Entscheidungsstichwort (Thema)

Beitragsentrichtung aus rechtlichen Gründen unmöglich

 

Leitsatz (amtlich)

Zeiten, für die aus Rechtsgründen keine wirksamen Pflichtbeiträge entrichtet werden konnten, können keine Ausfallzeiten nach AVG § 36 Abs 1 Nr 1 (= RVO § 1259 Abs 1 Nr 1) sein.

 

Leitsatz (redaktionell)

Daß Arbeitsunfähigkeit, Invalidität und Berufsunfähigkeit durch dieselbe Krankheit bedingt sind, ist ohne Bedeutung; nicht die Krankheit selbst, sondern die durch sie ausgelöste Arbeitsunfähigkeit begründet die Ausfallzeit.

 

Normenkette

AVG § 36 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09, § 1251 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1260 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 37 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23, § 28 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 4. Juni 1975 aufgehoben, soweit die Beklagte verurteilt worden ist, das vorgezogene Altersruhegeld der Klägerin neu zu berechnen.

Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 10. September 1974 wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 15. August 1968 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit; mit Bescheid vom 31. Januar 1972 wandelte sie diese in eine Rente wegen Berufsunfähigkeit um. Bei der Berechnung wurde die Zeit von September 1935 bis Dezember 1942 nicht als Ausfallzeit (i. S. des § 36 Abs. 1 Nr. 1 Angestelltenversicherungsgesetz - AVG -) berücksichtigt. Beide Bescheide sind bindend geworden.

Am 30. November 1972 beantragte die Klägerin eine Neufeststellung ihrer Rente mit dem Ziele einer Anrechnung der vorgenannten Zeit, wobei sie geltend machte, damals an Wirbeltuberkulose erkrankt und pflegebedürftig gewesen zu sein. Die Beklagte lehnte eine Neufeststellung ab, weil nicht Arbeitsunfähigkeit, sondern Erwerbsunfähigkeit vorgelegen habe. Der nach erfolglosem Widerspruch erhobenen Klage gab das Sozialgericht (SG) statt. Die Beklagte legte dagegen Berufung ein, berechnete sodann die Rente unter Anrechnung anderer Zeiten zu Gunsten der Klägerin neu und wandelte sie durch Bescheid vom 10. September 1974 in ein vorgezogenes Altersruhegeld um.

Das Landessozialgericht (LSG) wies die Klage gegen die Ablehnung der Neufeststellung ab; es verurteilte die Beklagte jedoch unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 10. September 1974, die Zeit vom 1. Oktober 1935 bis 30. September 1942 beim vorgezogenen Altersruhegeld als Ausfallzeit anzurechnen. Zum letzteren ist in der Begründung ausgeführt, daß der Bescheid vom 10. September 1974 nach § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden sei und unbeschränkter Nachprüfung unterliege. Die Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 AVG seien erfüllt. Daß neben der Arbeitsunfähigkeit auch Invalidität und Berufsunfähigkeit vorgelegen habe, gereiche der Klägerin nicht zum Nachteil.

Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte

Aufhebung des angefochtenen Urteils und Klageabweisung.

Sie rügt eine Verletzung von § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG. Für eine Anrechnung der geltend gemachten Zeit sei kein Raum, da die Klägerin wegen Invalidität und Berufsunfähigkeit keine wirksamen Beiträge habe entrichten können.

Die Klägerin beantragt

Zurückweisung der Revision.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet.

Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, daß der Bescheid vom 10. September 1974 nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden ist. Dieser Bescheid konnte den bisherigen Streitstoff beeinflussen (vgl. SozR Nr. 22 zu § 96 SGG), weil schon zuvor, wenn auch nur im Rahmen des § 79 AVG, streitig war, ob die Beklagte die Anrechnung der Zeit von September 1935 bis Dezember 1942 als Ausfallzeit ablehnen durfte (vgl. auch Urteil des 1. Senats vom 27. März 1974 - SozR 2200 § 1256 Nr. 1 -).

