlich für den Verweisungsrahmen eines Versicherten sei nach § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO die Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs der Ausbildung sowie des bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit. Die Qualität der vom Kläger zuletzt verrichteten versicherungspflichtigen Beschäftigung als Hilfszugschaffner entspreche allenfalls der eines angelernten Arbeiters. Die Verrichtung der Tätigkeit setze weder eine Lehre noch eine Anlernzeit voraus. Sie könne bereits nach einer nur 10-wöchigen Einweisung von jedem Versicherten verrichtet werden, der gewisse Anforderungen - insbesondere solche an das Hör- und Sehvermögen - erfüllt. Bei der Kürze der erforderlichen Einarbeitungszeit könne man nur von einer betrieblichen Einweisung sprechen, die nicht im entferntesten einer Facharbeiterausbildung entspreche. Im übrigen sei die Tätigkeit des Hilfszugschaffners vor dem 1. April 1951 auch lediglich nach der Lohngruppe V des Lohntarifvertrages entlohnt worden. Gehe man aber von einer lediglich angelernten Tätigkeit aus, so könne der Kläger auf alle anderen Tätigkeiten des Arbeitsmarktes verwiesen werden. Die vom Kläger gerügte Verletzung des rechtlichen Gehörs liege deshalb nicht vor, weil das LSG bei der Erörterung des Sachverhalts Hinweise auf die vom Kläger noch zumutbaren Verweisungstätigkeiten habe einfließen lassen. Der Kläger habe also die Möglichkeit gehabt, sich dazu zu äußern bzw vom Gericht die Bekanntgabe der Quellen seiner Kenntnisse über diese Tätigkeiten zu fordern.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die Tatsachenfeststellungen des Berufungsurteils - soweit sie verfahrensfehlerfrei zustandegekommen sind - reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.

Bisheriger Beruf des Klägers iS des § 1246 Abs 2 RVO ist die Tätigkeit eines Hilfszugschaffners, die der Kläger als letzte versicherungspflichtige Beschäftigung nicht nur vorübergehend ausgeübt hat. Diese Tätigkeit hat das LSG aufgrund seiner Tatsachenfeststellungen ohne Rechtsirrtum der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zugeordnet. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG, insbesondere des erkennenden Senats kommt es für die Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit auf die Qualität des bisherigen Berufs an. Normalerweise setzen qualitativ hochwertige Tätigkeiten eine längere Ausbildung voraus. Die in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO genannte Dauer der Ausbildung hat jedoch keine eigenständige Bedeutung, sondern kennzeichnet nur den Weg, wie die Kenntnisse und Fähigkeiten für einen bestimmten Beruf normalerweise erlangt werden. Es gibt aber durchaus qualitativ hochwertige Tätigkeiten, für die eine bestimmte Ausbildungsdauer weder vorgeschrieben noch üblich ist. Das gilt insbesondere für solche Tätigkeiten, die wegen ihrer besonderen Eigenart (zB besondere Anforderungen an die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit, charakterliche Reife oder Gefährlichkeit) nicht schon nach Abschluß der Hauptschule erlernt, sondern in fortgeschrittenem Alter begonnen werden können. Da der Arbeitnehmer bei Beginn solcher Berufstätigkeiten meist schon Erfahrungen in einem anderen Beruf und sonstige Qualitäten mitbringt, genügt oft eine kürzere Ausbildung oder Anlernung. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG und insbesondere des erkennenden Senats ist daher - unabhängig von der Dauer der Ausbildung - ein wertvolles Indiz für die Qualität einer Berufstätigkeit deren Einstufung in das Tarifgefüge. Aus der tariflichen Einstufung kann allerdings dann nicht auf die Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe des Mehrstufenschemas geschlossen werden, wenn die Einstufung auf anderen als Qualitätsmerkmalen beruht, zB körperliche Schwere, Gefährlichkeit, besondere Beeinträchtigung durch Lärm und Schmutz, Nachtarbeit usw. Die Beklagte hat auch in der Revisionsinstanz nicht vorgetragen, daß die tarifliche Gleichstellung des Hilfszugschaffners mit dem Bahnfacharbeiter auf solchen qualitätsfremden Merkmalen beruht. Die von der Beklagten behauptete relativ kurze Dauer der Ausbildung oder Anlernung ist allein kein Grund, die durch die tarifliche Einstufung nahegelegte qualitative Gleichstellung mit dem Bahnfacharbeiter infrage zu stellen und Beweis darüber zu erheben, welche anderen, qualitätsfremden Merkmale die tarifliche Einstufung bewirkt haben könnten.

Das angefochtene urteil beruht aber auf einem anderen Rechtsfehler, nämlich auf einem vom Kläger geltend gemachten Verfahrensmangel. Die Tatsachenfeststellung des Berufungsgerichts, der Kläger könne die im Berufungsurteil näher bezeichneten Verweisungstätigkeiten verrichten, hätte das Berufungsgericht ohne Beweisaufnahme aufgrund eigener Gerichtskunde nur treffen dürfen, wenn es den Beteiligten vorher Gelegenheit gegeben hätte, dazu Stellung zu nehmen (vgl hierzu den die Revision zulassenden Beschluß des erkennenden Senats vom 15. Oktober 1981 - 5b BJ 26/81 -). Das gilt auch dann, wenn die im Berufungsurteil genannten Verweisungstätigkeiten - wie die Beklagte behauptet - in die mündliche Verhandlung vor dem LSG eingeflossen sein sollten. Das LSG konnte die Fähigkeit des Klägers zur Verrichtung der Verweisungstätigkeiten nur dann feststellen, wenn es vorher die Anforderungen der Verweisungstätigkeiten an die Leistungsfähigkeit festgestellt und mit der vorhandenen Leistungsfähigkeit des Versicherten verglichen hatte. Da das LSG über die Anforderungen der Verweisungstätigkeiten an die Leistungsfähigkeit keinen Beweis erhoben hatte, konnte seine Kenntnis nur auf der Gerichtskunde beruhen. Auf diese Gerichtskunde hätte es die Beteiligten nach § 62, § 128 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes hinweisen müssen. Auch wenn die Behauptung der Beklagten zutreffen sollte, daß die Verweisungstätigkeiten in die mündliche Verhandlung eingeflossen sind, so ergibt sich daraus doch noch kein Hinweis auf die Gerichtskunde über die Anforderungen der Verweisungstätigkeiten an die Leistungsfähigkeit. Der Kläger hatte also keine Gelegenheit, durch seinen Vortrag oder Beweisanträge das LSG davon zu überzeugen, daß die Anforderungen der Verweisungstätigkeiten an die Leistungsfähigkeit anders sind, als das LSG dies aufgrund der Gerichtskunde angenommen hat. Darauf kann das angefochtene Urteil auch beruhen, denn es ist durchaus möglich, daß der Kläger durch seinen Vortrag oder Beweisanträge das Gericht zu einer Beweiserhebung und einer anderen Entscheidung veranlaßt hätte (vgl auch das Urteil des erkennenden Senats vom heutigen Tage - 5b RJ 86/81 -).

Der erkennende Senat hat auf die danach begründete Revision des Klägers das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur verfahrensfehlerfreien Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen und zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen, das auch über die außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu entscheiden haben wird.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660602

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