Die Klägerin hat jedoch keinen Anspruch auf eine rentensteigernde Anrechnung dieser Zeit. Nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG sind Zeiten, in denen eine versicherungspflichtige Beschäftigung durch eine infolge Krankheit bedingte Arbeitsunfähigkeit mindestens einen Monat unterbrochen worden ist, Ausfallzeiten. Die Ausfallzeiten dienen ebenso wie die Ersatzzeiten (§ 28 AVG) dem Ausgleich von rentenversicherungsrechtlichen Nachteilen, die durch Unterbrechung der Beitragsleistung entstanden sind; sie sollen, wie zuletzt der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) wieder dargelegt hat (Beschluß vom 9. Dezember 1975, GS 1/75), den Versicherten vor Nachteilen schützen, die dadurch eintreten, daß er durch bestimmte in seiner Person liegende Umstände gehindert war, Pflichtbeiträge zu leisten, die er sonst geleistet hätte. Für eine Anrechnung ist daher, jedenfalls soweit es sich um die Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG handelt, kein Raum, wenn wegen des Bestehens von Versicherungsfreiheit eine Beitragszeit überhaupt nicht zurückgelegt werden konnte (BSG 29, 77 (80 f)). Dies hat das LSG nicht beachtet. Zu den Ersatzzeiten hat das BSG schon entschieden, daß Zeiten, in denen dem Versicherten die Entrichtung von Beiträgen aus rechtlichen Gründen nicht möglich war, keine Ersatzzeiten sein können (vgl. SozR 2200 § 1251 Nr. 6 mit weiteren Nachweisen). Für Ausfallzeiten nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG kann nichts anderes gelten. Es wäre auch kein Grund ersichtlich, warum Zeiten krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit trotz rechtlicher Unmöglichkeit der Beitragsleistung als Ausfallzeiten anrechenbar sein sollten, als Ersatzzeiten (§ 28 Abs. 1 Nr. 1, 4, 6 AVG) dagegen nicht (vgl. SozR aaO). Hat nicht die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit, sondern ein gesetzlicher Ausschluß der Beitragsentrichtung zum Beitragsausfall geführt, so fehlt es an einem zureichenden Anlaß dafür, die in Betracht kommende Zeit anzurechnen, es sei denn, daß sich aus anderen Vorschriften (vgl. insbesondere die §§ 36 Abs. 1 Nr. 5, 6, 37 AVG) ein anderes ergibt.

Nach den Feststellungen des LSG war die Klägerin während der streitigen Zeit nicht nur arbeitsunfähig, sondern darüber hinaus berufsunfähig (§ 27 AVG aF) und invalide. Sie war damit versicherungsfrei (§§ 1236 Abs. 1 RVO aF, 13 Abs. 1 AVG aF), d. h. zur Entrichtung wirksamer Pflichtbeiträge nicht imstande, überdies auch zur Entrichtung freiwilliger Beiträge nicht berechtigt (§§ 1443 RVO aF, 190 AVG aF). Der sich daraus ergebenden Folgerung, daß deshalb keine Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG vorliegen kann, steht nicht entgegen, daß Arbeitsunfähigkeit, Invalidität und Berufsunfähigkeit durch dieselbe Krankheit bedingt waren. Denn nicht die Krankheit selbst, sondern die durch sie ausgelöste Arbeitsunfähigkeit begründet eine Ausfallzeit. Die Arbeitsunfähigkeit ist aber ein von der Invalidität wie der Berufsunfähigkeit verschiedener Tatbestand und keineswegs immer mit einer auf derselben medizinischen Ursache beruhenden Invalidität oder Berufsunfähigkeit verbunden. Zeiten der Invalidität oder der Berufsunfähigkeit sind aber nach dem Willen des Gesetzgebers nur unter der - hier nicht gegebenen - Voraussetzung eines gleichzeitigen Rentenbezuges vor dem 55. Lebensjahr Ausfallzeiten (§ 36 Abs. 1 Nrn. 5, 6 AVG).

Ob - wie der 4. Senat in einem vergleichbaren Fall angenommen hat (Urteil vom 18. September 1975 - 4 RJ 303/74 -) - eine Anrechnung der Ausfallzeit auch daran scheitern müßte, daß es sich nicht um eine "vorübergehende" Arbeitsunfähigkeit gehandelt hatte, kann dahingestellt bleiben.

Nach alledem war der Revision stattzugeben und in der Sache zu entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 86

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